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Rudolf Frisius
Medienspezifische Musik -
Medienspezifische Präsentation Neuer Musik
"Sie haben ein Mikrophon. Sie sind allein im Studio. Das Studio ist nicht groß.
Sie sprechen nicht zu Leuten in einem Saal. Die Leute, zu denen Sie sprechen, sind allein zu Hause.
Sie sprechen nicht zu einer Gruppe von Menschen,
die zusammengekommen sind und Platz genommen haben.
Sie sprechen zu Menschen, die isoliert sind - isoliert wie Sie - wie Sie - isoliert wie Sie.
Sie wenden sich an das Ohr...
Sie haben ein Mikrophon..."
(Beispiel: INA-GRM: 1948 - 1998: l´invention du son
Einladungs-CD zum GRM-Jubiläum am 9. Oktober 1997 um 11 Uhr in Radio France:
LMC 98 - ADD; take 24, 1´19´´)
Eine Stimme dringt aus dem Lautsprecher, begleitet von radiophonen und elektronischen Klängen.
Die Stimme spricht von der Situation, in der sie erklingt:
Ein isolierter Sprecher spricht zu isolierten Hörern.
Er beschreibt seine Situation als "comédie humaine" im Zeitalter des Lautsprechers.
Zu hören ist dieser Text auf dem letzten take einer nicht-kommerziellen compact-disc,
die gleichsam als klingende Einladung fungiert:
Auf dem cover wird eingeladen zu einem wichtigen Jubiläum medienspezifischer Hörkunst:
Am 9. Oktober 1997 um 11 Uhr erinnert das französische Institut INA
(Institut National de l´Audiovisuel) an den 50. Geburtstag einer musikalischen Forschungsgruppe,
die seit den siebziger Jahren zu diesem Institut gehört:
An den "Groupe de Recherches Musicales", die "Gruppe für musikalische Forschungen" -
einen Zusammenschluß, der zurückverweist auf einen wichtigen Pionier der Medienkunst
und auf die von ihm ausgehenden Impulse zu ihrer Veränderung:
auf Pierre Schaeffer, auf die Erneuerung der Radiokunst
und auf die von ihm erfundene "Musique concrète".
"les 50 ans de la musique concrète
avec le Groupe de recherches musicales de l´Ina" -
50 Jahre konkrete Musik mit der musikalischen Forschungsgruppe
des nationalen audiovisuellen Instituts":
Unter diesem Titel sind auf der klingenden Einladungskarte 24 Beispiele zusammengestellt,
in denen deutlich wird,
welche Möglichkeiten der Produktion und der Präsentation medienspezifischer Musik
in dieser Forschungsgruppe bisher entwickelt worden sind.
Die Worte Pierre Schaeffers, des Gründers dieser Forschungsgruppe,
die im letzten Hörbeispiel dieser compact disc zu vernehmen sind,
sind dort mehr als ein rein verbaler Begleitkommentar zu der hier präsentierten Forschungsarbeit:
Was hier erklärt wird - eine medienspezifische Hörsituation im Zeitalter von Lautsprecher und Radio -
wird zugleich sinnlich präsent::
Was Schaeffer zu sagen hat,
erfahren wir nicht nur in einer abstrakt codierbaren Mitteilung, in einem Text,
sondern auch in einem konkreten, sinnlich wahrnehmbaren Ereignis:
übermittelt als klingende Sprache, von einer Stimme;
überdies begleitet von Geräuschen und Klängen einer neuartigen Musik -
einer Musik im weiteren Sinne, in der alle klingenden Ereignisse prinzipiell gleichrangig sein können,
neben Musik im traditionellen Sinne also auch Stimmen und Geräusche.
Klingende Sprache als Musik - Musik als klingende Sprache;
Geräusch(e) als Musik - Musik als Geräusch:
Diese und andere Paradoxien der Produktion und Präsentation medienspezifischer Musik
treten in der Jubiläums-CD der konkreten Musik deutlich hervor:
Unter den 24 Hörbeispielen entdeckt man nicht nur Ausschnitte aus autonomen Kompositionen,
sondern auch Eröffnungssignale, Indikative aus Radiosendungen,
Ausschnitte aus Interviews und anderen Wortsendungen.
