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1.1.4 Skript: John Cage und die Akustische Kunst


Rudolf Frisius

John Cage und die Akustische Kunst

A ° O-Ton Cage (Indeterminacy, Muoyce, Satie, Roaratorio, Empty Mind/Themes and Variations, Composition, Sound Poetry, 2nd Writing)

John Cage: Ein Künstler, der in vielen verschiedenen Rollen in Erscheinung getreten ist - besonders eindrucksvoll als Vortragender, Rezitator und Performance-Künstler, aktiv in den Bereichen vor allem der Musik und der Akustischen Kunst. Seine Stimme begegnet uns bald im naturgetreuen Klangbild, bald in technischer Vervielfachung der Studio-Playback-Klanges.

B °Muoyce (Stimme Cage vervielfältigt)

In Tondokumenten begegnet Cage uns als Stimmkünstler in vielen verschiedenen Facetten - nicht nur als einzelne oder als technisch vervielfältigte Stimme , sondern auch in technischer Verfremdung.

Der verfremdete Stimmklang verwandelt sich in pseudo-live-elektronische Musik.

C °Essay

John Cage ist nicht nur als Sprecher aktiv gewesen, sondern auch als Instrumentalist. Viele seiner frühen Klavierstücke , vor allem seine Kompositionen für präpariertes Klavier, hat er für den eigenen Gebrauch geschrieben. Später haben viele andere Komponisten diese Musik dem Komponisten nachgespielt.

D °Bacchanale

Es gibt ein Tondokument besonderer Art, in dem Cage am Klavier zu hören ist. Er spielt allerdings nicht auf den Tasten, sondern auf verschiedenen Holzteilen des Klaviers - als Begleitung eines kurzen Textes von Joyce, der auf nur 3 verschiedenen Tönen gesungen wird.

Z The wonderful widow of eighteen springs

In Tondokumenten können wir John Cage auch als Interpreten live-elektronischer Musik kennenlernen. Beispielsweise realisierte er für den Westdeutschen Rundfunkt, gemeinsam mit David Tudor, eine Version seiner "Cartridge Music".

John Cage repräsentiert ein breites Spektrum der Vielfalt Akustischer Kunst - und dies nicht nur als ausübender Künstler, sondern vor allem auch als Autor.

1 O-Ton Cage Empty Mind

( °aus Nacht Cage Tag)

oder.Moderation (Music of Changes, 3 Pieces für 5 Orchester)

+ Anfang des entsprechenden Stückes

oder Roaratorio (evtl. 2nd writing)

John Cage und die Akustische Kunst: Dieses Stichwort verweist auf viele offene Fragen. Seine Produktion ist so vielseitig, und sie umfaßt so viele verschieden Facetten einer etwa 60 Jahre umspannenden künstlerischen Entwicklung, daß sie sich nur schwer klassifizieren und auf einen bestimmten Begriff beziehen läßt - sei es auch ein so umfassender und vielfältiger Begriff wie der der Akustischen Kunst: Ein Begriff immerhin, für den insofern einiges spricht, weil auch er sich schwer in das traditionell Etablierte einordnen läßt, weil er quer steht etwa zur traditionellen Abgrenzung der Künste. Der Name John Cage steht für Tendenzen einer Kunst der Grenzüberschreitung.

2 °45' für einen Sprecher

z.B. nach 1'40

Text auf der Zuspielung:

Musik ist eine Übervereinfachung der Situation, in der wir uns tatsächlich befinden.

EIN OHR IST KEIN WESEN;

Musik ist ein Teil des Theaters

"Fokus" bedeutet, welche Gesichtspunkte man betrachtet.

Theater ist all die verschieden Dinge, die gleichzeitig vor sich gehen.

Ich habe bemerkt,

daß Musik für mich dann am lebendigsten ist, wenn mich das Zuhören vom Sehen nicht ablenkt.

Man sollte Musik sehr natürlich auffassen.

Die Kunst von John Cage ist vielperspektivisch. Was er zu sagen hat, oder was er andere, z.B. seine Interpreten, sagen läßt, ist vieldeutig und vielschichtig.- vielfältig wandelbar insbesondere nicht nur im Erscheinungsbild der klanglichen Sprache, sondern auch in ihrem akustischen Kontext, in ihrer akustischen Inszenierung.

3 °45'(1'40)

Ausschnitt wie zuvor, andere Aufnahme

Musik und Theater - Musik und Akustische Kunst: Mit diesen und ähnliche Stichworten kann man deutlich machen, wie schwer es ist, die Arbeit von John Cage auf einen einzigen Begriff zu bringen. Es fällt schwer, auf Fragen nach dem Wesen seiner Kunst eine eindeutige Antwort zu finden:

Ist es Musik?

Oder ist es etwas anderes?

4 °45'(42'20) und/ oder ca. 42'30

Text auf der Zuspielung:

Falls sich jemand als Beschützer des Wortes "Musik" fühlt,

schütze er es

und finde ein anderes Wort für alles übrige,

das durch die Ohren eindringt.

Es ist eine Zeitvergeudung,

sich mit Wörtern zu mühen, Geräuschen.

Was es ist, ist Theater,

und wir sind drin und mögen es, machen es.

Musik oder nicht Musik:

Ist das die Frage?

Für John Cage und für viele, die sich mit seiner Arbeit beschäftigen, scheint diese Alternative nicht von Bedeutung zu sein. Wir wissen von Cage-Aufführungen, bei denen vieles darauf angelegt war, beide Möglichkeiten miteinander zu verbinden: Musik im engeren Sinne - und Möglichkeiten der mehrperspektivischen, polyästhetischen Gestaltung:

Kunst als Grenzüberschreitung.

5 °Musicircus mit Ansage WDR 3050523

a) mit Ansage (Gabriele Ende)

für Sinfonieorchester, Feuerschlucker, Licht, Opernsänger, Flohzirkus, Rock, Duft, Alte Musik,

Theater, Artisten, Free jazz, Tingel-Tangel, Rauch und vieles andere.

b) Anfang Aufführung

In einem Verzeichnis der Werke von John Cage ist der Musicircus unter der Jahreszahl 1967 eingetragen, mit der Uraufführung vom 17. November diesen Jahres. 11 Jahre später hat Walter Zimmermann eine Realisation des Musicircus in Bonn realisiert.

Diese und andere Aufführungen entpuppen sich als erstaunliches Faktum, wenn man dem Werkverzeichnis entnimmt, daß es gar keine schriftlich fixierte Vorlage für dieses Stück gibt. In einer kurzen Anmerkung wird lediglich mitgeteilt, worum es hier geht:

Um eine weitgehend offen geplante Simultanaufführung.

Zitator Cage evtl.

Es werden Personen eingeladen,

die willens sind,

am selben Ort zur selben Zeit

etwas aufzuführen.

6 °Musicircus (Fortsetzung)

Die Kunst von John Cage ist offen für das Unvorhersehbare:

7 °Empty Mind 16'16 (wichtig: verwirrt zu sein, Unvorhersehbarkeit)

Im Musicircus soll die Enladung und Mitwirkung aller beteiligten Interpreten so organisiert werden, daß niemand im Voraus wissen kann, wie die Gesamtaufführung klingen wird.

Zitator Cage (Charles, Vögel 51)

In einem Musicircus ist es gestattet,

alle Arten von Musik zu vereinigen,

die gewöhnlich getrennt sind.

Wir machen uns sozusagen keine Gedanken mehr,

was man dort hören kann.

[Es ist nicht mehr die Frage der Ästhetik]

John Cages künstlerische Arbeit konzentriert sich auf eine abgründige Paradoxie:

Auf die Organisation

des nicht Organisierbaren

8 °45'(40'40)

Text auf der Zuspielung:

Die Steuerung darf sich nur an einem einzigen Punkt befinden

und muß so angebracht sein,

daß sie auf alles, was geschieht, keine Wirkung ausübt:

[Eine Technik mit dem Resultat keiner Technik, usw.]

9 °.Fontana Mix (Anfang)

aus Sendung Stockhausen 1964:

Kennen Sie Musik, die man nur am Lautsprecher hören kann?

Nr. 4 (s. Katalog Cages Datenbank WDR)

anschließend O-Ton Stockhausen:

Cage benutzte als Ausgangmaterial Tonbandaufnahmen von Sprache und Gesang, von Wasserfontänen, Tierlauten und vielem anderen.

FONTANA MIX ist ein Sammelname für die vielen verschiedenen Klangwelten:

Eine Madame Fontana gab ihre Stimme,

die Fontänen von Venedig gaben ihr Rauschen,

und so weiter.

Dann verabeitete Cage diese Klangmaterial mit allen möglichen Transformations-, Deformations- und Transpositions-Apparaturen, benutzte Techniken der Tonbandcollage und erreichte endlich ein eigenartig abstraktes Klanggebilde, durch das die konkreten Klangereignisse ständig hindurchzuschwimmen schienen, ohne daß man sie richitg erkennen kann.

Karlheinz Stockhausen hat 1964 in einer Rundfunksendung beschrieben, wie John Cage in seinem 1959 enstandenen Tonbandstück "Fontana Mix" unterschiedlichste Klangmaterialien auswählt, zusammenstellt und verarbeitet zu einer Musik im Niemandsland zwischen abstrakten und konkreten Klängen. Diese Musik artikuliert sich strukturell und semantisch offen und vieldeutig:

Bekanntes erscheint in unbekannten Konstellationen, Montagen und Mischungen. Offen bleibt nicht nur die Zusammenstellung der Klänge, sondern auch das Klangbild insgesamt:

Schon die einzelnen Klangstrukturen des Stückes lassen dieses Erscheinungsbild der bunten Vieldeutigkeit erkennen.

9a ° evtl. von Verlag Peters anfordern: Fontana Mix, Einzelspuren, notfalls nur jeweils 1-2 Min.

vom Anfang

Noch deutlicher wird die von Cage gewünschte Vielgestaltigkeit beim Vergleich verschiedener Aufführungen: Cage hat es zugelassen, daß die Wiedergabe seiner Komposition kombiniert wurde mit live interpretierter Musik - mit seinem nach ähnlichen Prinzipien komponierten Gesangsstück "Aria".

10 °Aria mit Fontana Mix WDR Fassung 1

"Aria" und "Fontana Mix", zwei Kompositionen aus dem Jahre 1958, sind vielgestaltig - nicht nur in ihrer Kombinierbarkeit, sondern auch in sich selbst.

Beide Stücke hat Cage so notiert, daß ein Realisator oder Interpret wichtige Einzelheiten der klanglichen Realisation selbst festlegen muß und dabei zu unterschiedlichen Lösungen kommen kann.

11 °Aria mit Fontana Mix WDR 2. Fassung

Ein variable interpretierbares Gesangsstück und ein variabel realisierbares Tonbandstück können sich in verschiedenen Erscheinungsformen präsentieren - sei es als zwei selbständige Kompositionen, sei es in simultaner Aufführung.

Auffällig ist, daß selbst die Tonbandmusik nicht eindeutig fixiert ist (und daß sie sich schon deswegen grundsätzlich unterscheidet von den meisten technisch produzierten Musikstücken, die seit den frühen fünfziger Jahren entstanden sind).

Die Tonbandproduktion, die Cage selbst im Jahre 1958 in Mailand realisierte, ist nur eine von zahlreichen möglichen Versionen. Cage geht in der Offenheit seiner kompositorischen Konzeption so weit, daß die Partitur diese Stückes nicht einmal die Produktion im Studio vorschreibt, Jede denkbare Tonband-Produktion des Stückes ist nur ein Sonderfall - der Spezialfall der Realisation einer Partitur, die nach den Anweisungen des Komponisten auch mit ganz anderen Mitteln realisiert werden könnte.

In einer Notiz der Komponisten heißt es:

Zitator Cage (Kostelanetz Int S. 58):

Die Verwendbarkeit diese Materials ist nicht beschränkt auf Tonbandmusik; vielmehr kann es auch in freier Weise für instrumentale, vokale und theatralische Zwecke verwendet werden.

Den vielfältigen Aufführungsmöglichkeiten entspricht eine vieldeutige Notationsweise:

Es gibt keinen fixierten Notentext, sondern Materialien, aus denen sich der Interpret oder Realisator seinen Notentext überhaupt erst zusammenstellen muß.

In diesem Sinne hat Cage das Notationsmaterial seiner Musik beschrieben - nicht als fixierten Text, sondern als variabel nutzbares Werkzeug, mit dessen Hilfe eine textartige Vorlage hergestellt werden kann.

Zitator Cage

Fonatan Mix (1958):

Stimmen, die nach Maßgabe der Partitur präpariert werden müssen für die Produktion einer beliebigen Anzahl von Tonbandspuren (oder für eine beliebige Anzahl von Spielern, für beliebige und in beliebiger Anzahl zusammengestellte Instrumente):

Dies ist eine Komposition, die in Hinblick auf ihre Aufführung unbestimmt ist.

Der Interpret oder Realisator des Stückes arbeitet gleichsam mit Bausteinen einer Partitur, wobei er beispielsweise auf Folien fixierte Folien mit Punkten oder unterschiedlichen Linien miteinander oder mit graphischen Maßleisten in Verbindung zu bringen hat. Aus diesen Operationen soll der Interpret oder Realisator dann nach eigenem Ermessen weitere Entscheidungen für seine Arbeit ableiten: Zum Beispiel im Falle der Studioproduktion die Auswahl der Klangquellen, Techniken der Klangveränderung (z.B. verschiedene Bandgeschwindigkeiten in Vorwärts- oder Rückwärtswiedergabe , Veränderungen der Amplitude, der Frequenz, der Obertonstruktur), die Verwendung von Bandschleifen und bestimmten Arten des Bandschnittes. So können, abgesehen von vielfältigen Möglichkeiten der live-Aufführung, auch durchaus unterschiedliche Möglichkeiten der Tonbandrealisation sich ergeben. John Cage hat unmißverständlich deutlich gemacht, daß auch seine eigene Realisation keineswegs als Muster-Version angesehen werden soll, sondern allenfalls als eine unter vielen möglichen Zusammenstellungen variabel kombinierbarer Klangmaterialien. Allerdings sind die Klangmaterialien so unverwechselbar charakteristisch, daß sie auch in unterschiedlichen Konstellationen relativ leicht wiederzuerkennen sind - auch dann, wenn eine Version mit anderen Klangmaterialien kombinierbar ist.

12 ° Indeterminacy (Anfang)

Überlagerung Anekdote Fontana Mix

0' Leeres Zimmer

1' Mönche und Frau

2' Musikautomat

3' Wolff-Verkehrsgeräusche

Am 9. Oktober 1958 hielt John Cage in Brüssel eien dreißigminütigen Vortrag , der aus dreißig Geschichten bestand.

John Cage folgte hier einer Anregung seines engen Freundes, des Pianisten David Tudor: Er solle doch einmal einen Vortrag halten, der ausschließlich aus Geschichten bestünde.

Kurios war allerdings, daß diese Sammlung hintersinniger Anekdoten unter einem dezidiert seriösen Titel annonciert wurde, der später auch in einer erweiterten Schallplattenfassung beibehalten wurde

(evtl. Zitator:)

Indeterminancy, New aspect of form in instrumental and electronic music

Als Cage diesen Vortrag zum ersten Mal in Brüssel hielt, erzählte er die dreißig Geschichten ohne musikalischen Begleitung; anschließend spielte er mit David Tudor an zwei Klavieren. - 1959, anläßlich einer Einladung zum Columbian Teachers Colege; erweiterte Cage seine Anekdotensammlung um weitere 60 Geschichten auf die Gesamtlänge von 90 Minuten. Diesmal wählte er eine andere Präsentationsforn, nämlich mit musikalischer Begleitung. Er bat seinen Freund David Tudor, diese musikalische Begleitung zu übernehmen. Tudor tat dies. Er verwendete dabei Material, das Cage ursprünglich für sein 1957-1958 geschriebenes "Concert for Piano and Orchestra" bestimmt hatte. Dabei kamen, in der Funktion von Hilfsinstrumenten, auch mehrere Radios zum Einsatz, die Tudor als Geräuschquellen einsetzte. So konnte sich in der Verbindung von Rezitation und musikalischer Begleitung ein Miteinander von Sprache, Geräusch und Musik ergeben, wie es als konstitutiv vorausgesetzt wird für die Bereiche des Hörspiels (vor allem des Neuen Hörspiels) und der Akustischen Kunst. Kurz nach dem Termin des Vortrags ergab sich die Gelegenheit einer Schallplatten-Produktion. Für diesen Anlaß änderte David Tudor die musikalische Begleitung: Anstelle der Radios verwendete er Spuren der Tonbandkomposition "Fontana Mix" - einer Produktion also, die in der Vielfalt ihrer Klänge und Klangtransformtionen selbst schon Akustische Kunst ist, so daß sich in ihrer Überlagerung mit anderen Klangmaterialien und mit einem Sprechtext dann Akustische Kunst in zweiter Potenz ergeben kann.

