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1.4.3.3 MUSOB4.DOC

Rudolf Frisius

Wolfgang Rihm: Musik für Oboe und Orchester (1993/94)

Z: Rihm, Musik für Oboe und Orchester vollständig

"Musik für Oboe und Orchester": Dieser Werktitel klingt eindeutig, klar verständlich und unprätentiös. Der Komponist Wolfgang Rihm, Jahrgang 1952, hat diesen Titel einem Werk gegeben, das in den Jahren 1993 und 1994 entstanden ist. Als Schlußdatum der Partitur ist der 1. November 1994 eingetragen. Nur wenige Wochen später, am 22. November 1994, fand die Uraufführung in Stuttgart statt. Die Solopartie spielte Thomas Indermühle, dem das Werk auch gewidmet ist; er wurde begleitet von den Stuttgarter Philharmonikern unter der Leitung von Eberhard Kloke.

Das Stück beginnt mit einem Formprozeß, der sich beschreiben läßt als Ausweitung im Tonraum: Zuerst erklingt ein Ton in mittlerer Lage, der zugleich der tiefste Ton des Soloinstrumentes, der Oboe, ist: Das kleine b.

Z: Anfangston b, Takt 1 (evtl. weiter bis 2, T. 1-2) 7´´

Aus diesem Anfang ergeben sich Prozesse der Tonbewegung, bei denen die Möglichkeiten der beteiligten Instrumente überaus sinnfällig ausgenutzt sind: Die Oboe kann sich, wenn sie von ihrem tiefsten Ton ausgeht, nur aufwärts bewegen, während für die Gruppe der tiefen Streicher auch die entgegengesetzte Bewegung möglich ist. So erklärt es sich, daß Oboe und Streicher sich auseinander bewegen: Die Oboe steigt auf - von ihrem tiefsten Ton bis zu einem mehr als zwei Oktaven höheren Ton. Die Streicher beginnen etwas tiefer als die Oboe. Im weiteren Verlauf folgen sie zunächst der aufsteigenden Oboen-Melodie, so lange diese noch in der mittleren Lage verbleibt; sobald aber die Oboe in die hohe Lage springt, springen die tiefen Streicher in die entgegengesetzte Richtung, in die extrem tiefe Tonlage. Damit hat der Prozeß der Ausweitung ein erstes Ziel erreicht: Die Oboe hat einen Zielton erreicht, der mehrmals nachdrücklich wiederholt wird; dieser hohe Akzentton erklingt in weitem Abstand über sehr tiefen Haltetönen und Tremoli der Streicher. Man hört, wie die Musik mit wenigen Tönen beginnt und sich dann später mehr und mehr von ihnen entfernt.

Z: Auseinanderbewegung - Part. S. 1, T. 1-19 7x cis, 1´03 (danach schnell ausblenden vor Ob h)

Die Komposition beginnt damit, daß die Musik expandiert: Die Töne breiten sich aus; sie streben von einer engen Mittellage in weitere Räume, in denen sie dann verharren. Aufsteigende Töne hört man in der Oboe - aber auch in der Es-Klarinette, die sich eng an die Tonbewegungen der Oboe anlehnt. Auch ein drittes Holzblasinstrument, das Fagott, folgt zunächst den aufsteigenden Tonbewegungen der Oboe; sobald aber die Oboe in die hohe Lage springt, setzt das Fagott aus. Die Harfe hingegen, ein Instrument mit besonders großem Tonumfang, folgt den Tonbewegungen der Solo-Oboe von deren tiefstem Ausgangston bis zum ersten Zielpunkt ihres melodischen Aufstiegs - bis zum sieben Mal wiederholten zweigestrichenen cis. - So ergibt sich, daß die auseinander strebenden Tonbewegungen der Oboe und der tiefen Streicher auch die anderen Orchesterinstrumente mit sich ziehen, die bald der einen, bald der anderen Bewegungsrichtung folgen.