Mit fast schon provozierender Deutlichkeit wird hier darauf verwiesen,
daß medienspezifische Musik sich als Musik der Grenzüberschreitungen artikulieren kann:
Einerseits wird deutlich, daß Mikrophon und Lautsprecher, Klangaufnahme und Klangverarbeitung
sich nicht auf den engeren Bereich der traditionellen,
mit Stimmen und herkömmlichen Instrumenten erzeugten Musik beschränken müssen -
daß also eine technisch produzierte Musik im weiteren Sinne
sich öffnen kann zur realen Hörwelt;
andererseits öffnet sich auch die Hörwelt zur Musik:
reale Hörereignisse können, in Aufnahmen und klanglichen Verarbeitungen,
von Komponisten musikalisch aufbereitet und ausgestaltet,
von Hörern mit musikalischen Ohren gehört werden.
In der Jubiläums-CD der musique concrète erklingt die Stimme Pierre Schaeffers
nicht als quasi-dokumentarisches akustisches Foto,
sondern in einem Ausschnitt komponierter Musik:
Der Komponist Christian Zanesi hat Schaeffers Stimme verbunden
mit anderen Stimmlauten, mit Geräuschen und elektroakustischen Klängen.
Der Abschnitt mit Pierre Schaeffers Stimme, mit dem die Jubiläums-CD schließt,
ist ein Ausschnitt aus dem 1996 vollendeten Schlußsatz der zweiteiligen Tonbandkomposition Arkheion.
Dieser Satz führt den Titel Les voix de Pierre Schaeffer ("Die Stimmen von Pierre Schaeffer").
In der vollständigen Komposition, die ebenfalls auf compact disc veröffentlicht ist,
wird vollends deutlich, was ansatzweise auch schon der kurze Ausschnitt erkennen läßt:
Stimme und Worte Schaeffers sind bruchlos integriert in musikalische Zusammenhänge.
Schon im Anfangsstadium des vollständigen Stückes ist deutlich zu erkennen,
wie die Stimme gleichsam hineinfindet in die Klang- und Ausdruckswelt,
von der sie dann später spricht.
(Beispiel: Christian Zanesi: Les voix de Pierre Schaeffer, Anfang: 0´´- 1´42
Musidisc 245 772)
In seiner zweisätzigen Tonbandkomposition Arkheion, die in den Jahren 1994 bis 1996 entstanden ist,
hat Christian Zanesi die Stimmen von zwei Pionieren der elektroakustischen Musik verarbeitet:
Der erste Satz heißt Les mots de Stockhausen ("Die Worte Stockhausens"),
der zweite Les voix de Pierre Schaeffer ("Die Stimmen Pierre Schaeffers").
Beide Sätze verarbeiten aufgenommene Stimmen, Geräusche und elektroakustische Klänge.
Der Titel Arkheion verweist darauf, daß die wichtigsten Klangmaterialien beider Stücke
dem Archiv entnommen sind.
Ausgangsmaterial dieser Musik sind klingende Radio-Dokumente,
die, als Sprachaufnahmen, kein musikalisches Material im herkömmlichen Sinne sind.
Wer konventionellen musikästhetischen Vorstellungen verhaftet ist, könnte also fragen,
ob diese Hörkunst, wenn sie als "medienspezifische Musik" anerkannt sein will,
nicht einem unauflösbaren Widerspruch zum Opfer fällt:
Ist - so könnte gefragt werden - die Annäherung an medienspezifische Produktionsmethoden,
an technische Verfahren der Aufnahme, Produktion und Verarbeitung von Klängen,
nicht unvermeidlich verbunden mit der Entfernung von der Musik im bisher bekannten Sinne?
Die beiden Pioniere der Medienmusik,
deren Stimmen Christian Zanesi aufgenommen und klanglich verarbeitet hat,
haben uns unterschiedliche Antworten auf diese Fragen gegeben.