13 ° Indeterminacy z.B. 16'-20' Klavierkonzert - Musik und Leben - Ost und West - TV Köln, Music Walk

Die Schallplatten-Veröffentlichung "Indeterminacy" hat einiges dazu beigetragen, daß Cage bekannt wurde auch über den relativ kleinen Kreis der Besucher von Avantgardekonzerten hinaus.

Im Begleittext zu diesen Schallplatten hat Cage geschrieben, daß nicht nur die Begleitungen David Tudors, sondern auch seine eigenen Sprechtexte musikalisch konzipiert sind. Dies ergibt sich vor allem aus der zeitlichen Disposition der Text-Materialien: Da jede der ausgewählten Geschichten genau eine Minute dauern soll, beschloß Cage, beim Lesen kurzer Geschichten, lange Zwischenpausen einzufügen - was den Tonmeister bei der Schallplattenproduktion zunächst in höchstes Erstaunen versetzte; andererseits mußte Cage längere Geschichten sehr schnell lesen. So ergaben sich interessante Facetten einer in Ansätzen musikalisch stilisierten Rezitation.

14 °Indeterminacy

6' Zerstörte Platten (extrem schnell) und 7' Naive Geschichten (extrem langsam)

Karlheinz Stockhausen sorgte dafür, daß die ersten dreißig Geschichten schon 1959 publiziert wurden im 5. Band des Aperiodikums " Die Reihe", der damals, mit Stockhausen als Mitarbeiter, von Herbert Eimert herausgegeben wurde. In diesem Band erschien nicht nur der englische Originaltext, sondern auch eine deutsche Übertragung von Hans G Helms, die der eigenartigen Zeitstruktur des Anekdoten-Reigens auch in einer originellen Typographie Rechnung trug - und dies einige Zeit, bevor auch Cage selbst seine Texte in unkonventioneller Typographie zu publizieren begann. Hans G Helms hat so maßgeblich dazu beigetragen, für die Kunst von John Cage Verständnis zu wecken auch im Kontext der experimentellen Literatur. Was Helms begann, hat 10 Jahre später Ernst Jandl weitergeführt, als er, unter editorischer Verantwortung von Hermann Heißenbüttel, ausgewählte Texte von Cage in deutscher Übertragung herausbrachte und außerdem auch für einen dieser Texte als Sprecher auftrat: in einer Produktion der Norddeutschen Rundfunks, bei der Heinz von Cramer Regie führte.

15 °45'Jandl

5'30

und /oder

6'4 -6'7 Eine Technik im Zustand geistiger Leere

Die Position von John Cage im Bereich der Akustischen Kunst wird nicht zuletzt auch durch das intensive Interesse bestimmt, das exponierte Autoren und Experten der experimentellen Literatur seiner Arbeit entgegenbrachten - zum Beispiel Hans G Helms und Ernst Jandl, die ihn übersetzten, Ernst Jandl und (einige Zeit später) Gerhard Rühm, die einen seiner bekanntesten Texte rezitierten: "45' für einen Sprecher".

Das Interesse dieser Literaten an John Cage ist umso bemerkenswerter, als Cage seinen Weg in die experimentelle Literatur nicht unter dem Einfluß von Schriftstellern gemacht hat, sondern als Komsequenz seiner eigenen musikalischen Entwicklung.

Cage sagt dazu:

Zitator Cage (Vögel dt. S. 56)

Beim Schreiben meiner literarischen Texte verwende ich die gleichen Kompositionsmittel wie in meiner Musik. Deshalb gibt es keine großen Verbindungen zwischen den Schriftstellern und mir.

Tatsächlich habe ich mit den Malern Rauschenberg, Jasper Johns und später Duchamp gearbeitet, aber nie mit Dichtern...

Später, in einer nachträglich in das Interview eingefügten Zusatzbemerkung, hat Cage seine Zurückhaltung gegenüber der experimentellen Literatur dann doch noch ein wenig eingeschränkt.

Zitator Cage (Vögel, dt. S. 56)

Ich hege eine wahre Bewunderung für die Arbeiten von Jackson Mc Low und Clark Coolidge, wie alle Dichter, die versuchen, die Sprache von der Syntax zu befreien.

Die Frage stellt sich, ob die Arbeit von John Cage möglicherweise als Akustische Kunst aus dem Geiste der Musik charakterisiert werden kann. Cage selbst hat diese Frage schon frühzeitig beantwortet - in seiner um 1949 entstandenen Vorlesung "Lecture on Nothing".

Z 16: Lecture on Nothing (Uitti)

This is a composed talk

for I am

making it

..

. ... just as I make

... a piece of

music.

Zitatensprecher Cage:

Dies ist ein komponierter Vortrag,

denn ich

mache ihn

...

gerade ebenso wie

ein Stück

Musik

Die Vorstellung, einen Sprechtext wie ein Musikstück zu gestalten, geht davon aus, daß die gesprochene Sprache ebenso wie die Musik sich als "klingende Zeit" definieren läßt - daß also die Strukturierung von Zeit sowohl in der experimentellen Literatur als auch in der experimentellen Musik eine wichtige Rolle spielen kann. Deswegen hebt Cage in seinem Vortrag der zeitlichen Gliederung deutlich hervor:

Z 17 Lecture on Nothing Uitti

This space of time

...

is organized

...

...

We need not fear these

silences, -

we may love them

...

...

...

...

...

Zitatensprecher Cage:

Dieses Stück Zeit

...

ist gegliedert

...

...

Wir brauchen nicht die

Stille zu fürchten, -

wir könnten sie lieben.

Auffällig ist, daß Cage, wenn er von der Zeitorganisation spricht, offensichtlich nicht nur rhythmisierte Sprache ins Spiel bringt, sondern auch Pausen. Er spricht von strukturell gegliederter Zeit, und dabei werden die sein Sprechen unterbrechenden Pausen immer länger. Dies läßt sich in der Textvorlage deutlich erkennen, weil diese genau in Zeilen und Spalten eingeteilt ist, so daß gleich lange Abschnitte deutlich zu erkennen sind (bald für Klänge, bald für Pausen). In seinem Textausschnitt entsteht nach dem letzten Halbsatz eine besonders lange Pause. Diese ist so lang, daß die vier Schlußworte mit anschließender Pause ebenso lange dauern wie der relativ wortreiche vorausgehende Satz. So entsteht eine in Klang und Stille ausgewogene Struktur, wie sie sich in den späten vierziger Jahren auch in vielen Musikstücken von Cage findet - zum Beispiel in der "Music for Marcel Duchamp", einer urspränglich für eine Filmszene bestimmten Komposition für präpariertes Klavier aus dem Jahre 1949.

Z 18: Music for Marcel Ducham. Klang und Stille. Anfang oder evtl. Schluß

In seinem Vortrag konfrontiert Cage Klang und Stille in genau abgemessenen Zeitverhältnissen. Um die Aufmerksamkeit der Hörer auf diese Zeitstruktur zu lenken, schreibt er einen Text, der sich von inhaltlichen Aussagen möglichst weit entfernt hält. Die Abstraktion vom vordergründig Inhaltlichen ist für Cage das entscheidende Kriterium für Poesie.

Z 19: Lecture on Nothing

I have nothing to say

and I am

saying it

...

...

and that is

poetry

as

I need it

...

...

...

...

...

Zitator Cage:

Ich habe nichts zu sagen

und ich

sage es

...

...

und das ist

Poesie

...

wie

ich sie brauche

...

...

...

...

Der erste Teil des Vortrags beschreibt und exemplifiziert, wie im Wechsel von Klang und Stille sich Zusammenhänge und Form bilden können. Im zweiten Teil ist demgegenüber von der zeitlichen Gliederung die Rede, von der Struktur.

Z 20: Lecture on Nothing:

That music is

simple to make

comes from one´s

willingness to ac-

cept the

limitations of structure.

structure is

simple be-

cause it can be

brought out,

figured out,

measured.

Zitator Cage:

Daß Musik

einfach zu machen ist,

beruht auf

der Bereitschaft, die

Beschränkungen durch

die Struktur

zu akzeptieren.

Struktur ist

einfach

weil sie er-

dacht werden kann,

berechnet,

gemessen.

Im Zentrum des 2. Teil tritt der Aspekt der Struktur so stark in den Vordergrund, daß auch der Textinhalt ihm völlig untergeordnet wird: Der Text wird nach einiger Zeit reduziert auf die Angabe der Zeitstruktur und auf lange Zwischenpausen. Die Gliederung, um die es hier geht, hat Cage auch im Vorwort seiner Vorlesung mitgeteilt.

Zitator Cage:

Es gibt achtundvierzig Einheiten, jede zu achtundvierzig Takten.

Das Ganze ist in fünf Teile im Verhältnis 7, 6, 14, 14, 7 gegliedert.

Die achtundvierzig Takte jeder Einheit sind ebenfalls so gegliedert.

Die Gliederung im Verhältnis 7-6-14-14-7, d. h. mit den zwei längsten Einheiten in der Mitte, ist deutlich zu hören, bei den Ansagen der Gliederungspunkte und bei daran anschließenden, unterschiedlich langen Pausen.

Z 21: Lecture on Nothing, aus Teil II

Now begins the thirt unit of the second part...

...

Now the fifth and

last part

...

...

...

...

...

Wenn im Zentrum dieses zweiten, der Struktur gewidmeten Teiles die Zeitstruktur eines seiner sechs Abschnitte vorgeführt wird, dann ist dies zugleich die Miniatur einer Gliederung, die im größeren Zusammenhang die Gesamtform des sprechstückes bestimmt: Es gibt 5 Teile, und hierbei sind die mittleren Teile (3 und 4) am umfangreichsten und enthalten die meisten Abschnitte, nämlich je 14. Die übrigen, an Anfang und Ende stehenden Teile sind kürzer; sie gliedern sich in 6 oder 7 Abschnitte.

Der Beginn des dritten Teiles wird im Vortrag ausdrücklich angesagt. Dies ist eine Angabe über die Struktur, von der vorher im zweiten Teil die Rede war. Insofern gehört die Ansage eigentlich dorthin, aber dann würde die den Gliederungspunkt an der falschen Stelle markieren.- Im dritten Teil soll es eigentlich um etwas anderes gehen als die Struktur, nämlich um das Material. So schwankt die Aussage hin und her zwischen Struktur und Material, und der Vortragstext nähert sich dem leeren Gerede - er wird also zur prägnanten Darstellung des Themas dieser "Vorlesung über Nichts."

Zitator Cage:

Allerdings

da hätte ich

noch mehr über

Struktur zu sagen

...

vor allem

dies:

wir stehen

jetzt am An-

fang des

dritten Teils

und dieser Teil

ist nicht der Teil der

der Struktur gewidmet ist.

Es ist der Teil

über das Material.

Aber noch rede ich

über Struktur.

Daraus muß

ersichtlich sein

daß es auf Struktur

nicht an-

kommt und

wie Sie sehen

auf Form ebenfalls nicht.

Deutlich fangen wir an

nirgendwo hinzugelangen.

Im dritten Teil erzählt Cage eine kleine Anekdote, die insgeheim auf seine eigene Musik verweist..

Zitator Cage:

Un-

längst sagte

eine Schülerin, die

versucht hatte,

eine Melodie aus nur drei Tönen zu komponieren:

"Ich

fühlte mich eingeengt."

...

...

...

...

...

...

Hätte sie sich mit

den drei Tönen

befaßt -

ihrem Material - sie

hätte sich nicht ein-

geengt gefühlt.

Diese Geschichte ist vor allem deswegen von Interesse, weil Cage selbst eine Melodie aus 3 Tönen komponiert hat. 1972 komponierte er ein Lied mit Klavierbegleitung, das in seinen reduzierten Material-Konstellationen sich dem "Nichts" nähert: Die Partie der Singstime beschränkt sich auf nur 3 Töne, die Interpret in eine ihm genehme Tonlage verlegen darf. In der Partie des Klaviers gibt es keinen einzigen Ton, sondern ausschließlich auf dem Holz des Geräusches gespielte Geräusche.

Der Text stammt aus einem Buch, das später, seit den späten siebziger Jahren, für die Arbeit von Cage zentrale Bedeutung gewinnen sollte: "Finnegans Wake" von James Joyce. Cage hat betont, daß die perkussive Klavierbegleitung "wie das Geräusch fallender Blätter" klingen soll und daß die Beziehung zwischen Text und Musik für diese Komposition von zentraler Bedeutung ist:

Zitator Cage:

Alle Elemente der melodischen Linie und ihrer perkussiven Begleitung

erwachsen aus Improvisationen, die der Text vermittelt.

evtl. Zitator (u. U. anderer Sprecher)

Night

by silentsailing night

Isobel

wildwood´s eye and primarose hai,

quietly;

all the woods so wild,

in mauves of moss and daphnedews;

how all so still seh lay,

neath of the whitethorn,

child of tree,

like some lost happy leaf,

like blowing flower stilled,

as fain wohl she anon,

for soon again ´twill be,

win me,

woo me,

wed me,

ah weary me!

deeply,

now even calm lay sleeping;

Night, Isobel,

sister Isobel,

Saintette Isobel,

Madame Isa

Veuve la Belle.

Z 22: The wonderful widow of eighteen springs

Im Zentrum dieses Liedes stehen drei Wörter, auf die der Komponist nach über 30 Jahren nochmals zurückgekommen ist:

"child of tree"

Z 23 (evtl.): aus 22 Ausschnitt mit "child of tree"

Auf diese Worte hat sich John Cage bezogen, als er 1975 Musik zu schreiben begann, in der Pflanzenmaterialien als Klangerzeuger eingesetzt werden. Zwei Stücke - nach "child of tree" im folgenden Jahr auch ein weiteres, mit denselben Materialien arbeitendes unter dem Titel "Branches".

Z 24:Branches (aus Sounday)

"Child of Tree" ist nicht das einzige spätere Werk von Cage, das auf "The wonderfol widow of eighteen springs" Bezug nimmt. Es gibt mehrere spätere Werke, die auch musikalisch offen an dieses Stück anknüpfen, z. B. im 1970 vollendeten Zyklus "Song books".

Das lyrisch sanfte, koloristisch aparte frühe Klavierlied "The wonderful widow of eighteen springs" ergänzte Cage fast 40 Jahre später um ein expressiv heftiges Gegenstück, dessen Tonvorrat in der Singstimme noch stärker reduziert ist: Auf einen einzigen Ton in exponiert hoher Lage. Das Stück, das im Anschluß an sein älteres lyrisches Gegenstück aufgeführt werden soll, verwendet ebenfalls einen Text von James Joyce. Der Titel des Liedes: Nowth upon Nacht.

Z 25: Nowth upon Nacht

Musik im Gleichgewicht von Klang und Stille - Musik mit reduziertem Tonvorrat - Musik mit Geräuschen: Unter verschiedenen Aspekten zeigen sich bei John Cage Anzeichen einer sehr eigenwilligen und profilierten kompositorischen Entwicklung, die dann einige Jahre später bilanziert werden sollte in der "Lecture on Nothing".

Wenn Cage im dritten Teil seiner Vorlesung das Thema "Material" behandelt, dann befaßt er sich nicht nur mit Tönen und Intervallen, sondern - nachdrücklicher noch - auch mit Geräuschen, für deren kompositorische Aufwertung er sich mit Nachdruck einsetzt.

Zitator Cage:

Ich verwendete Geräusche.

...

