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Rudolf Frisius
Anmerkungen zu John Cage
1. Veränderung
"Kunst ist Selbständerung...
Die Fähigkeit, die Gesellschaft zu verändern,
leitet sich aus der Möglichkeit ab, den Geist zu ändern..."
John Cage
Änderung - Veränderung: Schlüsselbegriffe in der Musik des 20. Jahrhunderts - Schlüsselbegriffe im Musikdenken von John Cage. Die Frage, was ein Musiker wie John Cage zur Musikentwicklung unserer Zeit beigetragen hat, kann letztlich hinauslaufen auf die Frage, was er verändert hat.
Einen wesentlichen Aspekt der Veränderung, der nicht nur die Musik, sondern die Kunst insgesamt betrifft, hat Cage selbst angesprochen:
"Mir scheint, daß die moderne Kunst in unserem Jahrhundert unsere Sichtweise so verändert hat, daß wir, was immer es ist, als ästhetisches Phänomen genießen können."
Im 20. Jahrhundert ist die Zeit gekommen nicht nur für eine "Musik im weiteren Sinne" (Pierre Henry), sondern für ein umfassenderes Verständnis auch in anderen künstlerischen Bereichen. Für den Musiker kann sich dies so auswirken, daß er das traditionelle Verständnis seiner Kunst als Tonkunst als zu eng erkennt. Gesungene und von Instrumenten gespielte Töne - das bevorzugte Ausgangsmaterial der traditionellen Kunstmusik und ihrer Notenschrift - erscheinen plötzlich nur noch als Sonderfälle: wie kleine Inseln in einem riesigen Meer der Klänge. Der Komponist, der diese Inseln verläßt, muß sein Musikdenken ändern. Dabei stellen sich neue Fragen - Fragen, die nicht nur auf einzelne Aspekte des kompositorischen Metiers zielen, sondern auf eine grundlegende Neubestimmung der Position des Komponisten: Wer in seiner Musik Geräusche verwenden will, muß sie anders komponieren als Töne. Die meisten Geräusche sperren sich gegen Reglementierungen, wie sie in der Tonkunst und in ihrer Notenschrift für selbstverständlich gehalten worden sind. Für einen Trommelschlag kann man keine bestimmte Dauer vorschreiben. Ein Beckenschlag entzieht sich den Festlegungen der Notenschrift in seiner komplexen Geräuschstruktur: unbestimmt nicht nur in der Tonhöhe, sondern auch in wichtigen Einzelheiten des klanglichen Verlaufes. Noch schwieriger wird es, wenn der Komponist sich nicht mehr damit begnügen will, für standardisierte Geräuschinstrumente zu schreiben. In diesem Falle kann selbstg die Festlegung der Klangfarben schwierig werden (wenn z. B. verbale Vorschriften in einer Partitur mehrdeutig, unvollständig oder mißverständlich bleiben). Die Schwierigkeiten werden auch dann nicht geringer, wenn der Komponist - statt auf die Bekanntheit standardisierter Instrumental-Klangfarben zu setzen - die Welt der Geräusche auf der Basis unserer allgemeinen (d. h. über die Musik hinausfreichenden) Hörerfahrung zu erschließen versucht. Denn dann stellt sich sofort die Frage: Wie lassen sich Alltagsgeräusche komponieren? Man kann sie nicht einfach auf Notenlinien aufschreiben und Musiker nach dem so fixierten Notentext spielen lassen; denn die meisten Hörereignisse lassen sich auf standardisierten Instrumenten gar nicht nachspielen. Für den Komponisten werden sie in der Regel erst dann interessant, wenn er seine Arbeitsweise radikal verändert - wenn er sein Notenpapier aus der Hand legt und sich statt dessen technische Geräte besorgt, um Klänge aufhzunehmen, zusammenzustellen und technisch zu verarbeiten. Dies führt dann dazu, daß Musik nicht mehr geschrieben, sondern klanglich realisiert wird. Der Komponist kann selbst in allen Einzelheiten festlegen, wie seine Musik klingen soll. Er kann ähnlich arbeiten wie ein Maler oder Plastiker, das das fertige Werk selbst schafft und nicht auf andere angewiesen ist, die es aufführen müßten.
Der Abschied von der Tonkunst hat den Komponisten vor neue Aufgaben gestellt. Er kann versuchen, den neuen Aufgaben dadurch gerecht zu werden, daß er seinen Arbeitsplatz vom Schreibtisch ins Studio verlagert, also gleichzeitig mit der kompositorischen Arbeit auch die Aufgaben des Ingterpreten mit übernimmt. In diesem Falle wird die letzte Konsequenz aus einer Entwicklung gezogen, in der sich die Verantwortung des Komponisten mehr und mehr verstärkt - und andererseits der Gestaltungsspielraum der Interpreten entsprechend kleiner wird oder im Extremfall vollständig verschwindet. Gerade im Extremfall - im Falle der reinen Tonbandmusik, d. h. einer Musik ohne Interpreten im herkömmlichen Sinne - kann allerdings auch deutlich werden, daß die Veränderung der Rolle des Komponisten (mit ihren Konsequenzhen für Interpreten und Hörer) auch in eine andere Richtung führen kann.