Z: evtl. nochmals Auseinanderbewegung 1´03

Im weiteren Verlauf des Stückes wird deutlich, daß die zuvor gehörten Tonbewegungen wieder aufgenommen und anschließend weiter geführt werden: In einem zweiten Formteil beginnt die Oboe wiederum in tiefer Lage. Auch jetzt wird sie begleitet von einigen Orchesterinstrumenten, die einzelne Töne der Solopartie umfärben oder durch begleitende Töne und Tongruppen harmonisch ergänzen. Jetzt treten, deutlicher als zuvor, höhere Tonlagen in den Vordergrund - zunächst in den begleitenden Harmonien der Streicher, später auch in den Melodietönen der Oboe, die aufsteigen bis in extrem hohe Lagen, bevor sie wieder in die tiefe Lage zurückkehren.

Z: 2. Expansion mit melod. Abstieg (nach 7x cis2 - Ob h bis Ob c1) ca. 1´05 - 2´29´´ ,

ca. 1´24´´

Für den zweiten Teil seines Stückes schreibt Rihm "etwas mehr Bewegung" vor. Diese Bemerkung ist als Tempovorschrift gemeint. Mit denselben Worten könnte man aber auch den Formprozeß beschreiben: Die melodischen Tonbewegungen vervielfachen und beschleunigen sich, und die harmonische Begleitung verdichtet sich zu Akkorden; es bilden sich Ketten von einfachen, meistens aufsteigenden Molldreiklängen, in deren Sog nach einiger Zeit auch die Melodietöne geraten. So verschmelzen Melodie und Harmonie; die Tonbewegung kommt auf lang ausgehaltenen Flageolett-Tönen zur Ruhe, und statt dessen setzt rhythmische Bewegung ein: Man hört eine Solopassage der Bongos - gleichsam als Signal, als Ankündigung neuer Tonbewegungen.

Z: evtl. nochmals 2. Expansion mit anschließendem Abstieg. ca. 1´24´´

Immer wieder kehrt die Oboenpartie in die tiefe Lage zurück, von der sie zu Beginn des Stückes ausgegangen war. Die Melodielinien des Soloinstrumentes werden begleitet von verschiedenen Instrumentengruppen des Orchesters - zunächst von den 15 tiefen Streichern, später auch von vier tiefen Blechbläsern (nämlich 3 Posaunen und 1 Tuba).

Z: 3. Expansion mit Begleitung tiefe Str - tiefe Bläser 2´29 - 3´57 (bis vor neuer Eins. Str)

Im größeren Formzusammenhang des Stückes verwandeln sich allmählich Konstellationen einzelner Töne in melodische Linien und harmonische Schichtungen. Wenn die Musik sich harmonischen Konstellationen nähert, ändert sich auch zugleich ihr Ausdruckscharakter: Man hört Reminiszenen an einfache tonale Akkorde, an eine weit zurückliegende musikalische Vergangenheit. Gleichzeitig mit diesen Akkorden sind häufig Melodielinien der Solopartie zu hören, wie man sie aus der modernen chromatischen Musik des 20. Jahrhunderts kennt - Konstellationen von Tönen, die sich nur in seltenen Ausnahmefällen einfügen wollen in die begleitenden Harmonien. So ergeben sich postmoderne Konstellationen eigener Art: Man hört gleichzeitig Stilelemente aus der Musik unserer Zeit und Stilelemente, die längst vergangenen Zeiten zu entstammen scheinen.

Z: 5´05 - 5´56 nach Tomtoms und Generalpause

(Akkorde Blech mit Tamtamschlag - Schl, e2 Holz mit 3 Bongos) ca. 51 ´´

Die "Musik für Oboe und Orchester" ist so aufgebaut, daß der volle Orchesterklang nur an wenigen Stellen vorkommt, während an den meisten Stellen die Solopartie nur mit einzelnen Instrumenten und Instrumentengruppen kombiniert ist. Besonders eng verbunden ist der Oboenpart mit der Orchesterstimme der Es-Klarinette, einem im Tonumfang vergleichbaren Instrument; in mittlerer Tonlage ist die Oboe überdies oft mit einem dritten Holzblasinstrument kombiniert, nämlich mit dem Fagott. Die enge Verbindung dieser drei Holzblasinstrumente wird vor allem im Zentrum des Stückes deutlich, wo Oboe, Klarinette und Fagott sich besonders eng aneinander annähern, für kurze Zeit sogar im Unisono spielen. Damit ist eine Extremposition des Stückes erreicht: Die Reduktion des Klangbildes auf eine einzige Instrumentengruppe. Der Abschluß dieser Passage wird durch ein Schlagzeugsolo mit 3 Bongos markiert. Danach verdichtet sich das Klangbild wieder, und die Entwicklung führt schließlich dazu, daß Klangschichten mit repetierten Tönen ins Spiel gebracht werden, so daß die melodische Entwicklung gleichsam ins Stocken gerät.