Zunächst gingen sie von extrem gegensätzlichen, scheinbar unvereinbaren Ausgangspositionen aus:
Schaeffer entwickelte 1948
seine konkrete Musik aus Techniken der Aufnahme und Verarbeitung vorgefundener Klänge,
während Stockhausen 1953 und 1954 seine ersten Produktionen elektronischer Musik
ausschließlich aus auf synthetischem Wege neu produzierten Klangmaterialien entwickelte.
In diesen beiden unterschiedlichen Ansätzen spiegeln
sich unterschiedliche Auffassungen über die Funktionen der Kunst, der Medien und der Medienkunst:
Schaeffer geht es primär um eine ästhetisch reflektierte Auseinandersetzung
mit den Realitäten der Hörwelt;
Stockhausen konzentriert sich demgegenüber stärker auf die Erschaffung neuer Hörwelten.
Schaeffers Ansatz hat sich den Chancen und Risiken eines medialen Empirismus ausgesetzt,
während Stockhausen zunächst von einem medialen Idealismus ausgegangen ist:
Schaeffer wußte von den unvermeidlichen Schwierigkeiten,
die verwirrende Vielfalt der realen Hörwelt ästhetisch zu bewältigen.
Der junge Stockhausen, versuchte diesen Schwierigkeiten zu entgehen,
indem er den synthetischen Aufbau
völlig neuartiger, in der Realität bis dahin noch nicht existenter Klangwelten versuchte.
Beide, Schaeffer ebenso wie Stockhausen, sind relativ rasch zu der Einsicht gelangt,
daß ihre ursprünglichen Ausgangspositionen sich nicht verabsolutieren ließen:
Schaeffers konkreter Empirismus entwickelte sich weiter zur systematischen Erforschung der Klänge;
Stockhausens abstrakt-serieller Idealismus
modifizierte sich mit den konkreten Erfahrungen der Studiopraxis.
So näherten sich beide einer Synthese empirischer und abstrahierender Ansätze -
einer Synthese, die nicht nur
den Besonderheiten von spezifischen Klangmaterialien und Klangstrukturen Rechnung trug,
sondern auch den Bedingungen ihrer medialen Produktion und Verbreitung.
So gegensätzlich die Konzeptionen Schaeffers und Stockhausens zunächst erscheinen mochten -
auffällig war in jedem Falle, daß beide sie nur in medienspezifischer Musik konkretisieren konnten:
Die ersten konkreten und elektronischen Musikstücke wurden in Rundfunkstudios produziert,
und auch bei ihrer Verbreitung spielte das Massenmedium Radio eine wichtige Rolle.
Schon in den Anfangsjahren der technisch produzierten Musik ließ sich also die Frage aufwerfen,
ob und gegebenenfalls in welcher Weise hier im Radio spezifisch radiophone Musik entstanden war,
ob überdies für die radiophon produzierte Musik adäquate Möglichkeiten
radiophoner Präsentation gefunden wurden.
Ob und in welcher Weise aktuelle Kunst
sich auf die Produktions- und Verbreitungsbedingungen moderner Medien einzustellen vermag,
hängt nicht nur von künstlerischen, sondern auch von allgemeingesellschaftlichen Faktoren ab -
nicht nur davon, ob und inwieweit die Künstler Interesse an den Medien entwickeln,
sondern umgekehrt auch davon,
ob und inwieweit die Medien sich aktuellen künstlerischen Tendenzen öffnen.
In den dreißiger und frühen vierziger Jahren war nur die erste dieser beiden Bedingungen erfüllt,
die zweite aber noch nicht:
Edgard Varèse gelang es nicht, in der amerikanischen Filmindustrie
Unterstützung für die Gründung eines elektroakustischen Studios zu finden,
und John Cage gelang es damals nur ein einziges Mal,
ein experimentelles Hörspiel zu produzieren und im Hörfunk zur Sendung zu bringen.
Einige Jahre später hatte Pierre Schaeffer mehr Erfolg,
weil er schon in den Jahren der deutschen Okkupation
seine experimentelle Radioarbeit in Beaune in engem Konnex mit der Resistance begonnen hatte,
weil er als führender Radiopionier im August 1944 bei der Befreiung von Paris aktiv geworden war
und weil ihm daraufhin anschließend im Rundfunk des befreiten Frankreich
wichtige Positionen zugefallen waren.