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Vor allem durch die Arbeit von John Cage ist deutlich geworden, daß Veränderungen unseres Musikdenkens auf verschiedenen Wegen versucht werden können. Auch Cage hat sich lange Heit intensiv darum bemüht, seine Musik möglichst genau festzulegen - auch dann, wenn sie über bereits bekannte Möglichkeiten hinausführte. Eine Konsequenz aber hat er letztlich doch nicht gezogen: Den vollständigen und endgültigen Verzicht auf das Partiturenschreiben, die konsequente Hinwendung zur reinen Tonbandmusik. Im umfangreichen Werkverzeichnis von John Cage finden sich nur wenige Werke, die man als reine Tonbandmusik bezeichnen könnte. Außerdem ist bemerkenswert, daß Cage auch im Bereiche seiner Tonbandmusik bzw. seiner technisch produzierten oder fixierten Medienkunst mehrfach versucht hat, möglichst exakte Partituren zu schreiben - zum Beispiel detaillierte Montageschemata (für die Musikcollage "Imaginary Landscape no. 5", 1951, oder für die Klangcollage "Williams Mix", 1952) oder eine graphische Notation (für "Fontana Mix", 1958). Diese Partituren enthalten Angaben darüber, wie Musik produziert werden soll - sie sind Anweisungen für diejenigen, die Klänge im Studio produzieren, verarbeiten und zusammenmontieren. Man kann sich allerdings fragen, warum diese Partituren überhaupt noch notwendig sind, wenn der Komponist selbst im Studio sein Tonband produziert. Die Antwort auf diese Frage ist einfach: Cage schrieb Partituren auch für diese Stücke, weil er selbst in dieser Musik auf Interpreten im bisher bekannten Sinne nicht verzichten wollte. Mit anderen Worten: Cage wünschte sich, daß auch andere mit seiner Musik praktisch umgehen, seine Notentexte klanglich realisieren. Mehr noch: Die Partituren sind so angelegt, daß sie verschiedene Realisationen geradezu herausfordern - daß also andere Realisatoren durchaus andere Ergebnisse erreichen können als der Komponist selbst. Z. B. ist im Montageschema zu "Imaginary Landscape no. 5" überhaupt nicht festgelegt, welche Musik hier zusammenmontiert werden soll. Vorgeschrieben wird lediglich, daß die Musik aus 42 Schallplatten zusammenzustellen ist. Verschiedene Versionen können also vollkommen unterschiedlich klingen - je nachdem, ob z. B. Jazzplatten, Schallplatten alter Musik, populäre Musik oder gemischte Musikangebote verwendet werden. In der Partitur ist also nicht mehr festgelegt, wie die Musik klingt, sondern wie bestimmte (frei wählbare) Ausschnitte in gegebenen Montagerhythmen sich überlagern oder aufeinanderfolgen sollen. Die Angaben der Partitur sind so genau, daß auch ein anderer als der Komponist (insofern - in etwas anderem als im traditionellen Sinne - ein Interpret) das Stück realisieren kann; andererseits hat Cage auch dafür gesorgt, daß bei jeder neuen Realisation ein vollkommen neues Klangresultat sich ergeben kann. Er hat eine Partitur geschrieben, damit die Musik auch unabhängig vom Komponisten realisiert werden und sich in immer neuen Versionen ständig erneuern kann. So wird deutlich, daß auch Lautsprechermusik unterschiedlich "interpretiert" werden kann - und daß sogar eindeutig fixierte, auf Schallplatte konservierte Musik "umfunktioniert" werden kann von der Konserve zum Material einer neuen, vieldeutig interpretierbaren Komposition.
Schon an diesem Beispiel wird deutlich, wie intensiv sich Cage darum bemüht hat, die Rolle des Komponisten neu zu überdenken und auf diesem Wege auch für den Interpreten und für den Hörer neue Wege zu erschließen. In einer Tonbandkomposition, die ihm eigentlich die genaue Fixierung aller klanglichen Details hätte ermöglichen können, legt Cage alles darauf an, ein eindeutig fixiertes Klangergebnis ausdrücklich zu vermeiden. Wer dieses Stück realisiert, hat in wichtigen Bereichen viel größere Freiheiten als ein Interpret traditionell notierter (Vokal- oder Instrumental-)Musik. Die Partitur wimmelt von detaillierten Angaben (betr. Lautstärke, Dauer und die Zeitpunkte, an denen eine Schallplatte ausgewechselt werden soll), aber keine dieser Angaben macht es möglich, daß man sich ein präzises Klangbild des Stückes im voraus vorstellen könnte. Die Partitur ist also präzise und unpräzise zugleich. Sie soll zu einer Musik führen, die neu ist gerade dadurch, daß nichtg einmal der Komponist selbst sie voraussehen kann. Wer das Stück klanglich realisiert, muß dabei Entscheidungen treffen, die dem Interpreten traditioneller Musik normalerweise der Komponist abnimmt. Cage verzichtet auf wichtige Vorschriften, die Komponisten vor ihm (und auch viele Komponisten nach ihm) für unverzichtbar hielten, um den Anspruch von Komponist und Werk zu wahren. Cage denkt anders: Der Rang seiner Musik soll sich nicht daran bemessen, daß der Komponist alles im voraus festgelegt hat. Im Gegenteil: Der Komponist läßt ganz bewußt wichtige Freiräume, die andere ausschöpfen können. Die Partitur bewährt sich nicht in einer "notengetreuen" Aufführung, die dem Klangbild nahekommen wollte, das der Komponist sich im voraus vorgestellt hat; wesentlich ist vielmehr, daß die Partitur immer wieder unvorhersehbar neue musikalische Aktivitäten auslöst. Der Komponist verzichtet auf wichtige Privilegien, die seinem Berufsstand zuvor im Laufe einer komplizierten musikgeschichtlichen Entwicklung zugefllen waren. Er tut dies, damit andere mehr Freiheiten bekommen, mit seiner Partitur selbständiger und kreativer umzugehen. Dadurch verändert sich auch die Situation des Hörers: Was er hört, ergibt sich in wichtigen Aspekten nicht allein aus der Partitur des Komponisten, sondern aus Entscheidungen seines Realisators. Wenn der Hörer die Partitur nicht kennt, wird es ihm kaum möglich sein, Komposition und Realisation angemessen zu beurteilen (oder auch nur zu unterscheiden). Er muß statt dessen seine eigene Hörperspektive finden.
John Cage hat das Rollenspiel zwischen Komponist, Interpret und Hörer im Prozeß der musikalischen Kommunikation grundlegend verändert. Die kompositorische Intention und der fixierte Notentext sind führ ihn nicht mehr wesentlich. In vielen seiner Partituren geht es vielmehr darum, daß die Notation möglichst vielfältige und unterschiedliche Kommunikationsprozesse auslöst - und zwar nicht nur bei Interpreten, sondern möglichst auch bei Hörern. Der Komponist soll dem Interpreten nicht mehr in allen Einzelheiten vorschreiben, was er zu tun hat.
Cage geht es darum, überkommene Hierarchien in Frage zu stellen - Hierarchien im Verhältnis nicht nur zwischen Komponist und Interpret, sondern z. B. auch zwischen dem Dirigenten und den von ihm "gesteuerten" ausübenden Musikern. Wenn Cage sich dafür einsetzt, die Privilegien der Komponisten ebenso wie der Dirigenten abzubauen, dann plädiert er damit für neue Strukturen nicht nur im Verhältnis der Menschen zueinander, sondern auch in der Musik selbst:
"Zunächst brauchen wir eine Musik, in der nicht nur die Töne einfach Töne sind, sondern auch die Menschen einfach Menschen, das heißt, keinen Regeln unterworfen, die einer von ihnen aufgestellt hat, selbst wenn es "der Komponist" oder "der Dirigent" wäre."
Für Cage sind Töne etwas anderes als für traditionell denkende Komponisten der Vergangenheit (und auch der Gegenwart). Er hat seine Auffassung in einer ironischen Frage vorgestellt:
"Sind Töne Töne oder sind Töne Webern?"
Mit dieser Frage hat Cage heftigen Widerspruch provoziert und beispielsweise Luigi Nono zu einer polemischen Gegenfrage herausgefordert:
"Sind Menschen Menschen, oder sind sie Köpfe, Füße, Hände, Mägen?"