Z: (5´56 nach e2 mit Bongos oder evtl. erst ab ca. 7´07 Rep. Kl, Fg bis Rep a1 Ob1)

In den letzten Teilen des Stückes ergibt sich eine erneute Verdichtung des Klangbildes, wobei begleitende Harmoniefolgen sowohl in den Streichern als auch in den Blechbläsern zu hören sind. Die harmonische Steigerung wird ergänzt durch eine melodische Steigerung, in deren Verlauf die Solo-Oboe in mehreren Anläufen aufsteigt bis in extrem hohe Lagen. Die Steigerungswirkung wird dadurch unterstrichen, daß auch die dichten Tremolo-Begleitakkorde der Streicher im mächtigen Crescendo aufsteigen und auch die Es-Klarinette sich am Aufstieg der Oboenpartie beteiligt. Sobald der höchste Ton erreicht ist, schlägt die Entwicklung um: Die Oboe springt wieder in ihre tiefe Ausgangslage zurück und verbindet sich dann mit den Tönen der vier Blechbläser, bis sie schließlich auf ihrem tiefsten Ton innehält - also zu ihrem Anfangston zurückkehrt.

Z: 9´00 - 10´53 Aufstieg Ob, Kl mit Streicherbegl. (cresc. aufsteigend)

Der Schluß des Stückes ist eine auskomponierte Paradoxie: Die Oboe spielt plötzlich in ganz anderem Stil als zuvor - in lockeren, serenadenartigen Läufen. 3 Orchesterinstrumente schließen sich sogleich ihrem Spiel an: Die Klarinette, das Fagott und das (hier neu einsetzende) Englischhorn. Die Blechbläser, später auch die Streicher, treten mit kontrastierenden harmonischen Bildungen hinzu - mit einfachen tonalen Dreiklängen, die sich im Tonraum langsam aufwärts bewegen. Im weiteren Verlauf des Stückes wird dann aber deutlich, daß es bei dieser postmodernen Klangschichtung nicht bleibt: Auch Blechbläser und Streicher passen sich schließlich der serenadenartigen Spielweise des Solo-Oboisten an. Die Entwicklung führt so weit, daß die Gruppen der Holzbläser und der tiefen Streicher vollständig miteinander verschmelzen: Als Begleitinstrumente der Oboe spielen Bratsche und Klarinette, Cello und Englischhorn, Kontrabaß und Fagott jeweils dieselben Töne. Die Entwicklung führt zu einer einfachen, kadenzartigen Floskel, die ständig wiederholt wird und auf der sich die Musik gleichsam festbeißt, sich in einer Stretta mächtig steigert und schließlich von einem letzten Schlagzeugsignal gestoppt wird: Von einem Wirbel der kleinen Trommel, dem mehrere, stets langsamer werdende Schläge folgen, bevor, nach einer Generalpause, ein leiser Tutti-Akzent das gesamte Werk beschließt: Die Instrumente vereinigen sich zu einer imaginären Serenade; es folgt eine rasante Steigerung - gleichsam der Versuch, die Musik aus dieser Scheinidylle der Vergangenheit herauszureißen; die Steigerung bricht ab, Wirbel und Schläge der Trommel sowie ein gedämpfter Tutti-Schlußakkord besiegeln den Absturz.

Z: Schluß ab Serenade 10´53 - 11-56

Besonders am Schluß des Stückes wird deutlich, daß die Musik sich nicht benügt mit der Beschwörung einer angeblich besonnten Vergangenheit: Die Illusion des Vergangenen wird beschworen und gleich anschließend entlarvt. Im Hinblick auf ihr Verhältnis zu Vergangenheit und Gegenwart bleibt diese Musik mehrdeutig: Als Musik unserer Zeit - einer Zeit, in der Gegenwärtiges sich zu behaupten hat auch gegenüber den Schatten der Vergangenheit.

Z: Rihm, Musik für Oboe und Orchester vollständig.
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