Sie waren nicht in-

tellektukalisiert; das

Ohr konnte sie

unmittelbar hören und

mußte ihretwegen

keinerlei Abstraktionen

durchlaufen

...

Ich fand, daß ich

Geräusche

lieber noch als

Intervalle mochte.

Ich mochte Geräusche

ebenso gern, wie ich

Einzeltöne gemocht hatte.

Die Anregung, mit Geräuschen zu arbeiten, bekam Cage 1935 von einem Filmemacher: Oskar Fischinger. Über diese Begegnung hat Cage in einer autobiographischen Skizze berichtet.

Zitator Cage (Zimmermann/Schädler, S. 23

Ich wurde Assistent des Filmemachers Fischinger,

um mich darauf vorzubereiten,

die Musik zu einem seiner Filme zu schreiben.

Eines Tages meinte er beiläufig:

"Alles in der Welt hat seinen eigenen Geist,

der befreit werden kann, indem man ihn in Vibration versetzt."

Ich begann, auf allem herumzuwischen und zu trommeln,

hörte genau hin

und schrieb dann Musik für Schlagzeug, die ich mit Freunden spielte...

Ich legte die Instrumente nicht fest

und benutzte unsere Proben dazu,

gefundene oder geliehene Instrumente auszuprobieren.

Viel konnte ich nicht leihen, weil ich wenig Geld hatte.

...

Da wir alle in einem großen Haus wohnten,

wure meine Schlagzeugstücke abends von den Buchbindern gespielt."

Z 26: Quartet Anfang

Die kompositorische Faktur seiner frühen Schlagzeugstücke beschreibt Cage

als eigenartige Kombination von Immobilität und konstruktiver Strenge.

Zitator Cage (Z/S 23):

Diese Kompositionen bestanden aus kurzen Motiven,

entweder als Klang oder als Stille derselben Dauer,

Motive, die kreisförmig angeordnet waren,

so daß man vorwärts oder rückwärts fortschreiten konnte.

Z 27 Amores, Trio (= Trio, Waltz)

In seinen frühen Schlagzeugstücken - beginnend 1935 mit "Quartet", sich fortsetzend 1936 mit "Trio" - arbeitet Cage mit häufig wiederholten, dabei nur wenig veränderten Motiven. In der Konzentration auf reinen Rhythmus und Geräusch erfüllen sich Tendenzen, die sich zuvor auch schon in Stücken für Tonhöheninstrumente angekündigt hatten, beispielsweise in zwei 1935 entstandenen Klavierstücken, deren erstes ruhig und motivisch prägnant sich präsentiert (während im zweiten raschere Bewegungeformen dominieren und deswegen die Modellung plastischer Motive eher in den Hintergrund tritt.

Z 28: Two Pieces for Piano 1935 (rev. 1974). Nr. 1 Anfang (evtl. Zus.schnitt 1, 2 Anfänge

Die 1935 komponierten Klavierstücke entstanden zu einer Zeit, als Cage in Los Angeles bei Arnold Schönberg studierte. In ihren chromatischen Tongruppierungen stehen sie der Zwölftonmusik Schönbergs nahe. In ihren weitgehend statischen Konstellationen aber unterscheiden sie sich deutlich von dynamischen Akkord- und Motivgruppen, wie man sie in Schönbergs Zwölftonkompositionen finden kann.

Z 29: Zusammenschnitt: Anfänge Schönberg op. 33 a und b

Immer wieder hat Cage darauf hingewiesen, was ihn in Schönbergs Untericht am stärksten beeindruckt hat: Sein strukturelles Denken, bei dem er ausging von formbildenden Tendenzen der Harmonie.

Zitator Cage (ZS S. 24)

Für Schönberg war Harmonie nicht einfach Kolorit: Sie war Struktur.

Cage war schon Schönbergs Ideen fasziniert. Allerdings hatte er seine Schwierigkeiten damit, daß Schönberg sich in seinem Unterricht so stark auf traditionelle Satzlehre, auf Harmonielehre und Kontrapunkt konzentrierte, während sein junger amerikanischer Schüler sich sehr viel mehr für kompositorische Möglichkeiten jenseits von Tonalität und Tonkunst interessierte. So kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen Lehrer und Schüler.

Zitator Cage (Kost Int 14)

Ich studierte Kontrapunkt bei ihm zu Hause und besuchte alle seine Kurse...

Ich hatte auch einen Harmonielehrekurs bei ihm belegt, war jedoch dafür recht unbegabt.

Ich versuchte, Schönberg einige Male zu erklären, daß ich kein Gefühl für Harmonie habe.

Ohne ein Gefühl für Harmonie, so sagte er, würde ich immer auf ein Hindernis, eine Mauer stoßen,

die ich niemals durchbrechen werde. Ich erwiderte ihm, daß ich dann wohl mein Leben damit verbringen müßte, mit meinem Kopf gegen diese Mauer zu rennen, und vielleicht habe ich seitdem nichts anderes getan.

Fast 20 Jahre später war John Cage sich seines eigenen Weges so sicher, daß er den Vorhalten seines Lehrers nachträglich mit freundlicher Ironie begegnen konnte - in seinem 1954 geschriebenen Vortrag "45´ für seinen Sprecher".

Z 30: nach 16´10 - nach 17´

auf der Zuspielung:

Kontrapunkt ist dieselbe Geschichte wie Harmonie, nur daß er tückischer ist.

Ich habe 1938 bemerkt, daß ein paar junge Leute sich dafür noch interessierten.

"Größerer Ernst ist nötig, wenn man darangeht, die wirklich wichtigen Probleme zu lösen."

Mein Standpunkt ist:

Verschiedene Techniken können zusammen auftreten, alle zur gleichen Zeit.

Daher hat dieses Werk, mit dem im Zusammenhang ich das Wort Fortschritt verwende,

keine Organisationstechnik, die es hält.

GIBT MAN DEN KONTRAPUNKT AUF,

ERHÄLT MAN ÜBERLAGERUNG

UND NATÜRLICH

KOMMT EIN WENIG KONTRAPUNKT VON SELBST

MIT HINEIN.

Wie, weiß ich nicht.

Das beste, was man mit dem Kontrapunkt anfangen kann,

ist, was Schönberg tat: ihn lehren.

Z31: 2nd Construction

Es war nicht von vorneherein selbstverständlich, daß John Cage sich von den traditionellen Denkansätzen seines Lehrers definitiv trennen würde. Noch 1941, vier Jahre nach dem Ende seiner Lehrzeit, komponierte e r ein Schlagzeugstück, das nach seinen eigenen Worten stark von kontrapunktischem Denken geprägt ist: Die "2nd Construction". Cage hat den satztechnisch traditionellen Ansatz dieses Stückes später, im Rückblick, erkannt und kritisiert.

Zitator Cage (Kost Int S. 59)

Ich glaube, "Second Construction" ist ein schlechtes Stück.

Ich war mir nicht bewußt, daß es schlecht ist, als ich es schrieb. Ich fand es seinerzeit sehr interessant. Aber es ist mit Bildung und Theorie befrachtet. Tatsächlich h andelt es sich um eine Fuge, die etwas ungewöhnlich strukturiert ist. Ich glaube, Fugen sind heute uninteressant.

Der junge Cage, der sich gelegentlich noch mit Spuren kontrapunktischen Denkens auseinanderzusetzen hatte, ist dabei immerhin auch auf neue Klangmittel gestoßen - im Umgang nicht nur mit Schlaginstrumenten, sondern beispielsweise auch mit Sprechstimmen.

Z 33: Living Room Music , 2. Satz Story Anfang ausblenden auf 1. Flüstereinsatz)

Zitator Cage

Once upon a time

the world was round

and you could go on it around and around

Es war einmal vor langer Zeit,

da war die Welt rund,

und man konnte auf ihr immer rundherum gehen.

Diesen Text von Gertrude Stein hat John Cage in Musik gesetzt. Er verwendet ihn in einer Komposition für vier Sprechstimmen, die den Titel "Story" führt. Der Lesetext verwandelt sich in einen Sprechtext. Einzelne Abschnitte werden im musikalisch notierten Rhythmus gesprochen, manchmal sind es auch nur einzelne Wörter - oder auch Nonsense-Silben, in denen zuvor gehörte Sprechrhythmen weitergeführt werden, an einigen Stellen ist zu hören, daß solche Rhythmen auch gepriffen werden. Im Ensemble der vier Ausführenden überlagern sich nicht nur verschiedene Wörter, sondern auch verschiedene Stimmäußerungen: Sprechen mit halblauter Stimme - Flüstern - einzelne Zischlaute.

Man hört, daßder kurze Text immer wieder anders gelsen wird, so daß sich daraus ein größeres Sprechstück entwickeln kann - die Verwandlung des (immer wieder neu beleuchteten) Textes in klingende Sprache.

Z 34: Story Anfang, Schnitt vor Tutti "The world was round"

Der Weg vom Text zur klingenden Sprache - ist er zugleich ein Weg von der Literatur zur Musik - oder auch von der sprachgebundenen zur Akustischen Kunst? Was verändert sich, wenn John Cage aus der sprachlichen Textvorlage ein in traditionneller Notenschrift fixiertes Sprechquartett entwickelt? Wie unterscheidet sich sein Sprechstück von einer traditionellen Gedicht-Vertonung, zum Beispiel von einem Chorstück oder von einem Kunstlied?

Ein Sprecher beginnt mit halblauter Stimme. Er beginnt den ersten Textabschnitt.

Z 35: Soloeinsatz Once upon a time

Immer wieder werden die wenigen Wörter gesprochen - zunächst in der ursprünglichen Abfolge, später auch verkürzt oder verlängert (mit Auslassungen, Erweiterungen, Umstellungen). Der Textabschnitt und seine Abwandlungen verwandeln sich in ein rhythmisches Motiv mit seinen Abwandlungen und Wiederholungen: Sprache verwandelt sich in Musik.

Z 36 Story T. 1 - 5 Anf. (Einsatz Sprecher 4: time)

Eine erste Veränderunge kündigt sich, wenn ein anderer Sprecher einsetzt mit einem einzigen, lang ausgehaltenen Textwort, das etwas lauter gesprochen wird als das Bisherige: Zu hören ist das Wort "time".

Z 37: T. 4-5 Anfang 2. Einsatz once upon a time, ausblenden auf time

Nach diesem Textwort ändert sich das Stück: Ein dritter Sprecher setzt ein - extrem leise, flüsternd. Er greift den Rhythmus auf, mit dem das Stück zuvor begonnen hat - jetzt aber ohne Text, reduziert auf eine einzige Nonsense -Textsilbe: Der ursprünglich textgebundene Rhythmus ist so zum textfreinen, rein musikalischen Rhythmus geworden - wie der zweite Einsatz eines Fugenthemas. Nur der Sßprecher, der das Stück begonnen hat, bleibt weiterhin dem Text treu: Er führt seine textierten Rhythmen leicht abgewandelt weiter - gleichsam als Kontrapunkt zum Thema, zum geflüsterten Rhythmus.

Z 38: 2. Themeneinsatz auf titi, bis 2mal once (evtl. schon vorher anfangen ab once upon a time direkt davor, ausblenden vor world)

Schon in den ersten Takten des Stückes w ird deutlich, auf welchen Wegen sich hier Sprache und Literatur in Musik und Akustische Kunst verwandeln: Einerseits durch rhythmisch gestaltetes Sprechen, andererseits durch die Herauslösung einzelner Wörter. Ein Sprecher spricht langsam das letzte Textwort: Time. Wenig später setzt ein anderer Sprecher ein, mit dem (rascher gesprochenen) ersten Textwort "once". Kurz darauf kommt ein drittes, mehrfach wiederholtes Textwort hinzu, das in mittlerer Geschwindigkeit gesprochen wird: "world". Dieses Wort ist die erste Ankündigung eines neuen Textabschnittes, der später vollständig zu hören sein wird: the world was round. -

Die klingende Sprache wird zu Beginn dieses Sprechstückes auf zwei Wegen reduziert: Zurückgeführt auf den textlosen Rhythmus - zurückgeführt auf einzelne Textwörter. Die Spracze nähert sich der Musik, um sich dann später wieder zurück zu verwandeln.

Z 39: 2. Einsatz once upon bis A 4. Takt - bis 8. Einsatz world heruntergeblendet oder evtl. bis direkt vor the world war round bzw. ausblenden aus 2. Solo and you and it, B 4. Takt

John Cage hat in seinem Sprechstück Sprache umgeschrieben. Seine musikalische Notation macht es möglich, geschriebene Literatur zu konkretisieren in Rhythmus und Klang. Man hört rhythmisch bald rhythmisch gesprochene Textpassagen, bald herausgelöste einzelne Wörter, bald textfreie Rhythmen, die auf Nonsensesilben artikuliert oder gepfiffen werden. Die einzelnen, langsam gesprochenen Wörter erscheinen anfangs als Anspielungen auf zuvor Gehörtes oder gleichzeitig Erklingendes. Später kommt eine zweite Möglichkeit hinzu: Ein Wort erklingt als Vorbereitung auf einen künftigen Textabschnitt. So setzt der Text sich fort, verwandelt sich und verbindet sich mit vorher gehörten und neuen Elementen.

Z 4O: einblenden vor A world ausblenden auf 2. Pfeifeinsatz

John Cage geht es darum, einen literarischen Text zu verwandeln in eine musikalische Struktur - in vielfältig variierte rhythmische Gestalten; in Formabschnitte mit unterschiedlichen Text- und Farbkonstellationen. So entsteht textgebundenene Rhythmusmusik mit Stimmen - klingende Sprache als Akustische Kunst. Wie stark der Aspekt der Musik dabei im Vordergrund steht, zeigt sich im Gesamtzusammenhang der Komposition: Das Sprechstück "Story" ist der zweite Teil einer mehrsätzigen Komposition. In anderen Sätzen des Werkes hört man ähnliche Rhythmen - aber nicht mit Texten und Stimmen, sondern rein musikalisch: Mit Geräuschinstrumenten.

Z 41: Living Room Musik letzter Satz End

Rhythmusmusik für Stimmen - Rhythmusmusik für Geräuschinstrumente: John Cage verbindet beides unter einem originellen Titel: "Living Room Music" - "Wohnzimmermusik". Im Vorwort der Partitur heißt es:

Zitator Cage:

Beliebige Haushaltsgegenstände oder Architekturelemente können als Instrumente verwendet werden, zum Beispiel:

1. Spieler: Zeitschriften, Zeitung oder Pappe;

2. Spieler: Tisch oder andere Holzmöbel;

3. Spieler: größere Bücher;

4. Spieler: Boden, Wand, Tür oder hölzerner Fensterrahmen

(Vom ersten bis zum vierten Spieler sollte eine gewisse Abstufung von hoher zu tiefer Tonlage erreicht werden)

Die Anweisungen des Komponisten machen verständlich, daß hier eine Rhythmusmusik entsteht, in der 4 Instrumentalisten gleichsam 4 verschiedene Stimmen in verschiedenen Tonlagen spielen.

Z 42; Living Room Music 1. Satz To Begin

Die "Living Room Music" ist eine Musik der Grenzüberschreitungen: Rhythmusmusik ohne etablierte Musikinstrumente - Vokalmusik ohne Gesang. Cage löst sich nicht nur von musikalisch etablierten Klangmitteln, sondern auch von wichtigen Ordnungskategorien der traditionellen Musik, die sich als Tonkunst verstand. So überwindet er einerseits Abgrenzungen zwischen musikalischen Klängen und Geräuschen, andererseits Abgrenzungen zwischen Musik und Sprache. In seiner 194o entstandenen "Living Room Music" realisiert sich, was Cage schon drei Jahre zuvor, im Jahre 1937, in einem Manifest vorausgesagt hatte:

Zitator Cage: (Kost S. 838)

Ich glaube, daß die Verwendung von Geräuschen, um Musik zu machen,... andauern und zunehmen wird.