Über die Möglichkeiten, durch Kunst auch die Gesellschaft zu verändern, gibt es offensichtlich kontroverse Meinungen - und zwar nicht nur darüber, welche Veränderungen wünschenswert sind, sondern auch darüber, ob und inwieweit sie sich in musikalischen Veränderungen darstellen oder sogar antizipieren lassen. Cage scheint in diesem Zusammenhang einigen Zweifeln Ausdruck zu verleihen, wenn er formuliert:
"Das Objekt ist Tatsache, nicht Symbol (keine Ideen)."
Andererseits läßt es sich nicht nur auf Musik, sondern auch auf andere Zusammenhänge beziehen, wenn Cage fordert:
"Leerer Geist. Keine Idee von Ordnung."
Cages ästhetisches Denken zielt auf die Überwindung von Subjektivismus und expressiver Intionalität:
"Anonymität oder Selbstlosigkeit der Arbeit (d. h. nicht Selbst-Ausdruck)."
Trotzdem bleiben die Möglichkeit verschiedener individeller ästhetischer Entscheidungen gewahrt:
"Wir gehen alle in verschiedene Richtungen. Wichtig, keine Regeln zu haben."
Der Wille zur Veränderung präsentiert sich hier als Bereitschaft zur Befreiung vom Tradierten, scheinbar Selbstverständlichen - aber auch auf jeglichen Alleinvertretungsanspruch auf die Formulierung alternativer ästhetischer Positionen,die ja auch ihrerseits rasch der Gefahr traditionalistischer Verfestigung verfallen und den Widerstand neuerer Innovatoren wecken können. Was zu verändern ist, sollen nicht weiterhin einzelne entscheiden, denen andere folgen müssen. Es geht um die Weckung des Willens zur Veränderung als die Entdeckung eines demokratischen Privilegs.
2. Entwicklungslinien
John Cage wurde am 15. September 1912 in Los Angeles geboren. Er starb am 12. August 1992 in New York - kurz vor seinem 80. Geburtstag, den viele seiner Freunde noch gern mit ihm zusammen in Deutschland gefeiert hätten. Viele Aufführungen, zu denen er noch hatte kommen wollen, darunter mehrere Uraufführungen, sind in seinem Todesjahr unversehens zu Gedenkaufführungen geworden. Jahrzehntelang, bis in sein letztes Lebensjahr hinein, stand Cage an der Spitze der aktuellen Musikentwicklung. Nie hat er sich beirren oder von seinem Wege abbringen lassen - weder durch heftige konservative Kritik, wie er sie schon in jungen Jahren provoziert hat, noch durch spektakuläre Anerkennung in seinen späten Jahren (auf die er durchaus mit angemessener Skepsis zu reagieren wußte).
Sein Vater war ein einfallsreicher Erfinder. Seine wichtigsten musikalischen Lehrer waren zwei Komponisten, die - jeder in seiner Weise - die Musik unseres Jahrhunderts radikal verändert haben: Henry Cowell, der erstmals das Klavier als unkonventionelles Geräuschinstrument eingesetzt hat, und Arnold Schönberg, der Begründer der Zwölftonmusik. Cage hat berichtet, daß seine allerersten Kompositionen, die aus den frühen dreißiger Jahren stammen, streng mathematisch konstruiert waren. Deren vollkommen unorthodoxes Klangbild habe ihm damals allerdings so stark befremdet, daß er diese Stücke nicht für aufbewahrenswert hielt. (Später, meinte er nachträglich, wäre er vielleicht zu einem anderen Urteil gekommen). Die frühesten Werke, die uns erhalten geblieben sind, bieten ein anderes Erscheinungsbiild: In ihnen erkennen wir knappe und prägnangte polyphone Tonstrukturen - im engen Tonraum von nur zwei Oktaven, der allerdings in seinem gesamten Tonvorrat voll ausgeschöpft wird. Schon deswegen, wegen ihrer voll ausgeprägten Chromatik und wegen der Vermeidung von Tonwiederholungen, stgeht diese Musik der Zwölftonmusik Schönbergs näher als etwa den neoklassizistischen Werken, die Strawinsky damals schrieb und die sich in vielen Fällen als Siebentonmusik mit einigen "falschen Noten" beschreiben lassen. - Der junge Cage hat sich zielstrebig darauf vorbereitet, bei dem von den Nationalsohzialistenins Exil vertriebenen Arnold Schönberg in Los Angeles Unterricht zu nehmen. Es wäre Cage damals überhaupt nicht in den Sinn gekommen, zu Igor Strawinsky zu gehen, der in derselben Stadt lebte.
Cage hat später berichtet, was ihn in Schönbergs Unterricht am meisten beschäftigt hat - sei es, indem es ihn zum Widerspruch reizte, sei es, indem es ihn überzeugte. Schönbergs strukturelles Musikdenken hat ihn nachhaltig beeindruckt - seine Vorstellung, daß ein Musikstück in seinen Teilen und in deren Verhältnis zum Ganzen nach einheitlichen übergreifenden Prinzipien organisiert sein müsse. Nicht einverstanden war Cage allerdings damit, daß Schönberg diese Einheit vor allem im Bereich der Harmonie verwirklicht sehen wollte - in einem Bereich also, der Cage damals durchaus fremd war und für den er sich erst in den letzten Lebensjahren uner den Auspizien der "anarchic harmony" zu interessieren begonnen hat. Interessanteres glaubte der junge Cage in Schönbergs Kontrapunkt-Unterricht entdecken zu können. Einmal stellte Schönberg ihm die Aufgabe, für dasselbe kontrapunktische Problem viele verschiedene Lösungen zu finden; mehr noch: Cage sollte schließlich das Grundprinzip herausfinden, das allen verschiedenen Lösungen gemeinsam war. Das war die erste Anregung für spätere Konzeptionen von Cage, in denen der Komponist eher allgemeine Probleme und Fragestellungen ausformuliert als spezielle Lösungsversuche.
