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Rudolf Frisius
Die Wiedergeburt der musique concrète - Die sechziger Jahre
Z: Henry, Colombier: Messe pour le temps présent
Nr. 1: Prologue 1´36
Die sechziger Jahre sind eine Epoche der ästhetischen Öffnung. Dies hat so weit geführt, daß Musik entstanden ist, die überlieferte starre Abgrenzungen im konventionellen Musikbetrieb in Frage stellt - zum Beispiel die Grenzen zwischen avantgardistischer und populärer Musik.
Z: Henry, Colombier: Messe Nr. 3: Jéricho Jerk Anfang
Gesamtdauer 2´26 - evtl. Text nach einiger Zeit unterlegen
1967 kam es dazu, daß ein Avantgardekomponist und ein Popmusiker gemeinsam ein Stück komponierten: Pierre Henry und Michel Colombier schufen die "Messe pour le temps présent", die "Messe für die gegenwärtige Zeit". Spielfloskeln der Popmusik und im Studio produzierte Klänge verbinden sich hier in einer Produktion, die populär geworden ist weit über die engen Grenzen der Avantgardemusik hinaus. Die Zeit schien überwunden, in der Neues und Populäres nur als unversöhnliche Kontraste vorstellbar waren. Diese Musik entstand zu einer Zeit, in der auch die Beatles - die damals den Höhepunkt ihrer Popularität erreicht hatten - es wagen konnten, kühne Geräuscheffekte in ihre Musik einzubauen.
Z: Beatles, Good morning Sergeant Peppers Lonely Heart Club Band take 11
Anfang oder/und Schluß ab 1´55 (Wiederkehr Good morning, dazu Tierstimmen)-2´39
evtl. vollständig
Populäre und avancierte Musik haben in den sechziger Jahren ihre gemeinsamen Produktionsbedingungen entdeckt - als Produkte des Tonstudios. Die Beatles montierten Tierstimmen in einen Song ihres wohl berühmtesten Schallplattenalbums ein, von dem sie schon frühzeitig wußten, daß seine Musik nur noch im Studio produziert, aber nicht mehr live aufgeführt werden konnte. Dies ermutigte sie in der Schlußnummer dieses Albums zu noch kühneren Klangexperimenten, die weit hinausführten über die Grenzen dessen, was in der alltäglichen Umwelt zu hören ist oder was Stimmen und herkömmliche Instrumente zu produzieren vermögen
Z: Beatles, Sergeant Peppers Lonely Heart Club Band take 13: A Day in the Life
1. Strophe bis 2´16 (1. Gliss Ende)
oder evtl. Schluß ab 3´18 (Strophenbeginn)
(langer Schlußakkord relativ rasch ausblenden, bis ca. 4´32)
evtl. bis Schluß (incl. vokale Gag-Schlußschleife, ausgeblendet bis 5´33)
In den sechziger Jahren wurde deutlich, daß wichtige musikalische Neuerungen, die in der sogenannten "Ernsten Musik" schon während der fünfziger Jahre bekannt geworden waren, keineswegs nur für den engeren Kreis der Avantgardefans interessant waren. Die neuen technischen Möglichkeiten einer im Studio produzierten Musik begannen auch ein breiteres Publikum zu interessieren. Darauf reagierten die Musiker in einer ästhetisch und auch politisch unruhigen Zeit. Vor allem 1968, das Jahr der Studentenunruhen, hat in der Musik markante Spuren hinterlassen - selbst dann, wenn ein Komponist den Lärm der Massen später in der Isolation seines Studios ironisch-resignativ zusammenmontierte mit bunt gemischten Natur-Geräuschen und mit munteren Popmusik-Fragmenten, so wie es Francois Bayle tat in seiner Komposition "Solitioude".
Z: Bayle, Solitioude. Experience acoustique take 14, 1´59
In "Solitioude" verarbeitet Francois Bayle in gedrängter Form Elemente einer umfangreicheren Tonbandcollage, die 1968 entstanden ist unter dem Titel "Rumeurs". In diesem Stück wird durch Schnitt, Montage und Mischung drastisch demonstriert, was sich in der Musik der sechziger Jahre verändert hat - in radikalem Gegensatz selbst zur neuen, technisch avancierten Musik der fünfziger Jahre. Bayle zeigt dies, indem er eine der berühmtesten Kompositionen elektronischer Musik aus den fünfziger Jahren zitiert: den "Gesang der Jünglinge" von Karlheinz Stockhausen; im weiteren Verlauf konfrontiert er diese (inzwischen fast schon klassisch gewordenen) elektronischen Klänge mit den wilden Geräuschen der sechziger Jahre.