Auf dieser Basis war es ihm auch in der Folgezeit, seit 1948, möglich,
den Hauptakzent seiner Tätigkeit zu verlagern
von der (bereits in Beaune begonnenen) experimentellen Hörspielarbeit
auf die Entwicklung einer neuartigen experimentellen Musik.
Die ersten Produktionen der so entstandenen "musique concrète"
wurden nicht in Konzerten uraufgeführt, sondern in Radiosendungen.
Erst 1950 kam es erstmals dazu, daß (in einem Rundfunkstudio produzierte) konkrete Musik
außerhalb eines Radioprogramms kreiert wurde -
im Konzertsaal, im ersten Lautsprecherkonzert der Musikgeschichte:
Die "Symphonie pour un homme seul" von Pierre Schaeffer und Pierre Henry
war das erste im Radio produzierte Werk,
dessen Schöpfer von Anfang an über die engen Grenzen des Radios hinausstrebten.
Man könnte sich allerdings fragen, ob diese spezifisch radiogene Musik
damit nicht bereits auf einen Weg gebracht wurde,
der sie letztlich von ihren eigenen Ursprüngen entfernen sollte,
ohne ihr andererseits damit schon eine Heimstatt
im etablierten musikalischen Konzertleben sichern zu können:
Medienspezifische Radiomusik, die letztlich doch zurück in den Konzertsaal strebt,
setzt sich Risiken aus, denen zuvor in den zwanziger Jahren der Film entgangen ist,
als er seinen Platz nicht im etablierten Theaterbetrieb fand, sondern in den neuen Kinosälen.
Selbst die Entwicklung der konkreten Musik,
der vielleicht radikalsten und konsequentesten medienspezifischen Hörkunst des 20. Jahrhunderts,
hat schwierige Fragen nach der Möglichkeit medienspezifischer Musik aufgeworfen:
Hat sich diese technisch produzierte Musik tatsächlich konsequent eingestellt
auf Gegebenheiten und Möglichkeiten radiophoner Produktion und Verbreitung,
denen sie sich eigentlich verdankt -
oder bleibt sie in vielen wichtigen Produktionen
doch noch den Zielvorstellungen einer eigentlich für den Konzertsaal bestimmten Musik verhaftet?
Hat beispielsweise die "Symphonie pour un homme seul",
die wohl berühmteste Produktion der frühen musique concrète,
ihren Weg als radiophone Musik gemacht -
oder vielleicht doch eher als Musik für den Konzertsaal
oder sogar als Begleitmusik für eine berühmt gewordene Ballett-Inszenierung von Maurice Béjart,
die uns auch in einer Film-Aufzeichnung erhalten ist?
Hat es sich also tatsächlich als möglich - oder auch nur als wünschenswert - erwiesen,
medienspezifische radiophone Musik streng auf die Möglichkeiten
medienspezifischer radiophoner Präsentation auszurichten?
Radiogene Musik, die, mit "unsichtbaren Klängen", in einem Lautsprecherkonzert aufgeführt wird
(oder auch, in audiovisueller Aufbereitung, als Lautsprecheroper),
verbindet eine neuartige Produktionsweise mit einer traditionellen Präsentationsform.
Schon daraus erklären sich die Schwierigkeiten, mit denen vor allem die konkrete Musik,
eine radiogene Musik sui generis, von Anfang an auf den etablierten Musikfestivals zu kämpfen hatte.
Ihre grundsätzlichen Unterschiede zur herkömmlich produzierten Musik
werden um so deutlich dann, wenn man nach ihrer Bedeutung im Bereich des Mediums fragt,
aus dem sie hervorgegangen ist -
nicht nur als Musik aus dem Radio, sondern auch als Musik für das Radio.
Pierre Henry, der kompositorische Mitstreiter Pierre Schaeffers
in der klassischen Frühzeit der musique concrète,
hat Erinnerungen an seine Radioarbeit in den frühen fünfziger Jahren
rund drei Jahrzehnte später kompositorisch reflektiert
in einer wiederum für das Radio bestimmten Produktion.