Schönbergs Vorstellungen über die strukturellen (formbildenden) Tendenzen der Harmonie haben Cage keineswegs grundlos irritiert: Sie lassen sich an tonaler Musik der Vergangenheit anscheinend leichter belegen als an exponierter Neuer Musik, wie sie Cage vor allem interessierte. Ob und inwieweit Schönberg die von ihm selbst postulierte strukturelle Einheit auch mit den Mitteln seiner Zwölftontechnik erreicht hat - auf diese Frage hat Cage keine direkte Antwort gegeben (wenn er sie sich denn überhaupt jemals in dieser Form gestellt hat). Cage, der sich nach etwa zweijährigem Studium von Schönberg trennte, hat allerdings in der Folgezeit Wege eingeschlagen, die offensichtlich von denen Schönbergs abweichen: Sie folgen nicht Schönbergs Vorliebe für die entwickelnde Variation, sondern sie artikulieren sich als statische Gebilde - oft mit Pausen durchsetzt, gleichsam ins Stocken geratend oder sich ständig unterbrechend; wie die Vorahnung der späteren Entdeckung, daß die Stille ebenso wichtig werden kann wie der Klang. - In anderen Stücken geht Cage noch einen Schritt weiter - jetzt in der Erinnerung daran, daß auch Henry Cowell ihm einst wichtige neue Wege gewiesen hatte: Cowells kühne perkussive Klaviertechniken hatten deutlich gemacht, daß es nicht allein auf neue Tonstrukturen ankam, sondern daß die Entdeckung neuer Klänge inzwischen mindestens ebenso wichtig geworden war. Cage hat schnell entdecktg, daß es in diesem Zusammenhang vor allem im Bereich der Geräusche viel zu entdecken gab. In Zusammenarbeit mit dem experimentellen Filmemacher Fischinger war er auf die Idee gekommen, selbst in unscheinbaren Alltagsgegenständen musikalische Qualitäten zu entdecken. Cage brachte diese Gegenstände zum Klingen - d. h. er benutzte sie als Klangerzeuger, als Musikinstrumente neuer Art. Sobald er sich dafür entschieden hatte, für der Alltagswelt entstammende Klangquellen Geräuschmusiken zu komponieren, waren Schönbergs Harmonie-Probleme für ihn gelöst: Er brauchte in seiner Partitur überhaupt keine Töne mehr vorzuschreiben, sondern nur noch die Rhythmen, in denen verschiedene Gegenstände angeschlagen werden sollten. So gewann er neue Klänge, aber dies hatte auch seinen Preis: Eine stärkere Unbestimmtheit der Notation, da nur noch die Rhythmen, aber nicht mehr die Tonhöhen genau differenziert werden konnten. Erst später hat Cage erkannt, daß diese Unbestimmtheit mehr war als ein Notbehelt - daß sie für die musikalische Praxis im Zusammenwirken von Komponist und Interpret auch neue Chancen eröffnen konnte.
Schon 1935 hat John Cage damit begonnen, Musik für kleine Ensembles mit Geräuschinstrumenten zu schreiben - rhythmische Stukturen, die sich mit allerlei alltäglichen Klangerzeugern "spielen" ließen. Erst einige Jahre später ist Cage aufgefallen, daß schon Cowell den Weg gewiesen hatte zu noch einfacheren Möglichkeiten der Geräuscherzeugung: Cowell hatte das Klavier selbst zum Schlaginstrument gemacht. Auf diesem Wege ging später Cage noch einen Schritt weiter, indem er sich dem präparierten Klavier zuwandte: Er steckte verschiedene Materialien zwischen die Klaviersaiten, z. B. Schrauben, Gummi-, Filz- und Holzstücke. Dadurch veränderte sich die Klangfarbe, oft sogar die ursprüngliche Tonhöhe: Es entstand ein Geräuschklavier, auf dem man Musik jenseits der bisher bekannten Tonleitern spielen konnte. Auch dabei ergab sich wiederum ein neuer Aspekt der Unbestimmtheit: Wenn man eine Note für das präparierte Klavier aufschreibt, ist der Ton weniger genau festgelegt als in einem konventionellen Klavierstck. Die Klangfarbe, sogar die Tonhöhe (sei sie klar erkennbar, eindeutig, mehr oder weniger unbestimmt) kann davon abhängen, an welcher Stelle eine Klaviersaite mit welchen Materialien präpariert wird. Cage hat versucht, dies genau festzulegen, indem er die Saiten genau abmaß und ie Maße und Präparierungsmaterialien im Vorwort der Partitur mitteilte (sogar in Verbindung mit Hinweisen auf sogenannte "Mustertüten", in denen Materialien für Präparationszwecke zur Verfügung standen). Allerdings stellte sich heraus, daß man diese Anweisungen befolgen und trotzdem zu ganz unterschiedlichen Klangresultaten kommen konnte - z. B. deswegen, weil die Abmessungen einer Saite je nach Fabrikat und Bauweise des Instrumentes für die Präparation ganz unterschiedlich sich auswirken können. Erst viele Jahre später ist Cage klar geworden, daß er hier erstmals mit Phänomenen des Unvorhersehbaren und Zufälligen konfrontiert worden ist, die danach für sein kompositorisches und musikpraktisches Denken immer wichtiger geworden und mehr und mehr bewußt einbezogen worden sind. Daß selbst präzise Partituranweisungen das Klangergebnis nichtg immer eindeutig festglegen, sondern unter Umständen verschiedene interpretatorische Lösungen zulassen, mag Cage zunächst als ein schwer vermeidbares Übel erschienen sein; erst später hat er sich entschieden, aus der vermeintlichen Not eine Tugend zu machen.
In Cages Werken für präpariertes Klavier wird offensichtlich, was bereits zuvor in seinen frühesten Werken für Schlagzeugensemble sich angekündigt hat: Die Beziehungen zwischen Notentext und Hörergebnis sind anders, als man es aus der traditionellen Musik gewohnt ist. Die rhythmischen Werte in den Schlagzeugkompositionen beziehen sich in der Regel nicht mer auf ausgehaltene Töne, sondern auf schwierig zu klassifizierende Geräusche (auch auf solche, die, anders als die meisten Töne, nicht ausgehalten werden können, sondern rasch verklingen oder siich ständig verändern). Den Klang dieser Musik kann man sich nur dann vorstellen, wenn man mit den von Cage vorgeschriebenen Schlaginstrumenten vertraut ist oder wenn man mit den Klangerzeugern, die er vorschlägt, selbst praktische Erfahrungen gesammelt hat. - Noch schwierigere Fälle können sich in Cages Partituren für präpariertes Klavier ergeben: Auf den Notenlinien sind hier meistens nicht mehr Tonhöhen fixiert, sondern anzuschlagende Tasten, die (je nach Präparation) ganz andere Tonhöhen ergeben können als die notierten. Die Notation zielt hier nicht mehr auf das Hörergebnis, sondern auf die Aktion des Interpreten. Damit hat Cage in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts neue Wege für Notation, Komposition und Interpretation erschlossen und eine Entwicklung eingeleitet, deren weitreichende Konsequenzen erst wesentlich später deutlich werden sollten.
Schon 1937 hat Cage neue Möglichkeiten der Klangkomposition angesprochen in einem sich der Zukunft der Musik zuwendenden Manifest (das dann allerdings erst 20 Jahre später im Druck veröffentlicht worden ist): Cage plädierte damals nicht nur für eine Musik der Geräusche, sondern auch für eine Musik der technisch produzierten Klänge - Ansätze der elektronischen Musik, wie sie est später in den fünfziger Jahren realisiert werden konnten: Technische Geräte sollten es ermöglichen, Klänge in allen ihren elementaren Eigenschaften exakt auszumessen und auszukomponieren - in ihren Tonhöhen, Lautstärken und Dauern. In diesem Sinne haben später Pioniere der elektronischen Musik wie Karlheinz Stockhausen gearbeitet: Sie komponierten mit genau festgelegten Frequenzen, Schallstärken und Tonbandlängen. Als es so weit gekommen war, daß die technischen Gegebenheiten dies zuließen, hatte Cage selbst allerdings seine ästhetischen Positionen schon längst wieder verändert. Was er einst gefordert hatte, hatte sich für ihn offensichtlich schon in der Zwischenzeit historisch erledigt.