Z: Bayle, Rumeurs. Collage Gesang der Jünglinge - Klänge Solitioude 6´38 - 10´13
evtl. schon an einer früheren Schnittstelle aufhören - je nach Sendezeit
Die sechziger Jahre sind eine musikalische Epoche der Kontraste und der drastischen Veränderungen. Dies zeigt sich nicht nur im Vergleich mit den fünfziger Jahren, sondern auch in der Entwicklung des Jahrzehnts selbst. Unverkennbar ist, daß sich im Laufe dieses Jahrzehnts die Musik ihrer wichtigsten Komponisten einschneidend verändert hat - nicht zuletzt auch die Klangwelt von Francois Bayle, dessen Musik in den frühen sechziger Jahren noch kaum etwas ahnen ließ von der expressiven Dynamik späterer Jahre.
Z: Bayle, L´Oiseau-Chanteur. Ausschnitt 1´19 (Klett)
Die 1963 entstandene Tonbandkomposition "L´Oiseau-Chanteur" gehört zu den frühesten Tonbandkompositionen von Francois Bayle. Klar zu erkennen ist, daß Bayle hier nicht nur aufgenommenen Vogelgesang verarbeitet, sondern auch menschliche Stimmlaute und instrumentale Klänge. Die Instrumentalpassagen werden ständig von technisch manipulierten Pseudo-Vogelstimmen unterbrochen und überboten. Deutlich zeigt sich, daß die Instrumente mit ihrem beschränkten Tonumfang und in ihrer begrenzten Beweglichkeit weniger "lebendig" klingen als die konkreten Klänge: der imaginäre Vogel kommentiert ironisch die vergeblichen Versuche, seinen Gesang mit Instrumenten nachzuahmen. Auch die Stimmlaute erreichen nicht die Lebendigkeit des Vogelgesanges - selbst dann nicht, wenn sie technisch manipuliert und im Zeitraffer höher und schneller wiedergegeben werden.
Bayles Vogelmusik aus dem Jahre 1963, in der Aufnahmen des brasilianischen Totenvogels Uirapuru verwendet werden, läßt allenfalls in einigen Details erahnen, wie stark sich seine Kompositionsweise in den folgenden Jahren verändern wird. Andererseits macht sie unmißverständlich deutlich, daß hier erste Ansätze eines neuen Musikverständnisses in den sechziger Jahren sich bilden. Dies wird deutlich im Vergleich mit einer älteren Vogelmusik, die 13 Jahre zuvor ebenfalls in Paris entstanden ist: "L´Oiseau RAI" von Pierre Schaeffer. Dieses ältere Stück von Pierre Schaeffer arbeitet ausschließlich mit einem kurzen Fragment des Gesangs einer Nachtigall, das damals als Sendezeichen des italienischen Rundfunks RAI verwendet wurde. Dieses Fragment wird in unterschiedlichen Geschwindigkeiten abgespielt, teils vorwärts, teils rückwärts, und es wird in verschiedenen Varianten überlagert. Alle wichtigen musikalischen Details ergeben sich hier nicht - wie bei Bayle - aus der Dramaturgie einer fantastisch-humoristischen Hörszene, sondern, den elementaren Möglichkeiten der damaligen Technik entsprechend, aus Schnitt, Montage und Mischung kurzer Klangfragmente.
