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1.4.4 Rihm-Zitate.doc


WOLFGANG RIHM: AUSGESPROCHEN

(Zitate - Gedankensplitter als Anregung zur Einstimmung

auf den Einführungsvortrag und das Komponisten-Gespräch)

(Ausgewählt aus: ausgesprochen - Schriften und Gespräche, hrsg. von Ulrich Mosch, Winterthur 1997)

TRADITION

Tradition kann immer nur MEINE TRADITION sein. Ich muß bei mir erforschen, woher ich komme. Aber das ist nicht Leben-füllend. Viel interessanter ist es herauszufinden, wohin ich gehe.

(...)

Wenn es eine Tradition gibt, der ich mich angehörig fühle, so ist es diese:

Kunst als Freiheit zu verstehen, aus Freiheit entstanden und zu Freihieit verpflichtend.

(1983)

(I, 137)

KONSERVATIVISMUS

Man kann sagen, daß zur Zeit zwei Musizierweisen vom weltweit spürbaren Koknservativismus (- nicht nur vom politischen, der aber bildet die Grundlage -) profitieren: die minimal music und die computer music. Beide sind bis jetzt nicht "subjektivistisch", also nicht anarchieverdächtig.

(1983)

(I, 37)

KOMPONIEREN

Keinem Komponisten ist heute mehr geholfen, wenn ihm eine Methode angeboten wird. Komponieren ist unlernbarer denn je.

(1978)

(I, 44)

Das Bild vom vegetativen Arbeiten paßt noch immer, nur daß nicht das Ideal des organisch ausgewachsenen Pflanzenkeims - die Einzelgestalt - mir vor Augen und Sinn steht, sondern der Dschungel, der sich zu komplexen Einzelgestalten recken oder senken kann, als Turm von Baumriesen oder als grundloses Sumpfloch.

(1981)

(I, 84)

KUNST

Aus Obsession muß Kunst entstehen, nicht aus den scheinhaften Klareiten vorgespielter Unangegriffenheit.

(Juni 1985)

(I, 73)

KLANG

Dieser ganz plastische Umgang mit Klang, als würde ich eine Skulptur herstellen, als würde ich die Dinge in die Hand nehmen ,,, - ich würde nicht nur, ich tue es dann auch.

(1988)

(I, 94)

PATHOS

Ich will bewegen und bewegt sein. Alles an Musik ist pathetisch.

(1978)

(I, 118)

SIEBZIGER JAHRE

Was mich verstört und gleichzeitig reizt, ist die Gesichtslosigkeit dieser "siebziger Jahre" - bei gleichzeitig totalem pädagogischem Ehrgeiz. Kunst verkommt zu gigantischem Schulfunk.

(...)

Die "siebziger Jahre", das Jahrzehnt des Besserwissens - lächelnd, bis an die Zähne bewaffnet. Immer gibt es jemand, der weiß, was zu sein hat. Und dann will er´s auch haben.

(1979)

(I, 128)

GEBROCHENHEIT

Was ist überhaupt Gebrochenheit? In der Kunst: die Kunst selbst; selbst die ungebrochenste. Immer bricht Realität durch sie hindurch, bricht sich Realität in ihr, zerbricht das Artifizielle dadurch.

(1979)

(I, 128)

ABSICHTSLOSIGKEIT

Absichtslosigkeit. Das heißt aber: erst in einem Punkt fortgeschrittenster Absicht von aller Vorplanung absehen. Überbordwerfen den Planungsprunk, diesen nicht mehr kennen wollen und jetzt getrieben sein.

(1981)

(I, 134)

BAU

Die Baubarkeit von Kompositionen, die Erstellbarkeit von Imagination führt viele ins Irre: als wäre etwas machbar.

(1981)

(I, 138)

SCHÖNHEIT

Was suche ich? Das Aufgerissene, seltsam schräg, das Unvernommene - nicht nur das neue Mittel. Den steinalten Sog will ich finden, die Unbezogenheit der Teile, das freie Spiel. Da muß Schönheit zu finden sind, die ich nicht kenne.

(1981)

(I, 139)

STRUKTUR

Das Wesen der musikalischen Struktur ist der fließende Wandel, der jähe Sprung, das Unberechenbare, der Umbruch selbst.

(...)

Von daher wird die Musik wieder erfahrbar als freieste Kunst, als Kunst herschaftsloser Freiheit. Weil sie die Potenz zum Gegenentwurf beseitzt, wird sie auch wieder gefährlich für Systeme jeder Art. Und das ist gut so.

(1981)

(I, 143)

MUSIK - ZEIT - KÖRPERLICHKEIT

Musik ist die Kunst, der Zeit einen Körper zu formen, durch in die Zeit gesetzte Klang-Zeichen und akustische Bewegungsstrukturen, die sich erst - und jeweils anders - im Hörer zur Kunsterfahrung "Musik" zuspitzen.

(1985)

(I, 148)

WAS "SAGT" MUSIK?

Musik will uns zum Sprechen bringen, das sagt sie.

(1991)

(I, 180)

TONALITÄT

Eigentlich gibt es Tonalität nicht. Nur Harmonik.

(1984)

(I, 185)

Das Klischee von Tonalität - und das meiste, das heute unter der Marke Tonalität sich formiert, ist klischeehaft - ist geprägt von außermusikalischen Absichten und Wirkungen.

(...)

Man kann heute nicht so tun, als gäbe es eine neue Tonalität, die nicht die alte wäre.

(1985-1986)

(I, 195 f., 207)

ZIELLOSIGKEIT

Musik ist die Ziellosigkeit selbst. Menschlicher Ausdruck für die Erfahrung, daß es anderes gibt als Erfahrung. Diese Erfahrung krönt alle Erfahrung: herauszutreten aus dem Zusammenhang, dem der Wunsch herauszutreten entstammt. Dafür erfand der Mensch Musik.