Cage war nicht der erste, der die Realisation technisch produzierter Musik gefordert hat. Schon 1906 hatte Feruccio Busoni sich für elektronisch erzeugte Klänge ausgesprochen. Später versuchte Edgard Varèse, Busonis Visionen in die Tat umzusetzen. Was sich zunächst technisch nicht realisieren ließ, versuchte Varèse vorläufig, in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren, mit Hilfe großer Schlagzeug-Besetzungen wenigstens provisorisch zu realisieren. Auch er versuchte, von der Geräuschmusik ausgehend den Weg zur technisch produzierten Musik zu finden - in ähnlicher Weise, wie es einige Jahre später auch Cage sich vorgenommen hat. Weder Varèse noch Cage schafften es allerdings in den dreißiger und vierziger Jahren, ein elektronisches Studio zu gründen. Während Varèse, von der Vergeblichkdeit seiner Versuche schwer enttäuscht, in eine tiefe und lang andauernde Schaffenskrise geriet, versuchte Cage sich in eher pragmatischen Lösungen: In "Imaginary landscape no. 1" (1939) erweiterte er sein Instrumentarium auch um technische Geräte: ´Hier wird erstmals der Schallplattenspieler als Musikinstrument eingesetzt. Nach Maßgabe rhythmischer Strukturen, wie Cage sie zuvor auch für gewöhnliche oder ungewöhnliche Musikinstrumente komponiert hatte (z. B. für Gongs und Becken, aber auch für Blechbüchsen und Blechtrommeln), hat Cage in diesem Stück auch festgelegt, wann in diesem Stück der Tonarm eines Plattenspielers gehoben oder gesenkt werden sollte. - Für dieses Stück hat Cage genau vorgeschrieben, welche Schallplatten aufgelegt werden sollten: Versuchsplatten mit Sinustönen. An bestimmten Stellen sollte auch die Geschwindigkeit des Plattenspielers umgeschaltet werden, wobei dann ein auf der Platte gespeicherter ausgehaltgener Sinuston in ein Glissando verwandelt werden konnte. So ergab sich zwanglos die Erweiterung experimenteller Instrumentalmusik in einen Bereich hinein, den man Jahrzehnte später als "live-Elektronik" bezeichnen sollte. Diese Erweiterung realisiert sich in einem Stück, das in der Musik von John Cage zugleich auch als erstes Beispiel einer "Medienkomposition" (Hans Rudolf Zeller) angesprochen werden kann.
Ein zugleich skurriler und populärer Sonderfall der Medienkomposition findet sich in dem 1942 entstandenen Stück "Credo in Us". Hier soll eine klassische Schallplatte abgespielt werden, während gleichzeitig Geräuschinstrumente das Wunschkonzert zu übertönen versuchen, sogar mit Karikaturen von Ungterhaltungsmusik dagegen anspielen. Cage legt genau fest, wann und in welcher Lautstärke der Klassik-Hit erklingen soll. Das Stück selbst aber kann vom Interpreten frei gewählt werden. Hier ergibt sich also ein weiterer Fall klanglicher Unbestimmtheit.
Geräuschkompositionen - Werke für Ensembles von Geräuschinstrumenten, Stücke für präpariertes Klavier und Medienkompositionen - bilden die Schwerpunkte der kompositorischen Arbeit von John Cage in den späten dreißiger und in den vierziger Jahren. Neue Klänge Klänge von Instrumenten und technischen Geräten sind in dieser Musik so nachdrücklich in den Vordergrund getreten, daß in ihrem Kontext auch bekannte Klangmittel frisch und unverbraucht wirken können - zum Beispiel eine Singstimme, die (in "The wonderful widow of eightenn springs", 1942) ihren Text quasi-archaisch auf nur drei verschiedenen Tönen singt und dabei von Klopfgeräuschen auf dem geschlossenen Klavier begleitet wird.
In den frühen fünfziger Jahren hat sich John Cages Musik radikal verändert. Die Gründe hierfür lassen sich nur schwer auf einen Nenner bringen. Einerseits hat Cage darauf hingewiesen, daß er - beim Versuch der Aufarbeitung einer schweren Krisen in seinem persönlichen Leben - in den späten vierziger Jahren ein intensives Studium des Zen-Buddhismus bei Suzuki absolviert hatte, was damals zu einer grundlegenden Veränderung seines gesamten Denkens führte. Andererseits kann man auch versuchen, Cages Wandlungen um 1950 innermusikalisch zu begründen. (Dies erscheint auch deswegen sinnvoll, weil fernöstliche Einflüsse sich auch schon früher in seiner Musik nachweisen lassen, in den früheren Werken jedoch mit ganz anderen Konsequenzen). Offenbar wollte Cage sich nicht mehr damit begnügen, in einer inzwischen voll entwickelten Technik der rhythmischen Strukturierung immer neue Klänge zu erschließen (seien es Geräusche, seien es technisch produzhierte Klänge). Wichtiger erschien ihm offensichtlich eine neue Positionsbestimmung des Komponisten sowie seines Verhältnisses zum Ingterpreten und zum Hörer. Cage, der in den dreißiger und vierziger Jahren seine damals entstandenen Werke meistens selbst gespielt oder dirigiert hatte, suchte später nach Wegen, eine Musik zu komponieren, deren klangliche Ergeb nisse auch ihn selbst überraschen, ja über die Grenzen seiner kompositorischen Phantasie hinausführen konnten. Das aus der Tradition bekannte Konzept einer individuellen Ausdrucksmusik, die der Komponist innerlich hört, aufschreibt und später in Interpretationen anderer entsprechend wieder hören kann - dieses Konzept erschien Cage zu eng. In neuen, experimentellen Kompositionsgtechniken versuchtge er, über seine bisherigen Ansätze hinauszukommen in einer stärker strukturierten und objektivierten Musiksprache. Gegen den eigenen Geschmack, gegen die eigenen Vorlieben und Abneigungen war er inzwischen so skeptisch geworden, daß er seine kompositorischen Entscheidungen lieber auf eine andere Ebene verlagern wollte: Er führte den Zufall in die Musik ein. Er entwarf ein Netz von Ordnungsbereichen und Entscheidungsmöglichkeiten - sozusagen ein Bündel von Fragen, die sich beantworten ließen durch Zufallsentscheidungen (z. B. beim Münzenwerfen - in Orakel-Entscheidungen, wie Cage sie damals im I Ging kennengelernt hatte). Die Klavierkomposition "Music of Changes" (1951) ist eine rigoros strenge Partitur, die gleichwohl sich in den Details als das Produkt von Zufallsentscheidungen ergeben hat. Der Komponist verfährt hier streng und willkürlich zugleich. Seine Partitur ist streng fixiert und legt die Interpretation genauestens fest, obwohl das streng Fixierte sich aus Zufallsentscheidungen ergeben hat.l Der Hörer vernimmt eine präzis ausformulierte, aber gleichwohl in ihrer Struktur nur schwer zu entschlüsselnde Musik; im Spannungsfeld zwischen Ordnung und Chaos unterscheidet sich seine Position sowohl von der des Interpreten als auch von der des Komponisten.