Eine Komposition in der Geräusche als vollwertiges Klangmaterial anerkannt sind, kann sich neue Bereiche erschließen, wie sie sonst, unter engeren ästhetischen Voraussetzungen, nur in der tradititionellen Regie von Theaterstücken und Hörspielen genutzt werden könnten. Die Emanzipation des Geräusches in der Musik kann also einen wichtigen Schritt darstellen auf ihrem Wege der Erweiterung zur Akustischen Kunst. Dies tritt in der "Living Rooem Music" deutlich zu Tage. Wichtig ist aber auch ein anderer Aspekt: Cage komponiert eine Geräuschmusik, die genau notiert ist, die aber andererseits dem Spieler wichtige Freiheiten läßt, vor allem in den instrumentalen Sätzen: Er darf sich die Instrumente selbst auswählen, indem er sich im Wohnzimmer passende Klangerzeuger zusammenstellt. Seine Zuwendung zum Geräusch verbindet sich mit einer ersten Hinwendung zu einem neuen ästhetischen Prinzip, das später in seiner Musik entscheidene Bedeutung gewinnen sollte: Zum Prinzip der Unbestimmtheit. Cage hat auf die genaue Festlegung der Instrumentation verzichtet - eine damals, 1940, vollkommen ungewöhnliche, den herrschenden Trends der kompositorischen Fixierung anscheinend diametral entgegengesetzte Entscheidung. Diese Entscheidung hat dazu geführt, daß Cage´s Notentext auf durchaus unterschiedliche Weisen klanglich realisiert werden konnte.

Z 43: To Beginn WDR (andere Aufnahme) oder evtl. Zus. schnitt 2 Aufnahmen

Die Unbestimmtheit hat in den Werken von John Cage erst nach und nach entscheidende Bedeutung gewonnen. In ersten Anzeichen läßt sich sich aber schon in seinem Frühwerk erkennen, in seinen ersten Schlagzeugkompositionen aus den dreißiger Jahren.

Cage hat später berichtet, wie er in den dreißiger Jahren seine Musik mit Freunden einstudierte:

Die Instrumentation wurde erst im Prozeß der Einstudierung genauer festgelegt.

evtl. Zitator Cage:

Ich legte die Instrumente nicht fest und benutzte unsere Proben dazu, gefundene oder geliehene Instrumente auszuprobieren. Viele konnte ich nicht leihen, weil ich wenig Geld hatte. Ich war mit Xenia Andereyevna Kashevaroff verheiratet, die bei Hazel Preis Buchbinderei lernte. Da wir alle in einem großen Haus wohnten, wurden meine Schlagzeugstücke abends von den Buchbindern gespielt.

Z 44: Quartet evtl.

Der junge Cage komponierte präzise ausnotierte Rhythmen für nicht oder nur vage festgelegte Instrumente. Die Verbindung von Präzision und Offenheit in seinen Kompositionsanweisungen ergab sich daraus, daß er neue Kompositionstechniken mit für den Musiker neuen, noch weitgehend unbekannten Klangmaterialien realisieren wollte.

Unbestimmtheit ergab sich im oeuvre von John Cage zuächst im Bereich der Klangmittel und zwar nicht nur in seit 1935 entstandener Schlagzeugmusik, sondern sogar auch in einigen noch früher entstandenen Komposition mit bestimmten Tonhöhen. Seit 1933 hatte Cage eine Technik der chromatischen Komposition entwickelt, die in ihrem Grundansatz der Zwölftontechnik Schönbergs nahestand. In dieser Technik entstanden Stücke, die sich allerdings in ihrer kompositorischen Faktur stark von Schönbergs Musik unterschieden - und zwar schon deshalb, weil Cage, anders als Schönberg, die Instrumentation zunächst nicht genau festlegte, so daß sie erst Jahre später für Aufführungszwecke nachträglich festgelegt werden mußte.

Z 45: Anfang Konzert 1958 (Inventions) und/oder evtl. comp. for 2 oder 3 voices

Der junges Cage komponierte präzise auskonstruierte Musik für unbestimmte Klangquellen. Der Konflikt zwischen kompositorischer Strenge und klanglicher Komplexität wurd ihm bewußt, als er 1935 in Los Angeles ein Kompositionsstudium bei Arnold Schönberg aufnahm.

Wenn man das eigenartige Spannungsverhältnis zwischen konstruktiver Strenge und experimenteller Offenheit verstehen will, das für Cagek´s Musikdenken von jeher typisch gewesen ist, dann sollte man sich in Erinnerung rufen, was er über die Lehrzeit bei Schönberg berichtet: Dort hat er gelernt, nicht irgendwelche angeblichen Patentlösungen zu kopieren, sondern statt dessen vielmehr die richtigen Fragen zu stellen.

Noch 1982, aus der zeitlichen Distanz fast eines halben Jahrhunderts, hat Cage seine Lehrzeit bei Schönberg in einem Vortrag erwähnt.

Z 46: composition in retrospeck

he sent us to the blackboeard. and asked to solve a problem in counterpoint even though it was a clas in harmony

to make as many counterpoints as we could after each to let him see ist

that´s correct now another

afer eight or nine solutions

not quite sure of myself there aren´t any more

that´s correct now I want you to put in words the principle that underlies all of the solution

he had always seemed to me superior to the human beings

but then my worhip of him encreased even more

Er schichte uns zur Wandtafel und stellte uns Aufgaben im Kontrapunkt,

obwohl die Vorlesung eigentlich Harmonielehre zum Gegenstand hatte.

Er ließ uns so viele Kontrapunkte machen wie wie konnten.

Dann gab er sein Urteil ab. Ja, das stimmt; jetzt zum nächsten.

Nach der achten oder neunten Lösung protestierte ich: Das sind alle.

Stimmt, sagte er.Nun der Zweck der Übung:

Erklären Sie mir das gemeinsame Prinzip der Lösungen, die wir nun haben.

Ich wußte immer schon, daß er mehr Qualitäten hatte als andere,

aber da wurde mein Respekt grenzenlos.

Die Konsequenzen, die John Cage aus der Lehrzeit bei Schönberg gezogen hat, sind durchaus unorthodox - allerdings insofern auch im Sinne seines Lehrers, der seine Schüler zur Entdeckung ihrer selbst bringen wollte.

Z 47: Composition in retrospect Forts.

I coudn´t do what he asked

perhaps now thirty years later can I think he would agree

the prinziple underlying all of the solutions acts in the question that is asked

as a composer I should give up making choices

devote myself ba asking questions

chance determined

answers ´ll open my mind to the world around

at the same time changing my music

self alteration not self expression

(Forts. Text auf Zuspielung:)

Ich konnte ihm keine Antwort geben.

Heute weiß ich die passende. Nach dreißig Jahren. Es hat lange gedauert.

Ich glaube, er würde mir zustimmen.

Ich würde sagen, das Prinzip besteht nicht zuletzt darin,

daß ich als Komponist aufhören sollte, selbstherrlich auszuwählen.

Widmen sollte man sich den Fragen, die zu stellen sind

Zufallsbestimmte Antworten öffnen meinen Geist zur Welt und verändern meine Musik

Ich-Ausdruck nein. Ich-Verwandlung

Schönberg bestärkte den jungen Cage in seinen Ansätzen, nach einer strukturell kontrollierten Musik zu suchen. Cage hat dies später zu schätzen gewußt. Trotzdem hatte er zunächst mit Schönbergs Unterricht seine Probleme: Da sich Schönberg in seinem Unterricht auf traditionelle, an Harmonielehre und Kontrapunkt orientierte Unterweisung konzentrierte, kam es, wie Cage berichtet, zu Differenzen mit seinem jungen Schüler, dem diese Disziplinen nicht lagen.

Cage hat dies später oft beschrieben.

evtl. Zitator Cage: (ZS 24)

Nach zwei Jahren war uns beiden klar, daß ich kein Gefühl für Harmonik hatte.

Für Schönberg war Harmonie nicht einfach Kolorit: Sie war Struktur.

Mit ihrer Hilfe konnten die verschiedenen Teile einer Komposition unterschieden werden.

Daher sagte er, ich würde nie fähig sein, Musik zu schreiben.

"Warum nicht?"

"Sie werden vor einer Wand stehen und nicht hindurchkönnen."

"Dann werde ich mein Leben lang mit dem Kopf gegen diese Wand rennen."

Cage sah nicht ein, daß das Studium von Harmonielehre und Kontrapunkt ihm für die universelle Geräuschkomposition nützen sollte. Schon 1937, zwei Jahre nach der ersten Begegnung mit Schönberg, erkannte er die Schwierigkeit, neue kompositorische Probleme mit alten Theorien bewältigen zu wollen.

evtl. Zitator Cage (Kost 80)

Die gegenwärtigen Methoden, Musik zu schreiben,

allen voran diejenigen, welche mit der Harmonik und ihrer Beziehung zu besonderen Stufen im Klangfeld arbeiten, werden für den Komponisten unzulänglich sein, der dem gesamten Klangfeld gegenübersteht.

Z 48: Imaginary Landscape Nr. 1

Der junge Cage suchte nach einer universellen Klangkunst der Geräusche und der elektronisch erzeugten Klänge. Die Harmonielehre - und übrigens auch der Kontrapunkt - hatten unter dieser Perspektive ausgedient. In diesem engeren Sinne konnte Cage mit dem bei Schönberg Gelernten in der Folgezeit zunächst nur wenig anfangen. In diesem Sinne hat sich Cage noch 1954 geäußert - in einem Vortrag, der später auch in Aufnahmen mit anderen Sprechern bekannt geworden ist:

Die Zeit des Kontrapunktes war für ihn vorbei. Statt dessen schien ihm die Zeit der Überlagerung gekommen, die Zeit der universellen Klangmischung.

Z 49: a) 45´für einen Sprecher

ca. 16´40: Gibt man den Kontrapunkt auf, erhält man Überlagerung,

und natürlich kommt ein wenig Kontrapunkt von selbst mit hinein.

Wie, weiß ich nicht.

b) Europeras (evtl.)

In seinem 1954 entstandenen Vortrag "45´ für einen Sprecher" macht Cage sinnfällig, wie er über Musik denkt und wie e r sich in seinem Musikdenken von älteren Komponisten unterscheidet - auch von seinem Lehrer Schönberg. In diesem Vortrag verbindet Cage seinen Text mit gleichzeitig gespielter Musik - aber nicht in harmonischer und polyphoner Koordination, sondern einfach in der Überlagerung seines Vortragstextes mit ähnlich strukturierten Musikstücken.

Z 50: evtl. vorigen Ausschnitt 45´ in anderer Aufnahme (49 a Jandl, 50 Blum oder evtl. WDR Witten)

John Cage´s Beitrag zur Akustischen Kunst ergibt sich nicht zuletzt aus seiner produktiven Kritik der traditionellen Musikthkeorie. Seine Musik konnte sich öffnen zu den Dimensionen des Geräusches und der gesprochenen Sprache, weil sie mit Harmonielehre und Kontrapunkt kaum etwas zu tun hatte. Schon eine der ältesten seiner uns erhalten gebliebenen Kompositionen ist einstimmige Musik, die sich den Strukturen der Harmonie und der Polyphonie entzieht: Die "Sonata for Clarinet" aus dem Jahre 1933.

Z 51: Sonata for Clarinet 1933, 1. Satz von Anfang

Diese ruhig-lineare, statische Musik des jungen John Cage unterscheidet sich deutlich von der Musik des (schon damals von ihm bewunderten) Zwölftonkomponisten Arnold Schönberg. Dies läßt sich deutlich zeigen im Vergleich: Ein profiliertes Klarinettensolo gibt es auch in einer Komposition Arnold Schönbergs, die 10 Jahre vor Cage´s Klarinettensonate vollendet wurde: Im 3. Satz von Schönbergs Serenade opus 24. Auch Schönberg arbeitet hier, ähnlich wie später Cage, mit Tonreihen und ihren Verwandlungen - allerdings mit einem ganz anderen Klangergebnis: Die dynamische, motivisch reich gegliederte Melodielinie bleibt nur für kurze Zeit einstimmig, nämlich bei der Vorstellung des Themas (das dann später mehrstimmig variiert wird). Während Cage die Einstimigkeit über alle drei Sätze seiner Sonate hinweg durchhält, geht Schönberg schon nach wenigen Takten zu einer komplexen Polyphonie über.

Z 52: Schönberg, Serenade op. 24, 3. Satz: Thema - 1. Variation

Zwölftonmusik im Geiste Arnold Schönbergs und seiner Schule - d. h. Zwölftonmusik als abschließende Synthese einer viele Jahrhunderte umspannenden Entwicklung der abendländischen mehrstimmigen Musik: Dies ist nicht die Perspektive von John Cage. Ihn interessiert die Zwölftonmusik in erster Linie als eine Möglichkeit, Neues zu schaffen, Alternativen zu bereits bekannten Musiktraditionen zu entwickeln. Diese eigenwillige Alternativposition zeigt sich schon in frühen Werken von Cage, selbst in Werken für Instrumente mit bestimmten Tonhöhen wie z. B. das Klavier: Schon 1935 komonpierte Cage zwei Klavierstücke in einer einfachen, aber in ihrer eigentümlichen Statik durchaus originellen Zweistimmigkeit - eines der wichtigsten frühen Dokumente seiner produktiven Kritik der Zwölftonmusik.

Z 53: 2 Pieces for Piano 1935, 1 Anfang (oder evtl. Zusammenschnitt Anfänge 1, 2)

Das 1938 entstandene Stück "Metamorphosis" exponiert Tonstrukturen, die selbst in der prozeßhaften Dynamik sich deutlich von Schönbergs Musik unterscheiden: Das Stück beginnt in provozierend einfacher Einstimmigkeit - mit einer Tongruppe, die anschließend fortwährend abgewandelt wird, indem sie, mehrfach transponiert, sich im Tonraum aufwärts bewegt und andererseits auch, mit Tönen aus anderen Oktavlagen, mehr und mehr ihren Umfang erweitert. Die Musik verdichtet sich zur Zweistimmigkeit, später auch zu blockhaft gesetzten Akkorden und danach zu akkordisch mehrstimmigen Mischformen. Es entwickelt sich ein sinnfälliger Formprozeß - allerdings in drastisch vereinfachten Tongestalten, weit entfernt von den filigranen Satzstrukturen der Schönbergschule.

Z 54: Metamorphosis Anfang: Einstimmig - zweistimmig - Akkorde - Akkorde und Melodien (Ausblenden)

Der junge Cage geht vollkommen anders mit den 12 Tönen um als sein Lehrer Schönberg. Dies läßt sich deutlich zeigen im Vergleich ihrer Klaviermusik: Wenn Schönberg mit Akkorden und Motiven arbeitet (etwa in seinen beiden zwölftönigen Klavierstücken opus 33 a und opus 33 b), dann zeigt sich in seiner Musik ein ganz anderes Erscheinungsbild als bei Cage: Man hört klar profilierte, deutlich auf- oder abwärtsstrebende Akkordfolgen oder plastische, beständig in entwickelnder Variation veränderte Motive - deutliche Kontrastmodelle zu den einfachen blockhaften Bildungen beim jungen Cage, im subtil ausgefeilten Satzbild und mit ausladenden, sich ständig verändernden und dabei im Tonraum ausbreitenden Tongestalten.

Z 55: Schönberg Zusammenschnitt op. 33 a, op. 33 b Anfänge

a aufhören vor Quartakkorden, b bis zur im Tonraum erweiterten 1. Wiederkehr des Themas

John Cage reagierte auf die Musik seines Lehrers Arnold Schönberg mit Kompositionen des produktiven Widerspruchs: Er suchte nach Klangstrukturen jenseits des chromatischen Tonsystems - nach Klangstrukturen, für die die Tonreihe als Ordnungssystem nicht mehr ausreichte. So stieß er auf die Schlagzeugmusik und - noch einen Schritt weiter gehend - auf die Musik mit technisch produzierten Klängen. Schon 1937 prognostizierte er eine musikalische Zukunft unter den Auspizien einer elektroakustischen experimentellen Musik.

Zitator Cage (Kost S. 83 f.)

Ich glaube, daß... die Verwendung von Geräuschen, um Musik zu machen,

so lange andauern und zunehmen wird, bis wir zu einer Musik gelangen,

welche mit Hilfe elektrischer Instrumente produziert wird,

die alle beliebigen hörbaren Klänge für musikalische Zwecke bereitstellen.