Z: Schaeffer, L´oiseau RAI
Die konstruktive Strenge, die man in vielen Ansätzen der Musik der fünfziger Jahre findet, wurde in den sechziger Jahren in den Werken vieler Komponisten von anderen Konzepten abgelöst. Vor allem dann, wenn die Komponisten mit aufgenommenen Klängen arbeiteten, stellte sich damals vielen von ihnen die Frage, warum die aufgenommenen Klänge stets in kleine Montagestückchen aufgeteilt, gleichsam abstrahierend verfremdet werden sollten. Francois Bayle suchte in seiner Vogelmusik nach anderen Wegen. Angeregt durch die surrealistische Malerei von Robert Lapoujade, der einen nicht existierenden Vogel zum Thema einiger Bilder und eines Films gemacht hatte, gestaltete Bayle seine Klangstrukturen als imaginäre Klangbilder eines Phantasievogels. So entstanden neue Gestaltungsprinzipien einer Musik, die sich gleichsam als Hörfilm definierte.
Noch weiter in dieser Richtung ging Luc Ferrari. In den Jahren 1963 und 1964 komponierte er das erste Beispiel einer neuen Musikart, die er später als "anekdotische Musik" bezeichnete. Das Stück heißt "Héterozygote". Der Titel spielt darauf an, daß die Klänge behandelt sind wie biologische Mischwesen - sie werden disponiert nach den Anforderungen einerseits einer kunstvollen musikalischen Gliederung, anderseits einer abwechslungsreichen Abfolge von Hörszenen, in denen jeweils charakteristischen Glissandoklängen der akustische Vorhang anfangs auf- und später wieder zugezogen wird.
Z: Héterozygote. Szene mit deutscher Sprache 9´31 (Anfangsgliss) - 12´19 (Schlußgliss Ende)
In einer Szene, die gleichsam einen Ausschnitt aus dem deutschen Arbeitsalltag, aus einer technischen Probe im Theater darstellt, verzichtet Ferrari bewußt darauf, das Klangmaterial aus seinem situativen Kontext zu isolieren und in abstrakte musikalische Ordnungen einzuschmelzen. Nur wenige Einzelheiten unterscheiden diese Passage von einer realistischen oder simulierten Hörspielszene: einige stereophone Bewegungen und Halleffekte sowie das aufzischende Geräusche des akustischen Vorhangs.
Ferrari bezeichnet eine absichtlich einfache, illustrative Musik, wie sie sich in dieser Szene darstellt, als "meine konkrete Musik für arme Schlucker..., da es... praktisch keine Manipulation gibt und dieses Tonband ebenfalls in einem Amateurstudio hätte hergestellt werden können."
An anderer Stelle des Stückes ist die Verarbeitung der aufgenommenen Klänge komplizierter. Dort werden szenische Bedeutungen bewußt surrealistisch verfremdet - zum Beispiel in einem merkwürdigen Ensemble von Tierstimmen und Menschenstimmen in verschiedenen Sprachen.
Z: Héterozygote (15´40 Wasserplatschen) 15´49 Glissando - Tiere, Menschen (engl., dt., frz.) - Musik (ausblenden etwa bei 18´40)
In Kompositionen, die nach "Héterozygote" entstanden sind, hat Luc Ferrari seine Konzeption einer "anekdotischen Musik" noch weiter entwickelt und radikalisiert. Seine Komposition "presque rien no. 1" schildert als quasi realistischer Hörfilm den Tagesanbruch am Meer - wie der kunstvoll stilisierte akustische Urlaubsfilm eines Amateurs.
Z: presque rien no. 1 Anfang
Die sechziger Jahre sind eine Zeit, in der auch avancierte Komponisten sich dafür zu interessieren begannen, mit Klängen zu arbeiten, die der täglichen Erfahrungswelt, gelegentlich auch der populären Musik nahe stehen. Die Verbindung solcher Klänge mit neuen, eher avantgardistischen Klangmaterialien schien sich besonders dann anzubieten, wenn sie in bunten, drastisch kontrastierenden Collagen zusammengebracht wurden. Dies hat auch Francois Bayle versucht. Sein Stück "Solitioude" hat er integriert in ein größeres Werkprojekt, das unter verschiedenen Aspekten eine ästhetische Bilanz der sechziger Jahre zu ziehen versucht - vor allem des turbulenten Jahres 1968. Dieses gigantisch geplante und nur in Teilen ausgeführte Projekt hat den Titel "L´Experience acoustique", "Die Hörerfahrung". In vielen Sätzen dieses großen Zyklus stehen neuartige elektronische Klangstrukturen im Vordergrund - in weit ausgreifenden Klangentwicklungen. Andere Sätze sind bewußt als Kontraste zu diesen esoterischen Klangwelten angelegt. In plastischen Montagen konfrontiert Bayle dort die Klänge der turbulente Außenwelt mit den klanglichen Möglichkeiten seines Studios. Er geht so weit, daß er in die bunten Collagierungen nicht nur bekannte populäre Musik einbezieht, sondern auch Fragmente aus seinen eigenen Kompositionen. So verarbeitet er nicht nur die Schreie der Massen und die Explosionen der Tränengas-Granaten aus dem Jahre 1968, sondern auch seine eigene Musik über diese Ereignisse und sogar Fragmente berühmter Popmusik aus jener Zeit.