Cage hat frühzeitig erkannt, daß die Veränderung seines gesamten Denkens schließlich auch sein kompositorisches Metier grundlegend verändern mußte. Das Ziel der Absichtslosigkeit, der Loslösung von eigenen Vorlieben und Abneigungen sowie von individuellen Entscheidungen, ließ sich letztlich nicht damit vereinbaren, daß in einer Partitur ein exakt und eindeutig fixiertes, also letztlich so doch vom Komponisten gewolltes Ergebnis vorgelegt wurde. Auch den aufgeführten Werken sollte anzumerken sein, daß sie sich aus freien interpretatorischen Entscheidungen im Rahmen vom Komponisten frei gelassener Spielräume ergeben hatten, wobei sich von Aufführung zu Aufführung durchaus unterschiedliche Lösungen ergeben konnten. Die ließ sich nun besonders sinnfällig demonstrieren im Bereich der Medienkomposition: Das ältere Modell des Stückes "Credo in Us" hat Cage radikalisiert in einer späteren Komosition, in dem nicht ein Schallplattenspieler variabel eingesetzt wird (wie es, in Verbindung mit anderen, fixierten Partien, in "Credo in Us" geschieht), sondern ein stattliches Ensemble von Radioapparaten (in einer durchweg unbestimmten bzw. variablen Partitur): In der 1950 entstandene Partitur "Imaginary landscape no. 4" für 12 Radios mit 24 Spielern ist genau festgelegt, welche Sendefrequenzen die Spieler zu welcher Zeit in welchen Lautstärken einstellen sollen. Die Aktionen der Spieler - übrigens auch die der Dirigenten in dieser (in traditioneller Rhythmik notierten) Partitur - sind genau fixiert, während andererseits das klangliche Resultat völlig unbestimmt bleibt: Es hängt ab vom Ort der Aufführung und von der Sendezeit. Bei der Uraufführung beispielsweise war wenig zu hören, weil das Stück am Schluß eines langen Programms stand und die meisten eingestellten Sender bereits Sendepause hatten. - Für alle Aufführungen dieses Stückes ist sichergestellt, daß keine der anderen genau gleichen, daß überdies keine in ihrem Klangbild exakt vorausgesehen werden kann. Die Partitur ist ambivalent: Als eindeutig fixierte Anweisung an die Interpreten, die gleichwohl das klangliche Resultat in keiner Weise festlegt. Die Komposition (die von Zufallsentscheidungen ausgeht) unterscheidet sich rfadikal von der (exakt determinierten) Interpretation und vom (in den Details unvorhersehbaren) Höreindruck. Die Kommunikatin zwischen Komponist, Interpret ujnd HÖrer, wie sie bei traditionellen Musikwerken als Idealfall angenommen wird, erscheint hier grundsätzlich in Frage gestellt. Auch dieses Stück, nach "Imaginary landscape no. 1" und ähnlichen Werken eine weitere Vorform der live-Elektronik, profiliert sich als Erweiterung der Instrumentalmusik bis in den Bereich der technisch produzierten Klänge hinein.
"Imaginary landscape no. 5" ist die erste Medienkomposition von John Cage, die nicht live aufgeführt werden kann, sondern nur als vorproduzierte Tonbandmusik. Diese Tonbandproduktion, so könnte man meinen, müßte als extremes Kontrastmodell zur totalen Unbestimmtheit der vorausgegangenen Komposition "Imaginary landscape no. 4" für 12 Radios erscheinen, da alle Tonbandklänge eindeutig fixiert sind. Dennoch gilt, daß auch in diesem neueren Medienstück Unbestimmtheit komponiert ist. Denn dieses Stück ist nicht als Tonband fixiert, sondern als Partitur - d. h. nicht als Studioproduktion, sondern als Montageschema, das im Studio auf verschiedene Weisen realisiert werden kann. Cage hat die Partitur ähnlich angelegt wie in seinem Stück für 12 Radios: Alle Einzelheiten der Montage sind festgelegt. Offen - d. h. der Entscheidung des Realisators überlassen - bleibt aber, was auf den montierten Tonbandstückchen zu hören ist. Cage hat lediglich festgelegt, daß das Klangmaterial aus 42 frei gewählten Schallplatten zusammengestellt werden soll, und er gibt genaue Anweisungen, an welchen Stellen in einer der acht Schichten von einer Schallplatte zu einer anderen übergewechselt werden soll. - Entscheidend ist auch hier, daß technische Geräte abweichend von den alltäglichen Konsumgewohnheiten eingesetzt werden sollen. Die schier unübersehbare Flut konserviertger Musik wird hier in neuer Weise strukturiert, verwandelt, umfunktioniert. Die Illusion, daß die Schallplatten-Wiedergabe sich als getreues Abbild einer live-Aufführung präsentieren könnte, wird hier radikal durchbrochen: Die Musikkonserven klingen in den hier vorgeschriebenen komplexen Zusammenhängen der Mikromontage und der dichten Mischung so, als seien sie eigens für dieses Stück neu komponiert worden - vielleicht in ähnlicher Weise wie sinnvoll wiederaufbereiteter kultureller Müll. In respektloser Frische erschließt sich so auch scheinbar Vergangenes in neuer Weise.
Was Cage zunächst mit Radios und Schallplatten, also mit Produkten der modernen Medienkultur versuchte, hat er später auch in traditionsgeprägte Aufführungsstätten wie den Konzertsaal oder das Opernhaus transferiert: Aus umkomponierten Fragmenten eines Stückes von Satie ("Socrate") schuf er 1969 eine "Cheap Imitation", aus durchlöcherten Fragmenten älterer Popularmusik das Orchesterstück "Quartets" (1976), aus vielen verschiedenartigen Relikten der traditioinellen Opernpraxis seine "Europeras" (1985 ff). Selbst in der Auseinandersetzung mit Relikten der kulturellen Tradition erweisen die kompositorischen Konzeptionen von John Cage ihre Kraft der ständigen Erneuerung und der unverwechselbaren Originalität.