Die Schlagzeugmusik betrachtete Cage als ersten Schritt in diese Richtung:

Zitator Cage (Kost S. 85)

Die Schlagzeugmusik ist der zeitgenössische Übergang von einer aufs Klavier bezogenen Musik zu einer Allklangmusik der Zukunft.

Jeder Klang ist für den Komponisten von Schlagzeugmusik annehmbar;

er erforscht das akademisch verbotene "nichtmusikalische" Klangfeld, soweit dies manuell möglich ist.

Angelpunkt der Methoden zur Komposition von Schlagzeugmusik ist die rhythmische Struktur einer Komposition.

Z 56: 1st Construction in metal Anfang (Konzert 1958)

Anfang mit Donnerblechen - bis 2. Periode Anfang, mit cowbells und Ambossen

1939 komponierte John Cage ein umfangreiches Schlagzeugstück für sechs Spieler

mit einer höchst ungewöhnlichen Instrumentalbesetzung, die im Vorwort der Partitur angegeben ist - ein Schlagzeugorchester mit einigen gewöhnlichen und vielen ungewöhnlichen Instrumenten:

Zitator Cage (ZS 180):

Die verwendeten Instrumente sind

Orchesterglocken,

fünf Donnerbleche,

Klavier, gedämpft durch Metallzylinder, die von einem Assistenten das Pianisten

auf den Saiten gehandhabt werden (der Pianist streicht auch mit einem Paukenschlegel

über die Baß-Saiten)

ein 12-Gong-Gamelan,

acht Kuhglocken,

drei japanische Tempelgongs,

vier Autobremstrommeln,

acht Ambosse,

vier türkische und vier chinesische Becken,

vier gedämpfte Gongs,

Wassergong und aufgehängter Gong und Tamtam.

Für dieses reiche Arsenal an Metallinstrumenten hat Cage eine Rhytmuskonstruktion erfunden, die nicht nur die Details bestimmt, sondern auch größere Zusammenhänge. Keimhaft vorgebildet ist der gesamte Aufbau des Stückes bereits in der ersten Periode, die 16 Take umfaßt, wobei diese 16 Takte durch wechselnde Instrumente und Rhythmen nochmals unterteilt werden in vier Gruppen, deren Takanzahlen zunächst kürzer und dann wieder länger werden in folgender Gruppierung von Takten: 4-3-2-3-4.

Z 57: 1st Construction, 1. Periode

Das ganze Stück besteht aus 16 solcher Perioden (denen dann noch eine abschließende Coda folgt). In jeder Periode gliedern sich die 16 Takte in 5 Taktgruppen - und in analoger Weise sind auch in größeren Formdimensionen die 16 Perioden des Stückes in fünf Gruppen zusammengefaßt. Im Detail ist das Stück analog gegliedert wie im Gesamtzusammenhang. Man erkennt dies, wenn man die erste Detailzäsur (nach dem vierten Takt) vergleicht mit der ersten Hauptzäsur (nach der vierten Periode): Die ersten vier Takte sind ein auskomponiertes Crescendo; anschließend setzen einige Begleitinstumente aus, und die Musik wird wieder leise.

Z 58: 1st Construction, 2 erste Taktgruppen (bis Diminuendo)

Ähnlich wie die ersten beiden Taktgruppen sind auch die ersten beiden Hauptabschnitte des gesamten Stückes disponiert. In den ersten 4 Perioden verstärkt und verdichtet sich die Entwicklung. Dann kommt eine Zäsur, nach der zahlreiche Instrumente aussetzen und die Musik leiser wird.

Z 59: 1st Construction 1. Hauptabschnitt - Anf. 2. Hauptabschnitt

Die Idee einer einheitlichen Zeitstruktur ist Cage in der Auseinandersetzung mit Schönberg gekommen: In den späten dreißiger Jahren - zu einer Zeit, als er begann, mit seiner Musik Tänzer zu begleiten. In dieser Arbeit entdeckte Cage ein neues Prinzip der rhythmischen Geräuschkomposition: die mikro-makrokosmische Struktur.

Zitator Cage:

Die großen Teile einer Komposition

stehen im selben Verhältnis zueinander wie die Phrasen einer einzelnen Einheit.

...

Diese rhythmische Struktur konnte mit jeder Art von Klängen, auch Geräuschen, dargestellt werden, nicht nur durch Klang und Stille, sondern auch durch Bewegung im Tanz.

Das war meine Antwort auf Schönbergs strukturelle Harmonik.

In dieser Beschreibung wird deutlich, was Cage von Schönberg übernommen hat, was ihn andererseits aber auch von Schönberg unterscheidet: Ihm geht es um eine musikalische Zeitstruktur, die sich auch ohne Harmonie und Polyphonie darstellen läßt - allein durch Klänge und Pausen. Eine solche, durch Gegensätze zwischen Klang und Stille bestimmte Zeitstruktur paßte auch zur Gliederung des Tanzes, der sich in der Polarität von Bewegung und Ruhe beschreiben läßt. Diese Zeitstruktur funktionierte unabhängig von den Besonderheiten der verwendeten Klänge - also auch unabhängig davon, ob es sich um Klänge von Schlaginstrumenten (bzw. unkonventionellern Klangerzeugern) handelte oder um Sprachlaute. In der "Living Room Music" hat Cage beide Möglichkeiten miteinander verbunden. Seine rhythmischen Prinzipien strukturieren h ier - im Detail ebenso wie in größeren Zusammenhängen - bald Klänge von Gegenständen in der Wohnung, bald Stimmlaute.

Z 60: Zusammenschnitt Living Room Music: a) Geräusche (To Begin oder evtl. To End)

b) Stimmlaute (Story)

Die Übertragung musikalisch-kompositorischer Prinzipien auf die Gestaltung von Sprache ist ein wichtiges Gestaltungsmittel in der Akustischen Kunst. Beim frühen Cage führte dies dazu, daß er Sprechtexte nach Noten ausführen ließ - in Rhythmen, die sich in traditioneller Notenschrift aufzeichnen ließen. Später suchte er nach anderen Wegen. In seiner um 1949 entstandenen "Lecture on Nothing" hat Cage versucht, Sprache nach musikalischen Prinzipien zu komponieren, ohne dabei die traditionelle Notenschrift zu verwenden. Dies brachte ihn auf die Idee, das traditionelle Schriftbild zu verändern: In der 1959 publizierten Druckfassung sind Zeilen und Spalten so angeordnet, daß man den Text rhythmisch lesen kann - gegliedert in Klang und Stille, d. h. in Zeiteinheiten, die bald mit Wörtern, bald mit Pausen gefüllt sind. Im Vorwort der Druckfassung hat Cage erläutert, daß diese Anordnung das rhythmische Sprechen erleichtern, aber dennoch keineswegs zu unnatürlichem Sprechen verleiten soll: Auch die musikalisierte Sprache soll als natürliche Sprache erkennbar bleiben.

Zitator Cage (Silence dt. 5)

Der Text ist in vier Kolonnen gedruck, um ein rhythmisches Lesen zu erleichtern.

(Jede Zeile ist quer über die Seite von links nach rechts zu lesen, nicht senkrecht den Kolonnen nach). Das sollte nicht in einer gekünstelten Weise geschehen (was aus dem Versuch resultieren könnte, die Stellung der Wörter auf der Seite strikt einzuhalten), sondern mit dem Rubato, das man beim alltäglichen Sprechen anwendet.

Gefordert ist also eine einerseits rhythmisch strukturierte, andererseits dem natürlichen Sprachfluß entsprechende Rezitation. So soll gewährleistet werden, daß einerseits der Text verständlich bleibt, andererseits aber auch seine musikalisch konstruierte Zeitgliederung, seine Struktur erkennbar wird. - Im Vorwort seines Stückes hat Cage die rhythmische Struktur angegeben, genau so wie in den Vorworten und Begleitnotizen zu seinen im engeren Sinne musikalischen Kompositionen aus dieser Zeit.

Zitator Cage (Heißenbüttel/Jandl, Silence dt., S. 4)

Es gibt... achtundvierzig Einheiten, jede zu achtundvierzig Takten. Das Ganze ist in fünf große Teile im Verhältnis 7, 6, 14, 14, 7 gegliedert. Die achtundvierzig Takte jeder Einheit sind ebenfalls so gegliedert.

Das Stück gliedert sich also in fünf charakteristisch gruppierte Formeinheiten - und jede dieser Formeinheiten gliedert sich wiederum in fünf Taktgruppe. Den Sprechtext hat Cage also in ähnlicher Weise rhythmisch auskonstruiert, wie er es zwischen 1939 und 1952 in seinen Musikstücken zu tun pflegte.

Im ersten Teil seines Vortrages spricht Cage in sieben Abschnitten über das, was er Form nennt:

Über die Kontinuität des Ablaufes.

Z 61: Lecture on Nothing

What I am calling poetry is often called content.

I myself have called ist form. It is theconti-

nuity of a piece of music Continuity today,

when it is necessary, is a demonstration of dis-

interestedness

Zitator Cage

Was ich

Poesie nenne, wird

oft

Inhalt genannt.

Ich selbst

habe es

Form genannt.

Es ist die Konti-

nuität eines

Musikstücks.

Kontinuität

heute,

wo sie notwendig ist,

ost eome

Demonstration

des Des-

interesses

Der zweite Teil des Vortrags behandelt in sechs Abschnitten die zeitliche Gliederung - das, was Cage Struktur nennt. Hier hat der Sprecher fortwährend anzusagen, an welchem Gliederungspunkt er sich gerade befindet. So wird die sprachliche Aussage vollkommen inhaltsleer in diesem "Vortrag über Nichts." - Es folgen die umfangreichsten Teile des Vortrags, zwei Teile mit je 14 Abschnitten: Der 3. Teil über das Material und der vierte Teil, der das Nichts mit endlosen Textwiederholugnen beschwört. - Im abschließenden 5. Teil, der von der Methode handelt, findet sich eine originelle Kritik der Zwölftontechnik - die Bestätigung dessen, daß Cage von der Auseinandersetzung mit Schönbergs selbst dann profitiert hat, wenn er einmal anderer Meinung war.

Z 62: Lecture on nothing

That is finished

now.

It was a pleasure

...

...

And now,

...

this is a pleasure.

"Read me that part a-

gain where I disin-

herit everybody.

...

...

The twelve-tone (Anm.: evtl. erst hier beginnen)

row

is a method; a

method ist a control

of

each

single

note.

There ist too much

there there.

There is not enough

of nothing in it.

...

Zitator Cage (Silence dt. 20)

Das ist nun

zuende.

Es war ein Vergnügen

...

...

Und nun

...

ist dies ein Vergnügen

(längere Pause)

Die Zwölfton-

Reihe

ist eine Methode; eine

Methode ist eine Kontrolle

...jeder

einzelnen

Note.

Da ist zu viel

da da.

Da ist nicht genug

nichts drin

...

John Cage hat seinen "Vortrag über Nichts" strukturiert wie ein Musikstück. Dies kann ein Hörer verstehen, dem klar geworden ist, wie der Text seine eigene Struktur erklärt. Das ist ungewöhnlich und rätselhaft - aber paradoxer Weise ergibt sich diese Situation gerade daraus, daß Cage dem Hörer erklären will, was geschieht. - In späteren Produktionen gibt es solche Versuche, das Rätselhafte zu erklären, nicht mehr im Stück selbst, sondern allenfalls noch in begleitenden Kommentaren.

1954 ging Cage so weit, einen Vortrag zu schreiben, dessen Zeitstruktur nicht nur musikalisch organisiert, sondern sogar aus einer bereits vorhandenen musikalischen Komposition übernommen war: In seinem Text "45´ für einen Sprecher" übernahm er die Zeitstruktur von einer kurz zuvor entstandenen Komposition für zwei Klaviere. Nach Vollendung des Vortragstextes komponierte Cage dann noch weitere, wiederum entsprechend strukturierte Instrumentalstücke. Diese strukturelle Verwandtschaft, die dem Hörer nicht ohne weiteres nachvollzogen werden kann, brachte Cage auf eine neue aufführungspraktische Idee für die miteinander verwandten Stücke - den Vortrag, die Kompositionen für zwei Klaviere, für einen Streicher und einen Schlagzeuger: Auf die Idee verschiedener Möglichkeiten der Simultanaufführung.

Zitator Cage (Jandl S. 44)

Alle diese Kompositionen,

einschließlich der Rede,

können einzeln oder gemeinsam in jeder Kombination aufgeführt werden.

Der Vortrag "45´ für einen Sprecher" ist eine Collage in mehrfacher Hinsicht: Einerseits eine Simultan-Collage; Cage nennt verschiedene Instrumentalwerke, die gleichzeitig mit dem Vortrag aufgeführt werden können. Andererseits eine Sukzessiv-Collage; Cage läßt in diesem Vortrag verschiedene Textmaterialien aufeinanderfolgen - teils Texte aus älteren Vorträgen, teils neueTexte zu 32 vorgegebenen Themen

Auch in diesem Vortrag ist relativ genau festgelegt, wie er gesprochen werden soll. Die Sprech- Zeiten werden mit der Stoppuhr gemessen, wobei sich, je nach der Fülle des Textmaterial, extrem unterschiedliche Sprechgeschwindigkeiten, an einigen Stellen auch lange Pausen ergeben können. Außerdem sind an mehrreren Stellen Geräusche und Gesten vorgeschrieben. -

Die Zusammenstellung der Texte, die Verteilung von Klang Stille, die Lautstärke und wichtige Details der rhythmischen Struktur hat Cage, wie aus einen Kommentaren hervorgeht, mit Hilfe von Zufallsverfahren festgelegt. Im Miteinander von Geräuschen, Sprache und hinzugemischter Musik ergibt sich ein Hörspiel besonderer Art - ergeben sich Zusammenhänge des scheinbar Zusammenhanglosen, des bereits Bekannten und des noch Unbekannten.

Z 63: 45´ (z. B. Anfang NDR)

John Cage und die Akustische Kunst: Dieses Thema verweist auf eine "unanswered question", auf eine unbeantwortete Frage. Unstrittig ist, daß John Cage unsere Vorstellungen über Musik in radikaler Weise verändert hat.Als Pionier der Akustischen Kunst kann man ihn dann bezeichnen, wenn man mit dem Begriff der Akustischen Kunst anspielen will auf die Grenzerweiterngen der Musik und auf ihre im 20. Jahrhundert neu (oder erneut) entdeckten Affinitäten zu anderen Erfahrungsbereichen. Wenn man sich unter diesem Aspekt mit Cage und seinem oeuvre beschäftigt, dann kann man dabei allerdings auch auf andere Fragen stoßen, die bisher noch nicht so gründlich diskutiert und noch nicht so weit ins öffentliche Bewußtsein gekommen sind: Ist es richtig, Cage in erster Linie als Musiker anzusehen - ungeachtet der Tatsache, daß seine Arbeit weit über den Bereich der Musik hinaus gewirkt hat? Gibt es nicht andere Bereiche der Künste und der allgemeinen (insbesondere der wissenschaftlichen und politischen) Erfahrung, von denen Cage wichtige Anregungen empfangen hat und auf die seine Arbeit sogar womöglich zurückgewirkt hat?

Wir wissen, daß der junge Cage sich zunächst nicht entscheiden konnte, auf welchen Bereich der Künste er sich letztlich konzentrieren wollte. Seine Interessen waren so vielseitig ausgeprägt, daß eine endgültige Entscheidung ihm offensichtlich schwer gefallen ist - eine Entscheidung etwa zwischen Literatur, Architektur, Bildender Kunst und Musik. Andererseits hat Cage auch nicht vergessen, welches Versprechen er Arnold Schönberg gegeben hatte, bevor er 1935 bei ihm zu studieren begann: Er wollte sein Leben der Musik widmen. Bis ins hohe Alter hinein hat Cage die Verpflichtung gespürt, sich an dieses Versprechen zu halten - ungeachtet dessen, daß er ein vielseitig interessierter Künstler geblieben ist, der sich nicht damit begnügen wollte, ausschließlich Musik zu produzieren und mit Musikern zu kommunizieren. Dafür war die Vielfalt der ihn interessierenden Wissensgebiete viel zu groß - nicht nur im Bereich verschiedener Künste, der Architektur, der Malerei und der Literatur, sondern auch in verschiedenen Fragestellungen der Politik, der Religion und Philosophie. Selbst mit relativ entlegenen Spezialdisziplinen wie der Pilzkunde hat Cage sich genauestens befaßt, so daß er mit seinem Expertenwissen einmal mühelost af einem italienischen Fernsehquiz bestehen und dort eine beträchtliche Summe gewinnen konnte; und selbst dieses sehr spezielle Gebiet hat auch in der künstlerischen Arbeit von Cage nicht z übersehende Spuren hinterlassen.