Z: Bayle, Journal. Exp. acoustique take 31-33.
Die wohl bekannteste Popmusik jener Jahre, die Francois Bayle in seinem Zyklus zitiert, stammt von Jimi Hendrix. Von ihm ausgewählt hat Bayle eine Musik, in der sich ästhetische Buntheit und Kühnheit dieser Zeit besonders drastisch widerspiegelt: "Electric Ladyland". In der Gestaltung dieser Musik von Jimi Hendrix lassen sich ähnliche Kühnheiten entdecken, wie man sie - unter anderen technischen und ästhetischen Voraussetzungen - auch bei Francois Bayle findet: Eine unbekümmerte Entdeckerfreude im Umgang mit neuartigen elektronischen Klangstrukturen verbindet sich mit Tricks der der Geräuschverfremdung und mit populären Songelementen. Die Kühnheit geht so weit, daß am Anfang dieser Musik klare Abgrenzungen zwischen avantgardistischer elektronischer Musik und experimenteller Popmusik kaum noch zu erkennen sind.
Z: Hendrix, Electric Ladyland Anfang
Im weiteren Verlauf, beim Einsatz der Singstimme, wechselt Hendrix dann plötzlich in ein ganz anderes genre über - in den populären Song.
Z: Hendrix, Electric Ladyland Fortsetzung
Wenn man markante Ausschnitte populärer Musik, die Francois Bayle in seinem Hörstück zitiert, mit den Originalen vergleicht, dann kann man erkennen, daß Bayle hier gleichsam Collagen zweiten Grades gestaltet: Er collagiert Musik, die bereits in ihrer originalen Gestalt Collageelemente enthält. Das Denken in den Vorstellungen von Schnitt und Montage, das seit den späten vierziger Jahren vom Film auf die Musik übertragen worden ist, wird in den sechziger Jahren zum verbindenden Element zwischen populärer und avantgardistischer Musik.
evtl. Z: Bayle, Journal, kurzer Ausschnitt mit Hendrix-Fragment
evtl. Zusammenschnitt mit verschiedenen Hendrix-Fragmenten
Der Zyklus "L´Experience acoustique", an dem Francois Bayle in den Jahren 1969 arbeitete und der seitdem unvollendet geblieben ist, ist der Versuch einer radikalen technischen und ästhetischen Neuorientierung, die offensichtlich angeregt wurde von der Umbruchszeit der sechziger Jahre.
Die ästhetische Öffnung der Musik in den sechziger Jahren zeigt sich in vielen Aspekten - aber wohl nirgends wird sie deutlicher als im Bereich einer Musikart, die besonders heftige Diskussionen ausgelöst hat - nicht nur damals, sondern auch schon vorher in den fünfziger Jahren und überdies in den folgenden Jahrzehnten: Im Bereich der musique concrète, der konkreten Musik. Die Diskussionen über diese Musik waren schwierig nicht zuletzt deswegen, weil das so heftig Umstrittene vielfach nur unzureichend bekannt war und weil eine einigermaßen befriedigende Definition als ziemlich schwierig erschien.
Z: Henry, Journal
Man kann die konkrete Musik in zwei Bildern erklären:
Die fotographische Vergrößerung und die Sprühquelle.
Ein Ton kann tausende von Tönen durch Selbstbefruchtung zur Welt bringen.
Band 1, 14´56-15´08 (nur Text)
Was ist konkrete Musik? Wie unterscheidet diese Lautsprechermusik sich von anderer Musik, zum Beispiel von der traditionellen Musik für Stimmen und Instrumente?