Selbst in seinen Studioproduktionen hat Cage niemals darauf verzichtet, Unbestimmtheit zu komponieren. Die Voraussetzung dafür war, daß diesen Kompositionen jeweils eine variabel realisierbare Partitur zu Grunde lag, so daß die Tonbandrealisation nur als eine von vielen möglichen Versionen erscheinen konnte, aber nicht als das Stück selbst. Dies gilt auch für spätere Medienkompositionen von Cage: Zu "Williams Mix" hat er ein detailliertes Montageschema erstellt, das allerdings nur übergeordnete Klangkategorien festlegt, nicht die Klänge selbst. "Fontana Mix" (1958) orfientiert sich an einer graphischen Partitur (die übrigens auch mit anderen Klangmitteln realisiert werden kann, also nicht ausschließlich auf die elektroakustische Realisation ausgerichtet ist).
Noch freier verfährt Cage in "Rozart Mix" (1965): Zu diesem Stück gibt es keine ausgearbeitete Partitur, sondern nur einen informellen Briefwechsel des Komponisten mit den Veranstaltern, der Einzelheiten dieser Collage aus variablen Bandschleifen betrifft. Hier ist lediglich das technische Verfahren festgelegt, aber nicht das Klangmaterial und der formale Ablauf. Auch hier verbindet sich Unbestimmtheit mit klanglicher Komplexitä
Cage hat oft betont, daß neue Musik nicht in jedem Falle an das Vorhandensein neuartiger Klangquellen gebunden ist. So erklärt sich, daß in seiner Musik, vor allem seit den fünfziger Jahren, neue kompositorische Verfahren in zunehmendem Maße auch für konventionelle Instrumente und Instrumentalbesetzungen entwickelt worden sind. Im Vordergrund standen dabei Klavierkompositionen für David Tudor, z. B. der Zyklus "Music for Piano" (1953 ff.), dessen Zufallsoperationen Cage aus Unregelmäßigkeiten auf vorgefundenen Papierseiten abgeleitet hat; ferner Kompositionen für zwei Klaviere, die Cage und Tudor gemeinsam aufführten (daruntger ein Stück für die Donaueschinger Musiktage 1954, das damals dort eben so wenig Verständnis fand wie die Tonbandkomposition "Williams Mix"). Auch andere Solostücke entstanden in den fünfziger Jahren, z. B. für Violine, Schlagzeug und Violoncello. - Diese Zufallskompositionen sind so angelegt, daß sie den Charakter des geschlossenen Werkes sprengen - auch in ihrem Verhältnis zueinander und zu anderen Hörereignissen: Mehrere von ihnen können gleichzeitig aufgeführt werdenh; ihre Aufführung kann sich auch verbinden mit Sprechtexten. So sind beispielsweise Cages Vortragstexte "45 Minuten für einen Sprecher" und "Indeterminacy" in Verbindung mit begleitender, von David Tudor ausgeführter Klaviermusik bekannt geworden.
Als instrumentales Hauptwerk der fünfziger Jahre entstand für David Tudor das "Concerto for piano and orchestra". Die Solostimme dieses Konzertes ist ein Kompendium unterschiedlichster Notationsformen, die nach stets wechselnden Leseregeln erfindungsreiche Realisatoren fordern. Für die Koppelung des Klaviers mit verschiedenen Instrumentalstimmen sowie für die gleichzeitige Aufführung dieses Stückes mit anderen Cage-Werken hat der Komponisten weitgehende Freiheiten gelassen. Eine besondere Rolle spielt der Dirigent: Er hat nicht die Partitur zu lesen oder zu kontrollieren, da es eine Partitur zu diesem Stück nichgt gibt. Er agiert vielmehr, nach einer eigenen Stimme, als unregelmäßig gehende Uhr. Bei der Uraufführung des Konzerts in New York dirigierte Merce Cunningham, der mit Cage befreundete Tänzer und Choreograph vieler seiner Stücke.
Heinz Klaus Metzger hat darauf hingewiesen, daß Cage in seiner unkonventionellen Behandlung von Stimmen und Instrumenten seit den fünfziger Jahren zielstrebig das instrumentale Gtheatger vorbereitet und eingeführt hat. Die Entwicklung führte von theatralisch inszenierten Klavierstücken für David Tudor über ein "Theatre Piece" bis zu Multimediaprojekten der sechziger Jahre. Multimediale Tendenzen finden sich auch in einigen Stücken des 1958 begonnen Zyklus der "Variations", deren Realisationen überdies häufig von Mitteln der live-Elektronik Gebrauch machten (einer Musikart, zu der Cage seit 1960, seit den verstärkten Klängen seiner "Cartridge Music", wichtige Impulse gegeben hat).
Gegen Ende der sechziger Jahre begann Cage damit, seine Zufallsverfahren auch auf musikalisch vorgeprägte Materialien anzuwenden. In seine 1969 gemeinsam mit Lejaren A. Hiller realisierte Computermusik "HPSCHD" hat Cage collageartig Musik von Mozart und eine historische Zitatenkette (gleichsam eine "kleine Musikgeschichte" in Zitatausschnitten) eingearbeitet. Später, in verschiedenen Werken aus den späten sechziger und den siebziger Jahren, setzt sich die Verwendung tonaler Musikausschnitte weiter fort. Seit den achtziger Jahren hat sich hieraus, in erneuter Reduktion, eine neuartige "Musik aus Tönen" entwickelt, die sich als späte kritische Auseinandersetzung mit Schönbergs Konzept der Harmonie interpretieren läßt. Die Neubestimmung der Harmonie als "anarchic harmony" ist wohl die entscheidende kompositorische Leistung des späten Cage. In ihr erfüllt sich eine kompositorische Entwicklung, die von Anfang an geprägt war vom Mut zum Neuen, von der ständigen Kritik des Bestehenden - von einer Kritik, die dieses Bestehende in Frage stellt, um es weiter zu entwickeln und in einem höheren Entwicklungsstand produktiv aufzuheben.