(1985-1986)

(I, 203)

ENTWICKLUNG

Entwicklung findest du, wenn du sie suchst. Der Historiker findet stets "Entwicklung im historischen Sinn". Der Künstler ist kein Historiker. Er entwickelt (sich). Beginnt der Künstler als sein eigener Historiograph aufzutreten und Entwicklung zu dokumentieren - entwickelt er (sich) nicht mehr.

(1988)

(I, 390)

KRITERIEN

Kriterien?

- Dichte (nicht nur auf dem Papier!)

- Reichtum (nicht nur im Klanggewand!)

- Fremdheit (nicht nur als Reiz!)

- Klarheit (gerade im Dunkel!)

- Phantasie (die sich weiterspinnen läßt, die nicht am Ende des Stückes zu Ende ist!)

- Ungezwungenheit (gerade im zwingendsten Moment!)

- Uneingelöstes (das weitergärt!)

(1988)

(I, 392)

MODERNE - POSTMODERNE?

Moderne als Besitzstand gibt es nicht. Ebenso keine Erbpacht auf Avantgardismus. Genausowenig entsteht aus schlichter Negation des eben Avancierten irgendein Anspruch auf relevanten Aufruhr.

(1991)

(I, 396)

MUSIK: KONKRET? ABSTRAKT?

Die Musik, bildlos, begrifflos... .

(...)

Musik ist immer "abstrakt". Es gibt kein abbildbares Menschenbild für die Musik. Auch ncihts, das projizierbar wäre, das die Rezipienten als Wiederkehr eines Konkreten erwarten könnten. Es gibt kein Konkretes, das Abbildung in der Musik finden könnte. Deshalb ist Musik natürlich auch nicht "abstrakt". Denn wovon wäre abstrahiert worden?

(1995)

(I, 418)

Klavierstück Nr. 2 op. 8b (1971)

Rihms Klavierstück Nr. 2 wurde am 10. 12. 1971 in Karlsruhe von Gunther Hauer uraufgeführt. Als Rihm 1982 eine Zwischenbilanz seiner bis dahin entstandenen Klaviermusik zog, erschien ihm dieses Stück ferner(...), weil es strukturiertheit vorgibt und ich noch nicht den Mut hatte, die reine Zuständlichkeit von Musik anzugehen. Das Werk gehört in eine Übergangsphase, die Rihm später im Rückblick (1979 im Gespräch mit Luca Lombardi) als ambivalente Auseinandersetzung mit seriellem Konstruktivismus beschrieben hat: Wenn man sehr jung ist, glaubt man in einem System, in der Tendenz zu systematisieren, einen Rettungsanker zu sehen. Ich möchte aber unterstreichen, daß diese Willigkeit, sich den beschränkungen eines Systems zu unterwerfen, Anzeichen einer vork-künstlerischen Situation ist, typisch für die Pubertät. Ein Künstler, der sich in dieser Weise verhält, ist noch nicht er selbst. In jener Zeit schrieb ich serielle Musik, aber gegen meine Natur. Schon für seine frühen Stücke reklamiert Rihm gleichwohl eine Position, in der erste Ansätze einer Alternativposition sich abzeichnen: Ich komponiere nicht, um eine bestimmte Technik zur Schau zu stellen.

Klavierstück ? (1974)

Ein am 6. Januar entstandenes, 13 taktiges Klavierstück führt in seinem Titel ein Fragezeichen. Dieses Fragezeichen taucht auch am Ende des Stückes wieder auf, nach dem Doppelstrich: Die Frage zielt wahrscheinlich darauf, ob am Ende dieser Seite statt des abschließenden Doppelstriches auch die Öffnung zur Fortsetzung des Stückes sehen könnte - und ob vielleicht diese Ungewißheit auch dazu beigetragen hat, daß dieses Klavierstück zunächst unveröffentlicht blieb und keine eigene Nummer bekam.

Das kurze Stück bildet sich aus wenigen Gestaltelementen. Zu Beginn erscheint ein hoher Ton in dreifacher Gestalt: Zunächst lang ausgehalten, in mittlerer Lautstärke; dann echoartig abgewandelt, leider und etwas kürzer; schließlich als kurzer, heftiger Akzent, erweitert zu einem weit gespannten Zweiklang (eine über vier Oktavräume hinweg gespannte, "hohle" Quinte). Dem knapp akzentuierten, in der Pedalisierung nachklingenden Zweiklang folgt ein clustarartig verdichteter, wiederum scharfer Akkord-Akzent. Von diesem führt die Entwicklung zu raschen Läufen und Repetitionen. Die Repetitionen beginnen mit genau dem Ton, der einige Takte zuvor das Stück eröffnet hat; dann verdichten sie sich im Accelerando zu Oktavklängen, die Schritt für Schritt in die tiefe Lage vordringen. Der tiefe Ton, in den diese abstürzende Bewegung mündet, erklingt in extremer Lautstärke: Zunächst lang ausgehalten (wie zu Beginn des Stückes), dann als rasche Repetition (wie unmittelbar zuvor). Die folgenden Takte entwickeln sich, fortlaufend variiert, aus bereits zuvor eingeführten Gestaltelementen: Unregelmäßige Repetitionen eines tiefen Tones - scharf eingeschnittene, weit gespannte Zweiklänge - Generalpause - ein heftiger, dichter Akkord - eine neue, längere Generalpause als Stille: sehr zart, ohne Aggressivität - schließlich, durch die Pause vorbereitet, eine Figur, deren Töne sich aus den Randlagen des Klaviers aufeinander zubewegen, leise beginnend und schließlich im Nachklang verlöschend.
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