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3.24 Zum Tode von Pierre Schaeffer


Rudolf Frisius

Zum Tode von Pierre Schaeffer

Am 19. August 1995, nur wenige Tage nach der Vollendung seines 85. Lebensjahres, ist Pierre Schaeffer gestorben. Er erlag einer langen, schweren Krankheit. Die Klänge, die er entdeckt hat, sind Dokumente einer neuen Hörkunst: der Radiokunst der technisch produzierten Klänge.

Zuspielung: Sinfonie pour un homme seul Anfang

"Eine Probe des noch Ungehörten: nicht nur bislang niegehörte Klänge, sondern auch Klangverbindungen, von denen sich nicht sagen ließ, ob sie vorherbestimmten Gesetzen von Komponisten folgten, oder ob sie einfach dem Zufall entsprungen waren. Und wenn von dieser neuen Sprache ein Bann ausging, so war sie doch auch befremdlich, um nicht zu sagen ungehörig. Handelte es sich überhaupt noch um eine Sprache?"

Mit diesen Worten hat Pierre Schaeffer an ein Ereignis erinnert, das Geschichte gemacht hat: An das "Erste Konzert mit Musique concrète", das am 18. März 1950 in der Pariser Ecole Normale de Musique stattfand. Es war das erste Konzert der Musikgeschichte, in dem keine Musiker sangen oder spielten. Alle Klänge waren zuvor im Studio aufgenommen, verarbeitet und montiert worden; bei der Aufführung mußten sie über Lautsprecher wiedergegeben werden - als "Unsichtbare Musik". Die technischen Möglichkeiten waren damals engstens begrenzt: In den ersten Jahren gab es nicht einmal Tonbandgeräte, so daß Collagen und Mischungen mit mehreren Schallplattenspielern realisiert werden mußten.

Die Sprache der niegehörten Klänge - eine Sprache, die in ihrer grenzenlos radikalen Neuartigkeit sich selbst in Frage stellt, im gefährlichen Grenzbereich zwischen intentionaler Kunst und Zufall:

Das war die Sprache einer neuen Medienkunst - einer aus der Radiopraxis entwickelten Kunst der technisch produzierten Klänge. Es ist kein Zufall, daß gerade Pierre Schaeffer zum wichtigsten Pionier dieser neuen Radiokunst geworden ist: Der gelernte Rundfunkingenieur hat schon in den vierziger Jahren damit begonnen, seine technischen Erfahrungen produktiv zu nutzen, sie umzusetzen in innovative Medienpraxis. In politisch finsteren Zeiten - zur Zeit der deutschen Besetzung Frankreichs während des zweiten Weltkrieges - gründete er ein Versuchsstudio, das sich nicht nur als äthetisches Experimentierfeld der Radioliteratur und des Hörspiels verstand, sondern auch als Forum der Resistance. Seine Radioarbeit im Untergrund zielte auf die Zukunft eines wieder freien französischen Rundfunks. Am frühen Sonntag vormittag - wenn die Kollaborateure noch schliefen - wagte er sich sogar in ein offizielles Studio, um Paul Eluard ein Resistance-Gedicht rezitieren zu lassen. In seinem Hörspiel "Die Planetenmuschel", das damals als Untergrundproduktion realisiert wurde, finden sich Spuren der traumatischen Kriegserlebnisse jener Zeit.

Zuspielung: La Coquille à Planètes

Im August 1944, bei der Befreiung von Paris, war die Stunde der öffentlichen Aktion gekommen: Schaeffer stellte, noch während der Straßenkämpfe, die Weichen für die Geburt des Radios der 4. Republik. Ihm verdanken wir die wichtigsten Tondokumente jener erregenden Tage. Erhalten geblieben ist uns beispielsweise ein Telefongespräch Schaeffers mit Paul Eluard, das sich mischt mit dem Massengesang der Marseillaise draußen auf den Straßen.

Zuspielung: Schaeffer-Eluard, Marseillaise

Schaeffer, die Schlüsselfigur des befreiten französischen Rundfunks, ist in der Folgezeit zum wichtigsten Pionier einer neuen Radiokunst geworden. Die von ihm erfundene "Musique concrète", deren erste Produktionen 1948 entstanden, ist eine neuartige, aus den neuen technischen Möglichkeiten des Radios entwickelte Hörkunst, die über die Grenzen der bis dahin bekannten Musik hinaus geht und in der Stimm- und Sprachlaute sowie Geräusche aller Art in ihrem musikalischen Eigenwert neu entdeckt werden.

Zuspielung: Etude pathétique

Das erste groß angelegte Werk der "Musique concrète" war eine Sinfonie neuer Art: Die "Sinfonie für einen einsamen Menschen", die Schaeffer gemeinsam mit Pierre Henry realisierte. Schon in den ersten Klängen dieser Musik wird deutlich, worum es geht: Die unheimlich pochenden Geräusche, die dumpfen Schläge und die rätselhaften Stimmen sind nicht nur surrealistische Hörbilder, sondern auch Spuren der realen Hörwelt, etwa des nächtlichen Gestapo-Terrors während der Besatzungszeit.

Zuspielung: Sinfonie Anfang

Die dramatische Bilderkraft in Schaeffers Produktionen ist unwiderstehlich - und dies nicht zuletzt deswegen, weil er sie immer wieder in Kontrast setzt zur rigorosen Strenge von Klangmontagen, in denen jedes Klangobjekt genauestens analysiert werden kann.

Zuspielung: Etude aux objets mit Zerlegung

Die Kunst der rätselhaften Klänge und ihre Wissenschaft haben sich bei Schaeffer stets im unverhüllten Konflikt präsentiert - und dies schon deswegen, weil er sich niemals mit einer einzigen Rolle begnügt hat: Er arbeitete als Aufnahmeleiter und Hörspielregisseur, als Schriftsteller und als Komponist, als Musiktheoretiker und als Klangforscher, als Studioleiter und als Medientheoretiker. Schaeffer wußte, daß nur auf diesen vielen verschiedenen Wegen die Revolutionierung der Hörerfahrung in unserem Jahrhundert erfahren werden konnte. In seinem letzten Tonbandstück hat er gezeigt, wie schwer ihm das Beschreiten dieser Wege gefallen ist: Er präsentiert die Funde seiner konkreten Musik als Zerstörer der von ihm geliebten traditionellen Musik, als deren Repräsentanten er ein Bach-Präludium erklingen läßt: Als Rückschau auf das Verlorene und dennoch nicht Vergessene.

Zuspielung: Bilude

PS: Das einleitende Zitat (2. Absatz) findet sich in:

Pierre Schaeffer:

Musique concrète

Von den Pariser Anfängen um 1948 bis zur elektroakustischen Musik heute.

Aus dem Französischen übertragen von Josef Häusler

Für die deutsche Ausgabe überarbeitet von Michel Chion

Stuttgart 1974, S. 7

(Französische Originalausgabe: La Musique Concrète, Paris 1967, 2. Aufl. 1973;

in der Reihe: Que sais-je?, Nr. 1287)

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