Es gibt ein Hörstück, in dem diese Musik nicht nur durch Worte, sondern auch durch Klänge erklärt wird. Der Autor dieses Stückes ist ein Komponist, der inzwischen, im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, fast ein halbes Jahrhundert lang konkrete Musik komponiert hat: Pierre Henry.
Henry macht kein Hehl daraus, wie schwierig es ist, die Musik zu definieren, die er macht. Dies wird nicht zuletzt daran deutlich, daß seine erklärenden Worte mehrmals, an verschiedenen Stellen seines Stückes, zu hören sind - und zwar jedesmal in einem anderen klanglichen Kontext.
Z: Die konkrete Musik... zur Welt bringen. Bd. 1, 7´15- (7´24 Textende)7´59 (incl. Nachspiel )
Konkrete Musik ist die Hörkunst der aufgenommenen Klänge. Aus der unermeßlichen Vielfalt aller hörbaren und technisch speicherbaren Klänge wählt der Komponist einzelne Klänge, die ihm interessant erscheinen, aus - und er verarbeitet sie in seinem Studio (zum Beispiel dadurch, daß er sie auf technischem Wege künstlich vervielfältigt).
Z: Die konkrete Musik... zur Welt bringen. Bd. 3, (3´30 - 3´44) 10´43´- 11´46
Schluß: 4 Röhrenglockentöne (ausblenden vor "Unsere Instrumente...)
Das Hörstück "Journal de mes sons" beginnt damit, daß der Autor selbst den Titel ansagt.
Z: Henry, Journal
Anfang Titelansage Henry: Journal de mes sons. 0´´ - 3´´
Journal de mes sons - das heißt in wörtlicher Übersetzung: Tagebuch meiner Klänge. Der Autor spricht über seine musikalischen Erfahrungen und über das Wesen der konkreten Musik, und er begleitet seine Worte mit seinen konkreten Klängen. In der deutschen Fassung dieser Produktion, die im Hörspielstudio des Westdeutschen Rundfunks produziert wurde, ist die Stimme des Autors allerdings nur in den ersten Sekunden zu hören. Im weiteren Verlauf sind seine imaginären Tagebuchnotizen in deutscher Übersetzung zu hören. Sie werden gesprochen von einer Frauenstimme - von Ingrid Caven, die in diesem Stück auftritt wie eine Frau, die in Henrys Tagebuchnotizen hin und herblättert und dem Radiohörer daraus vorliest.
Z: Henry, Journal:
Anfangstexte frz Henry (0´´ - 23 Journal... musique. Journal de mes sons), d Caven (Tagb... Töne)
0´´ - 2´04
(Z:)Journal... musique. Journal de mes sons. - Tagebuch meiner Töne - 3 Pfeiftöne (bis 0´41)
Zuggeräusche, Pfeiftöne, Zuggeräusche - Klappergeräusche; Schleifen (Züge)
Tagebuch meiner Töne (ab 1´04)... Zeit... Gewebe, Vergang.h., Zukunft, ... Musik
Nachspiel bis 2 Pfeiftöne fis3 - fis2
Ingrid Caven liest nicht nur die Tagebuchnotizen, sondern auch ihre Datierungen, die im Laufe des Stückes scheinbar ziellos hin- und herspringen zwischen den fünfziger und frühen achtziger Jahren. Zu hören sind klanglich illustrierte Auszüge aus einem imaginären Tagebuch, das über mehrere Jahrzehnte reicht. Auch in dieser Hinsicht bleibt das Stück mehrdeutig: Nicht immer ist eindeutig erkennbar, ob bestimmte Daten und Jahreszahlen rein fiktiv sind oder ob sie etwas Bestimmtes bedeuten.
Z: Journal. Alle diese unentbehrlichen Atemlaute. 12. 1. 62. Bd. 1, 8´36 - 9´25
Eine Tagebuchnotiz, die auf den 12. Januar 1962 notiert ist, verweist auf Aspekte der konkreten Musik, die seit den frühen sechziger Jahren zentrale Bedeutung gewonnen haben. Eines der beiden Werke, die hier erwähnt werden, markiert einen grundlegenden Wandel der konkreten Musik, der damals einsetzte: "Le Voyage" (Die Reise) - Musik zum tibetanischen Totenbuch.