Der dritte Teil seines Hörspiels Journal de mes sons,
das 1982 für das Hörspielstudio des Westdeutschen Rundfunks produziert wurde,
führt den Titel Radiophonie.
Henrys Texte und Klänge beschreiben in diesem Teil künstlerische Erfahrungen,
die sich nicht auf den Bereich der autonomen Kunstmusik beschränken,
sondern statt dessen konzentrieren
auf die Integration neuartiger Klänge in musikübergreifende Zusammenhänge.
In seinem Text spricht Pierre Henry davon,
daß in jenen Jahren seine alltägliche Arbeit der Klangrealisation im Studio
eng verbunden war mit Aktivitäten in anderen Disziplinen:
"Die konkrete Musik war anfangs ganz auf das Radio zugeschnitten...
Diese Musik hätte ohne das Radio nicht existieren können.
Das Versuchsstudio des Radios war damals ein wichtiger kultureller Mittelpunkt.
Alle bekannten Künstler der Zeit kamen bei uns in der rue de l´Université vorbei.
Die fünfziger Jahre war(en) die Zeit meines Lebens, in der ich die meisten Leute gesehen habe.
Man kam und bat mich um Klänge, (um) Geräusch-Kulissen, um Effekte.
Ich habe auf diese Weise unzählige Radiomusiken komponiert.
Die Uraufführungen meiner Werke fanden in Radiosendungen statt,
in der Regel im Programm der Chaine Nationale.
Dort erklangen die Musique sans titre, das Concerto des Ambiguités
und das Microphone Bien Tempéré,
nach dem eine bekannte wöchentliche Radiosendung benannt worden ist.
Jede Woche sendete ich einen Teil einer neuen Komposition -
eine Art musikalisches Feuilleton."
Wenn Pierre Henry diesen Text, in der französischen Originalfassung, selbst spricht -
oder wenn er ihn, in der deutschen Fassung seines Hörspiels,
von der Schauspielerin und Chansonette Ingrid Caven sprechen läßt -,
dann wird er zum Ausgangsmaterial eines Hörstückes,
in dem klingende Sprache sich verbindet mit den Klängen, von denen gesprochen wird:
mit einzelnen Klängen, mit Klangstrukturen, mit Ausschnitten aus Klangproduktionen.
Es kann so weit kommen, daß dabei radiophone Musik zweiten Grades entsteht -
etwa dadurch, daß radiophone Musik als Bestandteil eines radiophonen Zitats vorkommt,
das dann seinerseits wieder zum Bestandteil von Pierre Henrys neuem Radiostück wird. -
Die Techniken der radiophonen Verarbeitung stiften Zusammenhänge
auch zwischen scheinbar vollkommen unterschiedlichen Klangmaterialien,
wenn z. B. Ostinatoschleifen einerseits aus rauhen, fauchenden Stimmlauten gebildet sind,
andererseits aus dem Namen des Komponisten "Pierre Henry",
und wenn diese Ostinati unterschiedlicher Herkunft
wiederum gleichsam als harmonische Begleitung fungieren -
als klanglicher Hintergrund für historische Radio-Ansagen,
die hier klingen wie ins Radiophone übersetzte musikalische Melodie-Motive.
Pierre Henry komponiert hier radiogene Musik zweiten Grades: Radio über Radio -
ein Radiostück, in dem Radioklänge (z. B. Ansagen und Ausschnitte aus Hörszenen)
verarbeitet und mit anderen Klangfragmenten verbunden sind.
In seinen Klangstrukturen verbinden sich, weitgehend gleichberechtigt,
Materialien aus den Erfahrungsbereichen von Geräusch, Sprache und vorgefundener Musik
in neuartigen klanglichen Zusammenhängen.
In seiner integrativen All-Klang-Musik finden sich Konstellationen,
die für die medienspezifische Musik insgesamt bedeutsam sind.
Dies zeigt sich in unterschiedlichsten Zusammenhängen -
selbst in der Konzeption der CD zum 50. Geburtstag der musique concrète,
die Christian Zanesi komponiert hat wie ein Musikstück
(oder auch wie eine der zahlreichen Sendungen,
die er für das Radioprogramm "France Musique" komponiert hat).