Wenn man versucht, genauer herauszuarbeiten, was John Cage besonders intensiv mit der Akustischen Kunst verbindet, so stößt man auf eine nicht unbeträchtliche Schwierigkeit: Einerseits findet man bei Cage viele Aspekte, für die die Beschränkung auf den Bereich des Akustischen als zu eng erscheinen könnte. Andererseits ist es - selbst dann, wenn man diese Beschränkung akzeptiert -, nicht ganz einfach, die spezifischen Besonderheiten der Akustischen Kunst und die Spezifika der kompositorischen Arbeit von John Cage schlüssig aufeinander zu beziehen.

Die Schwierigkeiten werden deutlich, wenn man versucht, den Begriff der Akustischen Kunst nicht nur abstrakt ästhetisch zu definieren, sondern auch in konreten Zusammenhängen der kulturellen Vermittlung. Wer sich für den Bereich der Akustischen Kunst interessiert und wer danachh frag, welche Bedeutung sie für die Lebensarbeit eines so produktiven und vielseitigen Künstlers wie John Cage hat, der kann nicht von den konkreten Bedingungen der Produktion, der Vermittlung und der Rezeption abstrahieren, denen sowohl die Akustische Kunst als auch das oeuvre von Cage ausgesetzt sind.

Viele Werke von John Cage, vor allem viele wichtige Spätwerke, sind eng verbunden mit dem Namen einer Institution, die den Begriff der Akustischen Kunst sogar im Namen führt: Mit dem Studio Akustische Kunst des Westdeutschen Rundfunks. Dieses Studio ist kein Musikstudio, sondern eine institutionell selbständige Einrichtung, die eigentlich aus einem anderen Bereich der Rundfunkarbeit hervorgegangen ist: Noch in den frühen achtziger Jahren gehörte dieses Studio zur Abteilung Hörspiel und führte den Namen HörSpielStudio. In der Zusammenarbeit mit diesem Studio sind wichtige Produktionen von John Cage entstanden. Vor allem das 1979 entstandene Hörstück "Roaratorio" hat beträchtliches internationales Aufsehen erregt. Dieses Werk ist eine der aufwendigsten und komplexesten Studioproduktionen von Cage.

Z 64: Roaratorio Anfang

"Roaratorio" ist das erste Werk in einer Reihe von Produktionen, die ohne die Zusammenarbeit mit dem HörSpielStudio, dem späteren Studio Akustische Kunst, und mit seinem Leiter Klaus Schöning wahrscheinlich niemals hätten zustande kommen können. In den Programmheften des Westdeutschen Rundfunks für die Bereiche Hörspiel und Akustische Kunst sind seit 1979 über zwanzig Sendetermine verzeichnet, in denen Arbeiten von John Cage für dieses Studio vorgestellt sowie mit begleitenden Interviews und Essays kommentierend erschlossen wurden. Diese Produktionen bilden eigenständigen Bereich im Schaffen des späten Cage, der bisher erst in Ansätzen aufgearbeitet und im Kontext des Gesamtwerkes erschlossen worden ist. Das Spektrum der Produktionen reicht von der Sprachaufnahme von Vorträgen und Rezitationen bis zu komplexen Studioproduktionen mit technisch konservierten, vervielfältigten und verfremdeten Klängen aus den Bereichen Sprache, Geräusch und Musik. Bezogen auf diese Produktionen könnte man sagen, daß das Thema "John Cage und die Akustische Kunst" sich nicht zuletzt deswegen stellt, weil es diese Produktionen gibt. In dieser Perspektive ließe das Thema "John Cage und die Akustische Kunst" sich behandeln als spezieller, allerdings besonders wichtige Aspekt in Cage´s Spätwerk. -

Wer die hier in Frage kommenden Produktionen von Cage und die Arbeit des Studios Akustische Kunst genauer kennt, kann allerdings nicht davon absehen, daß es hier auch um größere Zusammenhänge geht: Nicht nur um aktuelle Produktionen eines wichtigen, unter seinem gegenwärtigen Namen noch relativ jungen Studios; nicht nur um wichtige Spätwerke von John Cage. Dies ergibt sich schon daraus, daß das von Klaus Schöning geleitete Studio seit senen Anfängen, seit den ersten Produktionen im Hörspielstudio, doppelgleisig gearbeitet hat: Einerseits mit aktuellen Produktionen, andererseits mit produktiver Aufbereitung und Aufarbeitung des bereits Vorhandenen. Spuren dieser Doppelstrategie finden sich auch in der Zusammenarbeit des Studios mit John Cage: War es doch offensichtlich, daß für die 1979 begonnene Zusammenarbeit mit einem seit den frühen dreißiger Jahren aktiven Komponisten auch ältere Werke interessant werden konnten, die sich bereits frühzeitig der Akustischen Kunst genähert hatten, ohne daß schon zu ihrer Entstehungszeit geeignete Produktionsmöglichkeiten und Produktionsorte, etwa in einer Rundfunkanstalt, hätten gefunden werden können.

Z 65: John Cage: Erik Satie. Ein imaginäres Gespräch. Anfang (Silence, S. 76)

1958 hat John Cage einen Aufsatz über Erik Satie publiziert, der als imaginärer Dialog zwischen Satie und Cage konzipiert ist. In diesem Dialog eines 1958 Sprechenden mit einem bereits 1925 Verstorbenen konnte natürlich - wie Cage in einer Vorbemerkung gesagt hat - keiner der beiden Gesprächspartner hören, was der andere sagte. So kam es zu einem Dialog jenseits jeglicher Gemeinsamkeit von Ort und Zeit - zu einem Dialog also, wie er im Klangbild besser durch das Radio übermittelt werden kann als in einer live-Situation. Es sollte mehr als vier Jahrzehnte dauern, bis eine radiophone Fassung dieses Textes zustande kam - in einer Produktion des Studios Akustische Kunst.

Z 66 (evtl.): John Cage: Erik Satie (Forts.)

Diese Produktion des Studios Akustische Kunst präsentiert sich als Radiofassung eines ursprünglich für die Druckveröffentlichung geschriebenen Textes. Dabei stellt sich (wenn auf eine "radiophone Inszenierung" mit Geräusch- und/oder Musikzuspielungen verzichtet wird) vor allem die Frage nach einer Konzeption der Sprechregie: In der Textvorlage sind zwei verschiedenartige Texte ineinandergeschoben - collagiert, einander konfrontiert nach dem Prinzip der Wechselmontage. Auf der einen Textebene spricht Cage selbst in eigener Sache. Auf der anderen Textebene läßt er Erik Satie sprechen - und zwar, wie aus der Vorbemerkung des Textes hervorgeht, in einer Text-Zusammenstellung, die ihrerseits wieder eine Collage ist, zusammengestellt teils aus Satie zugeschriebenen Bemerkungen, teils aus Auszügen aus seinen Schriften.

Man könnte die Frage aufwerfen, ob - und, wenn ja, unter welchen Bedingungen - eine Radiofassung von Cage´s Text als Akustische Kunst bezeichnet werden kann - der Versuch, zwei Textebenen hörbar zu machen; zwei Textebenen, in denen zwei Komponisten sprechen über sich, über Musik, über Kunst und Leben. Wie immer man diesen Versuch klassifizieren mag: Er hat sich zu bewähren nicht nur in einer mehr oder weniger passenden Klassifikation, sondern auch an den Anforderungen des gestellten Themas. Wer darüber nachdenkt, könnte zunächst versuchen, die Textvorlage einzureihen in das, was man im Musikschrifttum des 20. Jahrhunderts, besonders seit den fünfziger Jahren, bezeichnen könnte als "Kronzeugenliteratur" oder auch als "Huldigung an einen Vorläufer oder Pionier": Die Satie-Zitate hat Cage so ausgewählt, daß die Affinitäten zu seinem eigenen Musikdenken an vielen Stellen deutlich hervortreten. Dies paßte gut in den Zusammenhang der publizistischen Aktivitäten und der theoretisch-ästhetischen Diskussionen, mit denen sich verschiedene Komponisten seit den fünfziger Jahren profiliert haben, wobei verschiedene Künstler der älteren Generation als Vorbilder ins Spiel gebracht wurden: Cage berief sich auf Erik Satie und Marcel Duchamp, während ästhetisch anders orientierte europäische Komponisten wie Pierre Boulez oder Karlheinz Stockhausen sich lieber auf Anton Webern und Paul Klee bezogen. Wenn man diese Zusammenhänge bedenkt, könnte es sinnvoll erscheinen, zu erwägen, ob in einer Radiofassung dieses imaginären Gespräches die Stimme von Erik Satie nicht am besten als alter ego von John Cage präsentiert werden.

Z 67: John Cage: Erik Satie. a) (evtl.) O-Ton Cage zur Stimmregie, b) Ausschnitt Text Satie

John Cage und die Akustische Kunst: Dieses Thema hat verschiedene Facetten. Diese Facetten lassen sich deutlicher erkennen, wenn man sich konzentriert auf Akustische Kunst als experimentelle Radiokunst. Wenn man dies tut, kann man herausfinden, wie stark künstlerische Ergebnisse abhängig sein können von bestimmten Möglichkeiten und Bedingungen der Produktion in einem Rundfunkstudio. Beispielsweise hat es sich ausgewirkt, daß John Cage in den Vereinigten Staaten, im Musterland privater Radiostationen, seit den späten dreißiger Jahren nicht so günstige Voraussetzungen experimenteller Radioarbeit finden konnte wie später, seit den vierziger und fünfziger Jahren, beispielsweise französische oder deutsche Komponisten (etwa Pierre Henry oder Karlheinz Stockhausen) zeitweilig oder längerfristig in staatlichen Rundfunkanstalten ihrer Heimatländer arbeiten konnten. John Cage hingegen machte im Radio zunächst eher negative Erfahrungen: 1940 plante er eine experimentelle Geräuschmusik zum Hörspiel "The City Wears a Slouch Hat" von Kenneth Patchen. Die Zeit war damals aber offensichtlich noch nicht reif für derartige Produktionen. Die Realisation einer umfangreichen Partitur, die Cage ins Studio gebracht hatte und in der die zum Text passenden Hörspielgeräusche genau auskomponiert waren, wurde verworfen mit dem Argument, die Notation sei unpraktikabel und die Realisation zu aufwendig. Cage mußte nun in aller Eile eine Alternativ-Version für Schlagorchester herstellen, die weniger radikal, aber gleichwohl für die damalige Zeit noch neuartig genug war.

Z 68 evtl. Dialog über City in Laughtears

Das Hörspiel wurde, untermalt mit Cage´s Schlagzeugmusik, gesendet und von nicht wenigen Hörern positiv aufgenommen, es fand aber nicht den Beifall der produzierenden Gesellschaft CBS, so daß Cage seine experimentelle Radioarbeit dort nicht weiterführen konnte. Danach sollte es fast 40 Jahre dauern, bis Cage wieder eine Rundfunkanstalt fand, bei der er eine experimentelle Produktion realisieren konnte: "Roaratorio", eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks (in Kooperation mit anderen Rundfunkanstalten und Studios) ist vor allem im Sektor der experimentellen Geräuschproduktion eine aufsehenerregende Novität.

Z 69 Roaratorio Ausschnitt: Geräusche (Ausschnitt aus Stück oder, falls verfügbar, aus Geräuschspur; evtl. Ausschnitt - Zusammenschnitt - aus Materialbändern)

Die Geräuschspur dieser Komposition sucht ihresgleichen nicht nur in Anzahl und Vielfalt der verwendeten Geräusche, sondern auch in der vielchischtigen Komplexität der Überlagerungen.

Z 70 (evtl.): Roaratorio Ausschnitt aus Stück oder, falls verfügbar, Geräuschspur

Auch in "Roaratorio" ging es - ganz ähnlich wie im ursprünglichen Hörspiel-Konzept des Jahres 1940 - darum, eine reiche Vielfalt von Geräuschen zusammenzustellen nach der Maßgabe eines vorgegebenen Textes. Die Textvorlage "Finnegans Wake" von James Joyce enthält eine Fülle von Details, die sich auf bestimmte Geräusche beziehen, und in ihre werden zahlreiche Orte genannt, die sich nicht zuletzt auch durch dort hörbare Geräusche unterscheiden lassen könnten. Dies zog Cage in Betracht und entwickelte daraus die Idee einer riesigen Kollektion weltweit gesammelter Geräusche. Mitarbeit und Produktionshilfe zahlreicher Einzelpersonen und Institutionen machten es möglich, das ein reiches Arsenal von Geräuschmaterialien sich ansammelte, das dann anschließend im Feinschnitt und in der kompositorisch kontrollierten Nachverarbeitung weiter ausgeformt und anschließend auf Sammelbändern zusammengestellt wurde.

Die Bänder mit den in verschiedenen Klangfamilien gruppierten Einzelgeräuschen sind erhalten geblieben. Wer sich diese Materialien anhärt, kann genauer ermessen, welche immense produktionstechnische Arbeit der klanglich reichen, vielschichtigen und komplexen Endmischug der verschiedenen Einzelspuren und Einzelschichten vorausgegangen ist.

Z 71: Roaratorio: Zusammenschnitt: Einzelmaterialien (A0 ff., B0ff.) - Endmischung

"Roaratorio" präsentiert sich als ein Spätwerk, in dem visionäre Konzepte des jungen Cage sich, Jahrzehnte nach ihrer ersten Ausformung, konkretisieren und in dieser Konkretisierung sich zugleich verändern.

Das Interesse an den Geräuschen der uns umgebenden Hörwelt, das Cage schon 1937 in einem musiktheoretisch-musikästhetischen Manifest offen ausgesprochen hat (und das im frühen Hörspielprojekt des Jahres 1940 noch nicht konkret umgesetzt werden konnte) - dieses Interesse verbindet sich in "Roaratorio" mit dem Interesse an der unverfälschten live-Aktion - an einer live-Performance, deren Verlauf unbeeinflußt bleibt von technischen Manipultation des Schnittes, der Montage, der klanglichen Verarbeitung, der Mischung. Es ergeben sich unterschiedliche produktionstechnische Bedingungen in den verschiedenen Klangschichten des Stückes: Die Geräuschspur ist stark von den Möglichkeiten der modernen Studiotechnik geprägt (von Techniken, die allerdings - ungeachtet der extrem dichten Klangmischungen - so eingesetzt werden, daß der "natürliche" Charakter der aufgenommenen Geräusche weitgehend erhalten bleibt). Anders als der Bereich der Geräusche sind jedoch die Dimensionen der Sprache und der Musik behandelt: Cage selbst liest seinen (aus "Finnegangs Wake" von James Joyce entwickelten) Text, und bei den Musik-Takes wirken irische Musiker mit. Sowohl der Sprechtext als auch die Musik-Zuspielungen sind so gestaltet, daß sie nicht unbedingt auf Band vorproduziert erklingen müssen, sondern - in Verbindung mit der Tonbandwiedergabe der Geräusche - auch live aufgeführt werden können. So entstehen, neben der reinen, vollständig auf Band vorproduzierten Hörspielfassung, fakultative Halb-Live-Fassungen, die man analysieren könnte als Versuche der Synthese von im Studio vorproduzierter und in der live-Performance aufgeführter Musik.

Z 72: Roaratorio Halb-live-Fassung (Paris oder Köln), Ausschn. entspr. Z 71 (Schluß)

Besonders deutlich ausgeprägt ist der live-Charakter in der ständig präsenten Klangebene der Text-Rezitation. Sinnfällig ist dies in Aufführungen geworden, in denen Cage den Text live rezitierte, während die übrigen Klangschichten vom Tonband zugespielt wurden. - Die Rezitations-Partie ist in so starker Profilierung ausgearbeitet,daß sie auch als reines Sprechstück, ohne Geräusch- und Musik-Zuspielungen, erklingen kann, als funkische Realisation eines zunächst schriftlich fixierten literarischen Textes, der seinerseits als "Literatur über Literatur" entstanden ist, als literarische Verarbeitung einer literarischen Vorlage unter dem Titel "Second writing through Finnegans Wake".