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Die Befreiung der Klänge, die Cage in seiner Frühzeit vor allem mit Geräuschen realisierte, konkretisiert sich in seinem Spätwerk oft in neuartigen Konstellationen von Tönen. In einem Werkkommentar hat Cage einmal die Vorstellung einer Musik entwickelt, die sich auf Töne konzentriert, ohne sie dabei den traditionellen Ordnungen von Melodie und Harmonie auszuliefern - einer Musik, "in der jeder Ton, da er von Pausen umgeben ist, viel mehr aus seinem Zentrum schwingt als aufgrund einer Theorie, welche ihn mittels Über- oder Unterordnung zu anderen Tönen kontrolliert." Viele Stücke aus Cages letzten Lebensjahren sind so gestaltet, daß in ihnen Töne für sich bleiben, aber auch sich mit anderen verbinden können - und daß sie in beiden Fällen ihre Autonomie bewahren. - Schon frühzeitig ist in Cages Musik deutlich geworden, daß der "Klebstoff" zwischen den Klängen ist - nicht nur der Klebstoff bekannter tonaler Ordnungen, sondern auch der Klebstoff von vorgeplangten Strukturzusammenhängen. Unverrückbar feste Ordnungen ergeben sich schon deswegen nicht, weil Cage bei der zeitlichen Anordnung der Töne den Interpreten Freiräume läßt, so daß ihre Konstellationen von Aufführung zu Aufführung verschieden klingen können. Dies wird möglich durch eine Zeitstruktur der verschiedenen Formabschnitte, die nicht starr fixiert ist, sondern beweglich, gleichsam elastisch: Alle Spieler spielen nicht nach eindeutig markierenden Zeichen eines Dirigenten, sondern nach der Stoppuhr. Die Gesamtdauer des Stückes liegt fest, ebenso der Rahmen der formalen Abfolge von Tönen, Tongruppen und größeren Formteilen. Jeder Spieler kann aber in gewissen Grenzen selbst die Entscheidung treffen, wann er einen bestimmten Formteil beginnt oder abschließt: Die Partitur schrei bt hierfür keine festen Zeiträume vor, sondern nur Zeiträume - Angaben, wann ein Formteil frühestens beginnen (oder enden) darf und wann er spätestens beginnen (oder enden) muß. Wenn mehrere Spieler zusammenwirken, kann also jeder einzelne innerhalb dieser Zeiträume seine eigenen Anfangs- und Schlußpunkte finden. Dies bedeutet, daß in der Regel nicht alle gleichzeitig von einem Formteil zum nächsten übergehen, sondern individuell - einer nach dem anderen in unvoraussehbarer Weise. Es gibt also keine starren Gliederungen, sondern organische Übergänge zwischen den verschiedenen Formteilen - keine Zäsuren. Auchb innerhalb der Abschnitte sind keine starren Zeitmarkierungen vorgegeben, so daß jeder Spieler die Töne weitgehend frei "in die Zeit stellen" kann. Den meisten Tönen ist viel Zeit und Spielraum zur freien Ausgestaltung gegeben, auch ihre Dauer wird in der Regel nichgt exakt ausgemessen. Damit die Töne sich gegenseitig nicht stören, verlangt Cage, daß lange Töne leise gespielt werden sollen, während für kürzere Töne auch größere Lautstärken gewählt werden können (aber nicht müssen). So ergibt sich eine überaus behutsame, im Detail vielfältig variierbare Disposition der Töne. Geräusche spielen in den so angelegten Stücken in der Regel nur eine eher untgergeordnete Rolle - in Partien für Schlaginstrumente, denen für die einzelnen Formabschnitte nur die Zahl der Ereignisse vorgegeben ist (während das Instrument, die Spielart, die Dauer und in gewissen Grenzen auch die Lautstärke variabel sind). Es gibt relativ viele Stücke, in denen nur Partien mit festgelegten Tönen zu finden sind, keine Geräusche. In ihnen wird der Charakter dieser neuartigen "Musik mit Tönen" besonders deutlich.
Wenn Cage eine "Musik mit Tönen" komponiert, geht er vn zwei festgen Größen aus: Von einer genau fixierten Aufführungsdauer und von einer präzise determinierten Besetzung. Daraus ergeben sich wichtige Charakteristika dieser in der Zeitgestaltung durchaus flexiblen Stücke, sogar ihre Titel: 1987 begann Cage mit einem Zyklus der "Zahlenstücke", in dem jedes Stück eine Zahl als Titel tragen sollte, nämlich die Zahl der Mitwirkenden. Wenn für dieselbe Besetzungsstärke unterschiedliche Kompositionen entstanden, dann wurde ihr Zahlentitel zhusäthzlich mit einer (chronologisch passenden) Indexzahl versehen.
Die Aufführungsdauern und Besetzungsstärken verschiedener Zahlenstücke ergaben sich meistens aus Absprachen, die Cage bei der Erteilung der betreffenden Kompositionsaufträge getroffen hatte. Dies gilt von den frühesten Stücken des Zyklus bis zur Komposition "Thirteen" (die im Todesjahr des Komponisten entstand, möglicherweise als sein letztes Werk). Die Wahl der Zahl 13 hatte Manfred Reichert angeregt - der Leiter des "Ensemble 13", für das das Werk in Auftrag gegeben worden war. Cage hat vorübergehend erwogen, das Stück in einer sehr fein gestuften Mikrotonalität zu komponieren, wie sie auch in verschiedenen anderen Zahlenstücken für kleinere Ensemblebesetzungen vorgeschrieben ist. Nach weiteren Vorbesprechungen entschied Cage sich jedoch für ein Stück im herkömmlikchen zwölftönigen System (wie es auch in vielen anderen Zahlenstücken akzeptiert wird).
Die Zahlenstücke unterscheiden sich deutlich von prozeßhaft offenen Kompositionen, wie sie Cage vor allem in den sechziger Jahren geschaffen hat. In derzeitlichen Strukturierung nähert sich der späte Cage wieder stärkeren Fixierungen der Teile und ihrer Rhythmusbestimmungen. Die Tonhöhengruppierungen und -abfolgen sind zwar in Details variabel, aber insgesamt doch so klar umrissen, daß Cage von einer "erdbebensicheren"Musik sprechen konnte (d. h. von einer Musik, die in ihrer Elastizität der Zeitgestaltung nicht nur als offener Prozeß erfahren wird, sondern auch objektives Klangphänomen).
Cage ist nicht der einzige Komponist unseres Jahrhunderts, der in seiner Spätzeit Strukturprinhzipien seiner frühesten Werke wieder in verwandelter Form aufgegriffen hat; dies hat er sogar Luigi Nono gemeinen, dessen Entwicklung sich sonst von derjenigen Cages deutlich unterscheidet. - Cages Gesamtwerk, in dem das Spätwerk einen besonders hervorgehobenen Rang einnimmt, ist gleichwohl allenfalls in Teilaspekten mit den Arbeiten anderer, auch jüngerer Komponisten vergleichbar. Unverwechselbar bleibt Cages Musik in ihrer ständigen Konzentration auf die Autonomie der Klänge - und auf die Autonomie der Menschen, die mit diesen Klängen umgehen (sei es als Interpreten, sei es als Hörer). Der Idee, Töne Töne sein zu lassen, die Klänge zu emanhzipieren - dieser Idee ist Cage treu geblieben. So erklärt es sich, daß er bis zuletzt aktiv die aktuelle Musikentwicklung mitgestalten konnte - unbeeindruckt vom Auf und Ab bald der Popularität, bald des Widerspruchs.
John Cage ist zu einem Pionier des Neuen geworden, dessen Musik zu Veränderungen aufruft, von denen man sich Wirksamkeit erhofft auch über den engeren Bereich der Musik hinaus: Über die Emanzipation der Klänge hinaus weisend auf die Emanzipation der Menschen.
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