Beispielsweise hört man in den ersten takes der compact disc
ein Eröffnungssignal von Daniel Teruggi, einen Ausschnitt konkreter Musik von Pierre Schaeffer
(in Verbindung mit einer Anspielung auf eine populäre Fernsehsendung mit konkreter Musik), den Indikativ eines Flughafens, Computermusik von Francois Bayle, einen Ausschnitt aus einem Vortrag von Pierre Schaeffer und eine Hörszene von Michel Chion.
(Beispiel: "une historie de cinquante ans", take 1-6:
1. Daniel Teruggi: Sonal Ina (1995), 15´´
2. Pierre Schaeffer: Étude aux chemins de fer (1948) (Ausschnitt)
+ Principe Shadok (Jacques Rouxel) (1968), 10´´
3. Bernard Parmegiani: Indicatif de l´aéroport de Roissy (1971), 12´´
4. Francois Bayle: Érosphère (1978), 38´´
5. Pierre Schaeffer: Conférence publique (Ausschnitt) (1969), 24´´
6. Michel Chion: Télépanaphonie (1985), 32´´
Die Jubiläums-CD der konkreten Musik hat den Titel "les 50 ans de la musique concrète".
Es geht also um die ersten 50 Jahre einer neuen Musikart.
Ihre ersten Produktionen wurden 1948 als "Concert de bruits", als "Geräuschkonzert"
von Pierre Schaeffer realisiert und in Sendungen des Pariser Rundfunks uraufgeführt.
Von herkömmlicher Musik mit Instrumenten und Singstimmen
unterschieden sie sich so grundlegend,
daß ihr Stellenwert in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts
von den Anfangsjahren bis heute heftig umstritten geblieben ist:
Handelte es sich bei diesen technisch produzierten, über Medien verbreiteten Hörstücken
überhaupt noch um Musik -
oder doch eher um eine Hörkunst anderer Art,
die vor allem in den Bereich autonomer Musik im traditionellen Sinne nur schwer sich einordnen läßt?
Hinter dieser Frage steht ein allgemeineres Problem:
Die Frage, ob und gegebenenfalls in welcher Weise
streng medienspezifische Musik überhaupt möglich ist:
Ist es möglich, auf der Basis technischer Produktions- und Verbreitungsbedingungen
Musik im bisher bekannten Sinne (oder in zumindest damit vereinbarer Weise) zu produzieren -
oder tendiert die Hörkunst möglicherweise dazu,
sich mit der Annäherung an die Medien zugleich von der Musik im bisherigen Sinne zu entfernen?
Wie weit die Meinungen hier auseinandergehen, läßt sich relativ leicht belegen.
Wenn man die Musikgeschichte unseres Jahrhunderts, insbesondere seiner zweiten Hälfte,
aus der offiziellen Perspektive ihrer großen Festivals zu betrachten wünscht,
braucht man nur Josef Häuslers Geschichte der Donaueschinger Musiktage zur Hand zu nehmen,
um festzustellen, wie leicht die Diagonose medienspezifischer Merkmale
zur musikimmamenten Abwertung, zur Bestreitung der autonom-musikalischen Relevanz führen kann.
Für Josef Häusler ist die konkrete Musik noch heute ein Skandalon -
nicht minder als für das Donaueschinger Publikum des Jahres 1953,
dem sich Häusler auch 1996 noch anschließt, wenn er schreibt:
"Jedenfalls ist danach trotz mancher Anstrengungen kein Werk der "Musique concrète"
von absolut musikalischem Rang mehr entstanden;
ihre Wirkungsmöglichkeiten scheinen sich im Bereich der angewandten Kunst
und in der Funktion des Ingrediens neben anderen Bestandteilen zu erschöpfen."