Z: Le Voyage, a) Souffle 1 Anfang, b) (evtl.) Rückkopplungsklänge
Pierre Henrys Komposition "Le Voyage" ist eines der wichtigsten Beispiele für einen musikalischen Neubeginn in den frühen sechziger Jahren. Henry suchte nach Klängen und nach Methoden der klanglichen Verarbeitung, die es in der zuvor entstandenen Musik noch nicht gegeben hatte - auch nicht in der konkreten Musik der fünfziger Jahre. Mit einfachsten technischen Mitteln suchte er nach einer Neubestimmung des Klanglichen, die im engsten Zusammenhang stand mit einer intensiven Aktivierung der eigenen Klangerfahrung und Klangphantasie - sei es in Aufnahmen des eigenen Atems, sei es in Experimenten mit Rückkopplungsklängen im schalltoten Raum. Erst später, in der klingenden Autobiographie des "Journal de mes sons", hat Henry deutlich gemacht, wie wichtig die hier gesammelten klanglichen Erfahrungen für seine gesamte Arbeit geworden sind.
Z: Journal Band 3 Anfang,
Physische Prozesse - im Schrei endet (1´47) -
ausblenden ab 2´08 (vibrierender Klang - Einl. "Zum Obj. werden")
Charakteristisch für Pierre Henrys Arbeit in den frühen sechziger Jahren ist, daß damals versuchte, mit jedem neuen Stück gleichsam die Musik von neuem zu erfinden - mit neuen, bis dahin musikalisch nicht erforschten Klangmaterialien und mit neuen Methoden ihrer musikalischen Verarbeitung. Von entscheidender Bedeutung war es, daß in diesem Zusammenhang auch das scheinbar aus der Alltagserfahrung bereits Bekannte neu entdeckt und in völlig neuartige Zusammenhänge eingeschmolzen werden konnte. Die wieder aufs neue geborene musique concrète wurde zum Medium einer Neuentdeckung der Klangwelt des Alltags.
Z: Journal Band 3, Kommentar die Tür: a)12´35-13´52 (vor U 47),
b)ab 17´37-18´27 (Die Speichertür... aufhören vor Béjart)
Die "Variations pour une porte et un soupir", die "Variationen für eine Tür und einen Seufzer", sind vielleicht die originellste Komposition der gesamten musique concrète. Die Speichertür eines Bauernhofs ist lange nicht geölt worden. Deswegen quietscht und knarrt sie in vielfältiger Weise, die das Interesse des konkreten Musikers Pierre Henry geweckt hat. Henry wurde zum unkonventionellen Instrumentalisten, der einer einzigen Tür zahllose Klänge entlockte, aus denen dann später im Studio durch Schnitt, Montage und Mischung unterschiedliche Sequenzen entwickelt wurden. Diese in höchst geheimnisvoller Weise "sprechenden" Klänge wurden zum Ausgangsmatgerial einer phantasievoll bunten, kammermusikalisch transparenten und szenisch abwechslungsreichen Musik, die - ebenso wie "Le Voyage" - seinerzeit die Ballett-Truppe von Maurice Béjart zu einer phantasievollen, mit improvisatorischen Elementen arbeitenden choreographischen Umsetzung angeregt hat. Im "Journal", seinem imaginären akustischen Tagebuch, berichtet der Ballettkomponist Henry hierüber, und er untermalt seinen Bericht mit Musik des Ballettkomponisten Tschaikowsky.
Z: Journal Band 3, ab 18´27 (ab Ansage Béjart Ballettversion Variations/Porte)
Tschaikowsky VI 2 ausblenden je nach Sendezeit
In Henrys "Variationen für einen Seufzer und eine Tür", in der Konfrontation des Quietschens und Knarrens der Speichertür mit dem stilisierten Seufzer, mit Gleittönen eines Flexatons, wird deutlich, worum es in der neuen konkreten Musik geht, wie sie sich seit den sechziger Jahren entwickelt hat: Um eine neue musikalische Sensibilität; um die bewußte Zuwendung zur alltäglichen Hörwelt, in der sich Geheimnisse entdecken lassen, die uns über die Banalität des Alltags hinausführen ins Unbekannte.
Z: Variations (Länge je nach Sendezeit)
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