Z 73: 2nd writing, Schluß. Ausschnitt aus Sound Poetry USA (1) (nur Schluß)

Die erste Hörspiel-Produktion von John Cage hat sich entwickelt aus einer Text-Rezitation. Durch den Primat der Sprache gerät das Stück - trotz des vollkommen neuartigen Klangbildes - in erstaunliche, ja paradoxe Nähe zur Ästhetik des traditionellen Hörspiels: Die Textebene dominiert - auch als Bezugsebene für die Zspielungen weltweit gesammelter Geräusche und irischer Musik. Diese Dominanz wird noch zusätzlich unterstrichen durch die Personalunion von John Cage als Autor und Interpret, die das gesamte Stück prägt - unabhängig davon, in welcher Fassung es zu hören ist.

Wenn man die reine Hörspielfassung vergleicht mit Aufführungen, bei denen live-Elemente einbezogen sind, können sich interessante Fragen ergeben: Was ist typisch für solche aufgenommenen Halb-Live-Aufführungen? Unterscheiden sie sich wesentlich voneinander und von der reinen Studio-Produktion?

Z 74: Roatorio, Performance-Fassung, andere Fassung als 72, entspr. Ausschnitt (Schluß)

(z. B. 72 Paris - 74 Köln) (evtl. bei diesem Ausschnitt schon etwas früher beginnen als bei den vorigen)

"Roaratorio" ist ein Werk im Grenzbereich zwischen Hörspiel und Akustischer Kunst. Das Stück ist ein markantes Beispiel für einschneidende Veränderungen ind er Entwicklung von John Cage, die sich in ersten Andeutungen bereits seit den späten sechziger Jahren abgezeichnet haben. Die klassischen drei Hörspiel-Dimensionen - Sprache, Geräusch und Musik - sind in diesem Stück klar voneinander abgegrenzt. Dadurch unterscheidet sich die Konzeption dieses Stückes von experimentellen Ansätzen früherer Jahrzehnte, in denen die Abgrenzungen zwischen diesen Bereichen in Frage gestellt wurden (beispielsweise in der französischen Radiokunst, vor allem in frühen, aus den fünfziger Jahren stammenden Werken von Pierre Henry, und in der Anfangsphase der westdeutschen Neuen Hörspiels, in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren, beispielsweise in den ersten Hörspielproduktionen von Mauricio Kagel, der dann allerdings in späteren Produktionen auch wieder stärker die verschiedenen Hörspiel-Dimensionen voneinander abgrenzte).

"Roaratorio" bezieht eine charakteristische, deutlich profilierte Position in der Musikentwicklung nach 1968, auch in ihrem Verhältnis zur Akustischen Kunst. Dies bedeutet eine Distanzierung auch von Positionen, die Cage selbst in früheren Jahrzehnten bezogen hat. Die Öffnung der Musik zum Geräusch, die Cage seit seinen Kompositionen der dreißiger Jahre betrieben hat, wird in "Roaratorio" zumindest insoweit in Frage gestellt, als Geräusche und Musik nicht mehr integriert, sondern klar voneinander abgegrenzt sind. Dies wird dadurch möglich, daß Cage auf eine Musik mit starken Geräuschanteilen verzichtet und sich statt dessen dafür e ntscheidet, in seinem "irischen Zirkus" irische Volksmusik zu verwenden. Außerdem verzichtet Cage darauf, die verwendeten Geräusche z. B. durch elektroakustische Klangverfremdung zu musikalisieren. Dadurch bleibt auch ihr assoziativer Charakter weitgehend erhalten, der insoweit noch den Prinzipien der traditionellen Hörspielregie entspricht (wobei allerdings im Detail durch die komplexen Montage- und Mischungstechniken ganz andere assoziative Wirkungen sich ergeben als im traditionellen Hörspiel). - Selbst auf der Ebene von Stimme und Sprache läßt sich beobachten, daß Cage sich den traditionellen dramaturgischen Definitionen im Grundsätzlichen nähert - allerdings nicht in den Details der Ausführung. Cage, der sich in den fünfziger und sechziger Jahren mit zunehmender Radikalität von tradierten Werkvorstellulngen gelöst hatte, entwickelt hier einen Text auf der Grundlage eines bereits existierenden Sprachkunstwerkes eines anderen Autoren. Er, sonst ein entschiedener Vertreter, des nicht-intentionalen Kunstwerkes, akzeptiert das intentionale Kunstwerk eines anderen Künstlers als Basis für seine eigene Arbeit. Einen vorgegebenen literarischen Text verarbeitet und entsemantisiert er dadurch, daß er - nach der Maßgabe bestimmter Buchstaben-Konstellationen - Textelemente herausfiltert. Die Filtrierungen hat Cage so vorgenommen, daß beim Lesen des filtrierten Textes bestimmte Buchstaben und Buchstaben-Konstellationen hervortreten. Der Leser kann feststellen, daß man die zentralen Buchstaben der Druckzeilen von oben nach unten lesen und dabei immer wieder den Namen JAMES JOYCE finden kann. Für den Hörer des Textes dürfte dieser Zusammenhang sich nur schwer erschließen. Es zeigt sich also, daß Cage in diesem Text - und in vielen anderen Texten, die nach ähnlichen Prinzipien strukturiert sind - zunächst vom Primat des Lesens ausgeht, nicht von hörbaren Merkmalen des Vorgelesenen, der klingenden Sprache, auf die es ihm nach seinen eigenen Aussagen eigentlich ankommt, wenn er für die klangliche Realisation des Joyce-Textes plädiert. Die Situation ist in diesem Stück - noch oder schon wieder - ähnlich wie in einer traditionell notierten musikalischen Komposition, in der ebenfalls der schriftlich fixierte Notentext maßgeblich ist, nicht das von manchen Zufälligkeiten abhängige Klangbild einer Aufführung. Es dürfte also wohl kein Zufall sein, daß die Konzeption von "Roaratorio" zu einer Zeit entwickelt wurde, zu der auch der Komponist Cage wieder weitgehend zur traditionellen Notation zurückgekehrt war.

In "Roaratorio" artikuliert sich eine Tendenz der Hinwendung zu bereits existierender, im Werk fixierter Kunst, eine Rückwendung zum im voraus fixierten Text. Diese Tatsache ist ähnlich zu bewerten wie der Umstand, daß auch in den (im engeren Sinne musikalischen) Kompositionen von John Cage seit den späten sechziger Jahren die Auseinandersetzung mit bereits existierender Musik und das Interesse an einer im voraus weitgehend fixierenden musikalischen Notation sich intensiviert haben. Erste vereinzelte Anzeichen hierfür lassen sich bereits 1965 finden. Damals ergaben sie sich paradoxer Weise noch weitgehend aus einem Mißverständnis, das sich gleichwohl nachhaltig auswirken sollte:

1965 gab es in New York eine spektakuläre abendfüllende Aufführung der "Variations IV", einer graphisch notierten Komposition. In diesem Stück hat Cage die Klangquellen unbestimmt gelassen; wesentlicher Aspekt der Realisation sollen die Orte sein, an denen bestimmte Klänge produziert werden. Viele Hörer, die dieses Stück nicht in einer live-Aufführung, sondern nur in einem stereophonen Schallplatten-Mitschnitt der New Yorker Aufführung kennen gelernt haben, können diesen Asspekt wahrscheinlich nicht heraushören. Statt dessen könnte ihnen auffallen, daß viele der New Yorker Interpreten als Schallquellen Plattenspieler ausgewählt hatten, auf denen sie traditionelle "klassische" Musik abspielten. Viele Hörer haben dieses Stück deswegen völlig anders aufgenommen, als es von Cage eigentlich gedacht war: Sie hielten es für ein Zitaten-Puzzle traditioneller Kunstmusik.

Z 75: Variations IV

Die Auseinandersetzung mit Tradiertem und die Rückwendung zur im voraus fixierenden Notation: Beide Tendenzen vereinigen sich bei Cage gegen Ende der sechziger Jahre - und zwar in einem Stück, das einem von ihm besonders geschätzten Komponisten huldigt: Erik Satie. Cage ließ sich inspirieren von einer Komposition von Satie, die er seit langem besonders schätzte und von der er sogar ein Klavier-Arrangement hergestellt hatte: Socrate.

Z 76: Socrate

Von dieser Komposition hat Cage eine "Cheap Imitation" gemacht: Ein einstimmiges Stück, in dem der Rhythmus der Originalmelodie beibehalten ist, während die Töne sich ändern.

Z 77: Cheap Imitation, Klavierfassung

Den Entschluß, die "Cheap Imitation" zu komponieren, hatte Cage gefaßt, nachdem Saties Verleger ihm verboten hatte, sein Klavierarrangement von "Socrate" in einer Tanzaufführung mit Merce Cunningham zu verwenden. Als derVerleger sein Verbot schließlich doch noch revidierte, hatte Cage sein Imitations-Stück schon geschrieben. - Cage schätzte diese Komposition so sehr, daß e r es später mehrfach umarrangiert hat - zum Beispiel für Violine und (im Unisono mit stets wechselnden Instrumental-Konstellationen) für großes Orchester. Das Stück, das sich einem scheinbar nebensächlichen Anlaß verdankt, entpuppte sich schließlich als markantes Dokument für den Beginn einer neuen Phase in der Arbeit von John Cage.

Z 78: Cheap Imitation. Zusammenschnitt Violinfassung - Orchesterfassung

Die Idee, Vorhandenes umzuarbeiten, hat Cage seit der "Cheap Imitation" immer wieder beschäftigt. "Roaratorio" ist das wohl bekannteste Beispiel dafür, daß er diese Idee nicht nur im Bereich der Musik realisiert hat, sondern auch im Bereich von Sprache und Literatur. Es entstanden Umschriften - oder, um der Terminologie Cage´s zu folgen, "Durchschriften" - von literarischen Vorlagen verschiedener Autoren (z. B. von Thoreau, Joyce und Duchamp). Auch unabhängig vom Prozeß des "Durchschreibens" literarischer Vorlagen bevorzugt Cage seit den siebziger Jahren im Bereich der Sprache Verfahren der Verarbeitung oder sogar der Rekonsstitution von Vorhandenem oder Bekanntem - und dies vor allem dann, wenn er in literarischen Texten oder in Vorträgen die Zeilen zu sogenannten "Mesostics" ordnet, in deren Zentrum bestimmte Buchstaben hervorgehoben sind, die, von oben nach unten gelesen, sich zu bestimmten Wörtern zusammenschließen.

Z 79 evtl.: Laughtears Dialog über Mesostics - Beispiel Ende Rezitationstext (Laughtears)

Wenn John Cage Mesostics schreibt, können sich paradoxe Wirkungen ergeben: Einerseits, im Gesamtzusammenhang eines in Mesostics "filtrierten" Textes, eine verfremdende Komplizierung des ursprünglichen Sprachsinns; andererseits, in den im Schriftbild hervorgehobenen, häufig sich wiederholenden Namen oder Begriffen, eine semantische Vereinfachung - im Geiste einer rituelle beschwörenden Wiederhloung des als besonders wichtig Angesehenen.

Die Technik der Mesostics verwendet Cage in semantisch unterschiedlichen Texten. Je höher die Sprachverständlichkeit dieser Textvorlagen ist, desto näher liegt der Versuch, diese Texte zu übersetzen - und dabei der Übersetzung womöglich sogar ebenfalls die Struktur eines Mesostichons zu geben. In manchen Fällen ist dies allerdings schwierig - beispielsweise dann, wenn Mesosticha auf den Namen JAMES JOYCE ins Deutsche übertragen werden sollen, weil dann vor allem der im Deutschen seltene Buchstabe Y besondere Schwierigkeiten macht. - Leichter ist die Übersetzung dann, wenn die Textzusammenhänge umgangssprachlich weitgehend eindeutig und die erforderlichen Buchstabenkonstellationen in beiden Sprachen ohne größere Schwiergigkeiten zu realisieren sind.

Z 80: h2 WDR (2) englisch-deutsch

international´s the wrong word, the wrong idea.

denation us.

world´s one place. mind´s extended. your world´s round you

international ist das falsche wort.

entnationalisieren wir uns.

die welt ist ein einziger platz. das bewußtsein ist ausgedehnt. deine welt ist um dich herum.

(evtl. hier zunächst 1. Fassung)

1985 fand in Köln das WDR-Hörspiel-Festival "1. Acustica international" statt. Für diesen Anlaß schrieb und sprach John Cage einen Text, der aus Mesosticha über den Zentralbegriff des Festivals besteht. Da es den Buchstaben Ö im Entlischen nicht gibt, entschied Cage sich für das (leicht verfremdete oder verstümmelte) Wort HORSPIEL. Aus den 8 Buchstaben dieses Wortes bildete er 8 aufeinander folgende Mesosticha, 8 Strophen seines Textes. -

Später, nach dem Festival, machte Cage von der Möglichkeit Gebrauch, den deutschen Buchstaben Ö auf englich in OE umzuschreiben: Das Wort HOERSPIEL hat, wenn mit mit OE geschrieben wird, 9 Buchstaben. So ergeben sich 9 Zeilen für ein Mesostichon (anstatt der 8 Zeilen der 1. Fassung).

Z 81: h2 WDR (2), 1. Strophe Text wie bei Z 80 angegeben

Cage erweiterte jede Strophe von 8 auf 9 Zeilen - und in entsprechender Weise erweiterte er im größeren Zusammenhang den Text von 8 auf 9 Strophen; er ließ also 9 Mesosticha aufeinande folgen. Auch den zweiten, erweiterten Text hat Cage in Köln vorgetragen - und zwar am 15. Februar 1987, zum Abschluß eines 24stündigen Festivals, das von Musik- und Hörspielabteilung des Westdeutschen Rundfunks veranstaltet wurde. Die deutsche Übersetzung, ebenfalls in Mesosticha strukturiert, hatte Klaus Reichert verfaßt.

Wenn man beim Lesen oder Hören dieses Textes auf den sprachlichen Inhalt achtet, dann könnte man auf die Idee kommen, den Text anders zu gliedern, als es die Konstruktion des Mesostichons vorschreibt. Beim Versuch einer grammatisch-syntaktischen Gliederung erhält man einen ganz anderen Aufbau:

Zunächst hört man 3 Wortgruppen, die sich Schritt für Schritt verkürzen:

4 Wörter:

Z 82: international´s the wrong word

3 Wörter:

Z 83: the wrong idea

2 Wörter:

Z 84: denation us

Es folgen drei andere Wortgruppen - jeweils wieder mit unterschiedlichen Anzahlen der Wörter:

3 Wörter:

Z 85: world´s one place

2 Wörter:

Z 86: mind´s extended

4 Wörter:

Z 87: your world´s round you

Eine paradoxe Beobachtung drängt sich auf: Die Beobachtung, daß eine differenzierte, an serielle Musik erinnernde Detail-Gliederung gerade dann besonders deutlich hervortritt, wenn man den Text nicht liest, sondern hört. (Beim Lesen der Zeilen hingegen kann man finden, daß meist nur wenige Wörter um den jeweils zentralen Buchstaben herumgruppiert sind, ohne daß sich dabei sinnfällig strukturierte Gruppierungen ergäben.) Es entsteht ein eigentümliches Spannungsverhältnis zwischen metrischer und inhaltlicher Gliederung - ähnlich wie in traditionellen Gedichten oder wie in taktgebundenen traditionellen Musikstücken, ähnlich aber auch - und das ist noch wichtiger! - wie in älteren, rhythmisch strukturierter Musik- und Sprechstücken von Cage. An solche Stücke erinnert auch die Korrespondenz zwischen Detail- und Gesamtgliederung, die Disposition mit acht mal acht bzw. neun mal neun Zeilen. Solche quadratischen Gliederungen waren typisch für die Musik von Cage von den späten dreißiger bis zu den frühen fünfziger Jahren. Noch 1954 erwähnte sie Cage in seinem Vortrag "45´ für einen Sprecher", als er über ein damals aktuelles Werkprojekt berichtete.