(Josef Häusler: Spiegel der Neuen Musik: Donaueschingen, Kassel 1996, S. 157)
Häusler äußert sich hier als Historiker einer Institution,
die die Neue Musik und ihre Entwicklung
in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich geprägt hat:
Als Redakteur des Südwestfunks, der seit 1950 die Donaueschinger Musiktage ausrichtet,
hat er viele Jahre lang die Verbreitung Neuer Musik über das Radio
und auch das (nicht zuletzt wegen seiner weltweiten radiophonen Verbreitung wichtige)
Donaueschinger Musikfestival maßgeblich geprägt.
Um so bemerkenswerter ist es,
daß er sich von Möglichkeiten der musikalischen Präsentation im Radio distanziert,
die sich grundsätzlich unterscheiden von einer Darbietung autonomer Konzertmusik.
Was sich hiervon, beispielsweise im Rahmen der musique concrete, entfernt,
wird abgewertet als "angewandte Musik" -
insbesondere also auch eine Hörkunst, die in moderner radiophoner Präsentation
über die aus der Tradition bekannten Grenzen der autonomen Musik hinausgeht
und statt dessen sich auch für Hörereignisse anderer Art zu öffnen bereit ist.
Häusler bekennt sich hier zu einer Tradition der Vermittlung Neuer Musik in den Massenmedien,
die, vor allem im deutschen Sprachraum, auch in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts
noch eine wichtige Rolle gespielt hat:
Neue Musik im Radio präsentierte sich auf dem Fluchtplatz avancierter Konzertmusik.
Die für das Radio eigentlich primäre Vermittlungsform der Sendung blieb zweitrangig
gegenüber dem präsentierten Ereignis selbst:
Auch im Bereich der Neuen Musik wurde meistens konservierte Konzertmusik gesendet.
Die radiophone Präsentation erfolgte meistens in der Form,
daß sie den Charakter der Pseudo-Konzertdarbietung möglichst wenig in Frage stellte.
Dies zeigt sich auch in den von Häusler gestalteten Sendungen -
am deutlichsten in zeitversetzten Sendungen über die Donaueschinger Musiktage,
bei deren radiophoner Präsentation Häusler sich auf seine
(übrigens durchweg exzellent ausformulierten) Moderationstexte
und auf ausführliche Auszüge oder Referate aus Programmheftbeiträgen konzentrierte,
so daß der Radiohörer möglichst viel von dem erfuhr,
was er als Besucher der Donaueschinger Musiktage
auch direkt hätte hören oder im Programmheft nachlesen können.
Neue Musik im Rundfunk war und ist häufig die radiophone Übermittlung von Hörereignissen,
die eigentlich nicht primär für das Radio bestimmt sind.
Die Funktion der potentiell weltweiten Verbreitung des Gehörten,
die Loslösung der Hörwahrnehmung vom Hier (und eventuell auch vom Jetzt) der Hörereignisse
hat bisher wahrscheinlich die Wahrnehmung der Musik stärker verändert als die Musik selbst -
zumindest im Bereich autonomer Neuer Musik.
Noch heute bestehen Antagonismen der massenmedialen Vermittlung fort,
die Karlheinz Stockhausen schon 1958 diagnostizierte, als er schrieb:
"Tonband, Schallplatte und Rundfunk
haben das Verhältnis von Musik und Hörer tiefgreifend verändert.
Die meiste Musik wird am Lautsprecher gehört.
Und was haben Schallplatten- und Rundfunkproduzenten bisher getan?
Sie reproduzierten; reproduzierten eine Musik,
die in vergangener Zeit für Konzertsaal und Opernhaus geschrieben wurde;
gerade als ob der Film sich damit begnügt hätte,
die alten Theaterstücke zu photographieren.
Und der Rundfunk versucht diesen Konzert- und Opernreportagen
technisch eine derartige Perfektion zu geben,
daß dem Hörer die Unterscheidung von Original und Kopie
immer unmöglicher gemacht werden soll: die Illusion muß komplett sein.
Die bewußte Täuschung wurde immer perfektionierter,
so, wie man heutzutage mit modernen Druckverfahren Rembrandt-Reproduktionen macht,
die nicht einmal ein Experte mehr vom Original unterscheiden kann.
All das steuert auf eine Gesellschaft zu, die auch kulturell von Konserven lebt."