Z 88: 45´für einen Sprecher. nach 3´40

Diese Komposition hat mit einer flexiblen Verwndung der Zahl 10 000 zu tun, nämlich

100 mal 100 (Quadratwurzel)

Noch in den achtziger Jahren läßt sich beobachten, wie Cage auf Gliederungsprinzipien früher Werke zurückkommt. Am einfachen, aber prägnanten Beispiel seines kurzen HOERSPIEL-Textes läßt sich genauer belegen, wie eng wichtige Tendenzen im Werk des späten Cage mit Ansätzen seines Frühwerkes zusammenhängen. Sowohl im Frühwerk als auch im Spätwerk läßt sich überdies feststellen, daß wichtige Ansätzhe der kompositorischen Gestaltung sowohl im Bereiche der Musik als auch im Bereich der Sprache erprobt werden. Im Frühwerk allerdings werden neue Ideen meistens zuerst im Bereich der Musik gefunden und dann erst später auf die Sprache übertragen. Im Spätwerk hingegen ist der Anteil der literarischen Erfindung wesentlich stärker. Wichtige Gestaltungsideen, vor allem die Idee der Mesostics, werden primär im Bereich der Sprache erfunden (und nur in seltenen Ausnahmefällen auf den Bereich der Musik übertragen).

In den Vorträgen und literarischen Texten ebenso wie in den Kompositionen des späten Cage ist deutlich zu spüren, daß für ihn seinerzeit die Zeit für eine Umorientierung gekommen zu sein schien, in der auch die Rückbesinnung auf Früheres wieder eine stärkere Rolle spielte: Vorher, während der fünfziger und sechziger Jahre, hatten in seiner Musik Tendenzen der kompositorischen Unbestimmtheit, der extremen Geräuschhaftigkeit, der exzessiven elektronischen Verstärkung und Verfremdung sich zunehmend verstärkt. Die kompositorischen Konzeptionen wurden immer offener. Einige Stücke wurden erst nach der Aufführung oder überhaupt nicht mehr notiert. Spätestens seit der "Cheap Imitation" aber wurde dann deutlich, daß die Weichen umgestellt wurden. Dies hatte Konsequenzen auch für Cage´s Verhältnis zur Akustischen Kunst. Während in den Arbeiten des frühen und mittleren Cage Tendenzen der Öffnung und Grenzüberschreitung dominierten (auch im Verhältnis zwischen Musik und Sprache und bei der Einbeziehung von Geräuschen), kommen im Spätwerk die Abgrenzungen zwischen Sprache, Musik und Geräuschen wieder deutlicher heraus. Als neue Tendenz entwickelt sich im Spätwerk die Auseinandersetzung mit Vorgegebenem - vor allem mit vorgegebener Musik und mit vorgegebenen literarischen Texten. In seinem zweiten Hörspiel für das Studio Akustische Kunst des Westdeutschen Rundfunks geht Cage sogar so weit, mehrere seiner Lieblinskünstler miteinander in Kontakt treten zu lassen. Dies wird schon im Titel des Stückes deutlich:

JAMES JOYCE, MARCEL DUCHAMP, ERIK SATIE: EIN ALPHABET

Joyce, Duchamp und Satie treffen sich hier in einem imaginären Dialog der Geister, deren Stimmen als unsichtbare Klänge über die Lautsprecher von Radioapparaten gehört werden können. Die Namen der drei Künstler kann ein Leser finden, der die in Mesostics aufgeschriebene englische Textvorlage liest. Wer den Text hört, ohne ihn zu lesen, wird stärker auf sprachliche und inhaltliche Zusammenhänge achten, die über die Zeilenstruktur der Mesostics hinauswirken.

Z 89: Alphabet, engl. Fassung, Anfang

Die Konzeption des Sprechtextes könnte man interpretieren als Verallgemeinerung der Idee des imaginären Dialogs, die Cage erstmals 1958 in einer hommage à Satie als Lesetext ausformte.

In dieser Perspektive präsentiert sich das Stück als Ausblick im Rückblick auf Ideen nicht nur anderer Künstler, sondern auch aus der eigenen Arbeit: Entwickelt aus der Retrospektive auf eine Arbeit, die die Gedankenwelt eines anderen Künstlers als Spiegel des eigenen Denkens zitiert und - was im "Alphabet" durchaus neu ist - in origineller Weise mit anderen, übernommenen und neu entwickelten Vorstellungen verbindet. - In diesem Zusammenhang lassen sich auch Cage´s Vorstellungen über die akustische Inszenierung seines Textes analysieren: Er begleitet ihn mit rationalen, d. h. auf den Hörspieltext beziehbaren, und mit irrationalen Klangmaterialien. Auch diese Klänge wurden zunächst auf vielen separaten Einzelbändern gesammelt. Auch diese Einzelbänder sind erhalten geblieben, so daß sich in diesem Stück, ähnlich wie in "Roaratorio", nicht nur die fertige Endmischung, sondern auch einzelne in ihr vereinigte Klangmaterialien genauer studieren lassen.

Z 89: Alphabet. Zusammenschnitt: Anfänge Materialbänder - Anfang Stück (deutsche Fassung)

Der 1982 abgeschlossenen Produktion des "Alphabet" folgte drei Jahre später ein Stück, dessen Titel sich allein auf Satie konzentriert. Es heißt:

"The fist meeting of the Satie Society"

Im Untertitel des Stückes finden sich zwei Wortspiele über die beiden letzten Titelwörter:

"the Socie Satiety the Sozi Sattität"

In diesem Text werden, begleitet mit Musiknummern von Satie und Cage, verschiedene, mit Zufallsoperationen ermittelte Texte verlesen. Die Idee dieses Stückes besteht darin, Satie zu präsentieren, ihn und seine Texte zu konfrontieren mit verschiedenen Texten anderer Autoren.

Der Name "Erik Satie" läßt auch hier sich wieder nicht unmittelbar beim Hören des Textes entdecken, sondern beim Lesen der Textvorlage - zum Beispiel des Ausschnittes, der der Schallplattenveröffentlichung beigefügt ist. Im Stück sprechen John Cage und Klaus Schöning - letzterer in der deutschsprachigen Rolle von Erik Satie. Außerdem wirken bei den Musikeinspielungen die Sängerin Amy Leverenz, die Pianistin Grete Wehmeyer und das Bonner Ensemble für Neue Musik mit.

Z 90: The first meeting of the Satie Society, Anfang

In seinen künstlerischen Arbeiten für die Bereiche Hörspiel und Akustische Kunst artikuliert John Cage sich locker und weltoffen, wann immer er sich mit Erik Satie befaßt. Einen Gegenpol zu den sich auf Satie konzentrierenden Produktionen bilden verschiedene Stücke, die sich auf James Joyce konzentrieren. Im "Alphabet", wenn Satie und Joyce miteinander und mit anderen zusammengebracht werden, ist der Geist von Satie stärker zu spüren als der Geist von Joyce. Ganz anders sind die Stücke konzipiert, die sich auf James Joyce konzentrieren. Dessen Hauptwerk "Finnegans Wake" inspirierte Cage zu mehreren "Durchschriften", von denen zwei auch in Studioproduktionen als Akustische Kunst realisiert wurden. Wie stark diese beiden Durchschriften und ihre klanglichen Realisationen sich voneinander unterscheiden, zeigt sich schon in der unterschiedlichen Klangdisposition der beiden Hörstücke: "Roaratorio" präsentiert sich als bunter Hörzirkus mit Musik- und Geräuschbegleitung, während "Muoyce" als introvertiertes Klangbild aus einer extrem leisen, technisch vervielfältigten Solo-Rezitation entwickelt ist. Auch dieses Stück entwickelt sich auf der Basis eines zunächst geschriebenen, dann gelesenen Textes.

Z 90: Muoyce, Lesung Köln Kunstverein

In der Studioproduktion dieses Stückes, das in der Fassung für einen Sprecher auch live aufgeführt worden ist, überlagern sich verschiedene Versionen desselben Textes. Eine Synthese der live-Performance und der Studio-Produktion ergibt sich dann, wenn Cage den Text rezitiert und gleichzeitig über Tonband mehrere zuvor aufgenommene Rezitationen wiedergegeben werden.

In der mehrschichtigen Überlagerung eines Textes mit selbst nähert sich Cage Verfahren der amerikanischen Sound Poetry, bei denen die Bedeutung der live-Performance zurücktritt und statt dessen die Möglichkeiten der Studioproduktion stärker hervortreten. Dies ist auch deswegen bemerkenswert, weil Cage noch kurz zuvor selbst im "Roaratorio" den live-Charakter der gesprochenen Sprache stark betont hatte. So läßt sich erklären, daß der Cage-Spezialist und akustische Künstler Richard Kostelanetz noch 1981 sagen konnte, daß John Cage in seiner sound poetry eher zu derjenigen Künstlergruppe gehört, die der vokalen live-Performance den Vorzug vor der Studioproduktion geben. Kostelanetz hat damit für die Akustische Kunst von Cage eine Positionsbestimmung gegeben, die generell auch weiterhin gültig bleiben sollte, die allerdings seit "Muoyce" zumindest in einigen wesentlichen Punkten modifiziert worden ist. Kostelanetz hebt hervor, daß Cage sich von einigen amerikanischen Künstlern - darunter auch von Kostelanetz selbst - unterscheidet, die im Gegensatz zu Cage in ihrer sound poetry direkt von den Produktionsbedingungen und Produktionsmöglichkeiten des Studios ausgehen - und nicht von einer schriftlichen Vorlage.

Z 91: O-Ton Kostelanetz über sound poetry. Sound Poetry USA (Schöning)

Wenn John Cage in der Studioproduktion von "Muoyce" verschiedene Rezitationen desselben Textes miteinander überlagert, dann treibt er den Prozeß der De-Semantisierung noch einen Schritt weiter: Schon im Verfahren des "Durchschreibens" können sich vielfältige Möglichkeiten ergeben, einen ursprünglich klar fixierten, grammatisch und syntaktisch normierten Sprachsinn gleichsam in der Vertikale aufzubrechen - seinen Verlauf so stark zu verändern, daß die ursprünglichen Bedeutungen weitgehend zurücktreten. Wenn ein so de-semantisierter Text in mehreren Rezitations-Varianten gleichzeitig zu hören ist, dann wird der Prozeß der De-Semantisierung noch weiter getrieben in einer anderen Dimension: in der Vertikale. Dabei entfernt das Gehörte sich noch weiter von der sprachlichen Verständlichkeit und kann im Extremfalle nur noch als rein klangliches Hörereignis, als Musik wahrgenommen werden. Der Titel, den Cage für sein Stück gewählt hat, soll deutlich machen, daß das Stück unter diesem Aspekt eigentlich ambivalent bleiben soll:

Der Titel "Muoyce" ist collagiert aus den Wörtern "Music" und "Joyce". Wer das Stück im Sinne dieses Titels hört, braucht sich nicht zu entscheiden, es entweder als Musik oder als Literatur von James Joyce zu hören. Im einen wie im anderen Falle soll es als Grenzüberschreitung wahrgenommen werden - eben als "Akustische Kunst".

Z 91: Muoyce

Wenn John Cage 1992 das Frankfurter Festival zur Feier seines 80. Geburtstages noch erlebt hätte, wäre er dort am 20. September dieses Jahres aufgetreten: als Sprecher eines neuen Muoyce-Projektes, das diesmal nicht von "Finnegans Wake" ausgehen sollte, sondern von "Ulysses". Die Lesung sollte untermalt werden mit Verkehrsgeräuschen aus 6 verschiedenen Städten. Auch hier ergab sich wiederum ein Ansatz, der vom Primat des Textes ausging - und in dem die Beziehungen zwischen den klassischen Hörspiel-Dimensionen wiederum anders fixiert waren als in den beiden vorausgegangenen Joyce-Produktionen: Während in "Roaratorio" Sprache sich mit Geräusch und Musik verband und in "Muoyce" allein die Sprache eine Rolle spielte sollten in "Muoyce II" Sprache und Geräusch sich miteinander verbinden. Insofern hätte sich ein Gegenstück ergeben zu einer einige Jahre älteren Produktion, in der Sprache und Musik sich miteinander verbinden:

1984 war die Produktion HMCIEX entstanden - anläßlich der Olympischen Spiele, die damals in Los Angeles stattfanden. Sprache und Musik beziehen sich auf die Länder, die sich damals zur Teilnahme an diesen Olympischen Spielen angemeldet hatten: Rezitiert werden Ländernamen - wiedergeben wird Musik aus den beteiligten Ländern.

Z 92: HMCIEX

In seinen Produktionen Akustischer Kunst hat John Cage meistens die Trennung zwischen Sprache, Geräusch und Musik auch dadurch aufrecht erhalten, daß er auf kompliziertere elektroakustische Klangverfremdungen, die die Abgrenzungen zwischen diesen Bereichen in Frage stellen oder überwinden könnten, weitgehend verzichtet. Anders verfahren ist Cage allerdings in seinem Hörstück "Essay" - einem Stück, dessen Text sich aus dem mehrfach wiederholten "Durchschreiben" eines Textes von Henry David Thoreau entwickelt hat. Auch in diesem Stück - ähnlich wie in der vier Jahre früher entstandenen Produktion "Muoyce I" - konzentriert Cage sich auf die Sprechstimme und ihre technische Vervielfachung. Er geht allerdings noch einen Schritt weiter als in dem älteren Joyce-Stück, indem er bei der Überlagerung der Schichten nicht nur verschiedene Textvorlagen (verschiedene "Durchschriften") verwendet, sondern auch verschiedene Stufen der technischen Verarbeitung: Die 19 verschiedenen "Durchschriften" hatten sich ergeben aus zunehmend feinen Filterungen, in zunehmender Verkürzung. Dies kompensiert Cage nachträglich in Techniken der Klangdehnung und Klangspreizung und ihrer Verschiebung im Tonraum, wobei die Sprachaufnahmen sowohl zeitlich als auch in Tonlage und Klangfarbe radikal verändert werden. Bei der technischen Verarbeitung im Center for Computer Music am Brooklyn College der University of New York wirkten Charles Dodge, Victor Friedberg, Frances White, Kenneth Worthy und Paul Zinmann mit. - Auch dieser Text ist in Mesostics geschrieben. Die Mesostics sollen verweisen auf Affinitäten zwischen Thoreau und Satie, indem Cage die Texte von Thoreau um einen ständig wiederholten Werktitel von Satie gruppiert: "Messe des pauvres", "Messe der Armen". Diesen Titel verknüpft Cage in einer kommentierenden Notiz mit einem Zitat von Thoreau: "Das Beste, was ein Mensch für seine Kultur tun kann, nachdem er reich geworden, ist, jene Pläne durchzuführen, die er schmiedete, als er noch arm war."

Der vollständige Titel des Titels nennt das Werk von Thoreau, von dem Cage ausgegangen ist:

WRITINGS THROUGH THE ESSAY: ON THE DUTY OF CIVIL DISOBEDIENCE

Cage hat dieses Werk bei verschiedenen Gelegenheiten kommentiert - beispielsweise auch in einem Gespräch, das 1987 für den ihm gewidmeten Kölner "Nachtcagetag" aufgenommen worden ist.

Z 93: Mushroom talk, Teil 3 Anfang (Nachtcagetag 1987 - bitte den vollständigen talk bestellen!)

Im "Essay" bezieht John Cage eine extreme Position bei der Verwandlung von Sprache in Musik - bei einer Verwandlung, für die gleichwohl wesentlich bleibt, daß hier Musik aus etwas der Musik ursprünglich Fremdem entstanden ist. So ergibt sich eine eigentümliche Dialektik der Abgrenzung und Nicht-Abgrenzung von Sprache und Musik - und zugleich die Vision einer universellen Klangkunst, in der sich auch die Position des Geräusches neu bestimmt. Die Demilitarisierung der Sprache, ihre Befreiung von normierenden Regeln der Grammatik und der Syntax, führt hier in eine neue Klangwelt der Akustischen Kunst.

Z 94: Essay

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