(Karlheinz Stockhausen: Elektronische und instrumentale Musik (1958), in:
Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik Band 1, Köln 1963, S. 146)
Aus heutiger Sicht wäre Stockhausens Kritik zu erweitern:
Musik, die eigentlich nicht primär für den Hörfunk bestimmt ist,
dominiert nach wie vor im Repertoire der im Radio gesendeten Stücke -
nicht nur von Werken der Vergangenheit, sondern auch von Werken der Gegenwart.
In weiten Bereichen der Neuen Musik ist eine - wie auch immer artikulierte - "Medienferne"
zumindest in der kompositorischen Faktur erkennbar,
wenn nicht sogar ausdrücklich beabsichtigt
(etwa als Antithese zur kommerzialisierten Medienkultur).
Dies ist um so erstaunlicher, als die Musikentwicklung der zweiten Jahrhunderthälfte
maßgeblich vom Rundfunk gefördert worden ist.
Unterstützt wurde dabei nicht selten Musik,
die sich primär diesseits oder jenseits der (Massen-)Medien artikuliert:
Diesseits vor allem dann, wenn sie mehr oder weniger konsequent
sich auf die überlieferten Aufführungsmöglichkeiten in Konzert, Ballett und Oper einstellt
(wobei das Ballett und, mehr noch, die Oper, bis heute stark benachteiligt erscheinen,
da die Neue Musik im Fernsehen immer noch einen viel schwereren Stand hat als im Rundfunk,
der seinerseits wegen seiner angeblich mäzenatischen Aktivitäten
neuerdings wieder einmal verstärkt in die Schußlinie geraten ist).
Die Frage liegt nahe, ob die Schwierigkeiten der Produktion und Verbreitung medienspezifischer Musik,
die in einer jahrzehntelangen Entwicklung kaum geringer geworden sind,
nicht vielleicht auch durch innermusikalische Entwicklungen verstärkt worden sind:
War der Widerstand der seriellen Avantgardisten und ihrer Anhänger
gegen eine konkrete Musik,
die angeblich allzu stark als "angewandte Musik" der Radiopraxis verhaftet bliebe,
tatsächlich wohlbegründet?
Hat dieser Widerstand nicht vielmehr möglicherweise
zu einer Isolation avantgardistischer Musik im Bereich der Massenmedien geführt,
die zunächst verhängnisvoll im Fernsehen erkennbar geworden ist
und die inzwischen auch im Hörfunk (übrigens in ähnlicher Weise wie auf dem Tonträgermarkt)
sich auszuwirken beginnt?
Müssen wir nicht bedauern, daß es nicht einmal Pierre Schaeffer gelungen ist,
in den sechziger Jahren der Neuen Musik den Weg vom Hörfunk zum Fernsehen zu bahnen
und damit den damals sich durchsetzenden Veränderungen im Medienverhalten Rechnung zu tragen?
Ist es auch aus heutiger Sicht noch sinnvoll,
in den Medien, ebenso wie generell im Musikleben,
Neue Musik vorwiegend als einen isolierten Spezialbereich zu behandeln,
der dann leicht in schwierige Konkurrenzsituationen
im Vergleich mit (vorgeblich oder tatsächlich) populäreren Bereichen geraten kann?
Ist es nach wie vor sinnvoll oder unvermeidlich,
die Pflege Neuer Musik in den Massenmedien
auf Übertragungen öffentlicher Musikveranstaltungen der Hörfunkanstalten zu konzentrieren?
Sollte die mediale Präsentation Neuer Musik
sich nicht stärker vom Modell der Konzertdokumentation unterscheiden,
stärker von den spezifischen technischen Möglichkeiten
der auditiven und audiovisuellen Medien Gebrauch machen?
Auch am Ende des 20. Jahrhunderts präsentiert sich
das Problem der medienspezifischen Produktion und Verbreitung von Musik
als offene Frage.
Es bleibt ungewiß, ob die Zeit für die Entwicklung intensiverer produktiver Wechselwirkungen
zwischen Musik und (Massen-)Medien bereits verstrichen ist oder erst noch kommen wird.
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