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Rudolf Frisius
Pierre Henry: Le Microphone bien tempéré
SWF, Produktion 11. 9. 94
1. Bidule en mi 1´38
Le Micophone bien tempéré, das wohltemperierte Mikrophon: Dieser Titel ist offensichtlich eine humoristisch-zweideutige Anspielung. Einerseits denkt man an einen der berühmtesten Zyklen in der Geschichte der Klaviermusik: "Das wohltemperierte Klavier" von Johann Sebastian Bach. Dieses Werk markiert in der Musikgeschichte der Neuzeit den Beginn einer neuen Epoche, in der alle zwölf Stufen des abendländischen Tonsystems gleiche Bedeutsamkeit erlangten; einer Epoche, die von der chromatischen Musik Johann Sebastian Bachs bis zur Zwölftonmusik Arnold Schönbergs und seiner Nachfolger geführt hat. - Andererseits ist auffällig, daß Pierre Henry ein wichtiges Wort in Bachs Titel verändert hat: Ihm geht es nicht um das Klavier, sondern um das Mikrophon. Damit wird deutlich, daß diese Musik sich nicht nur im Vergleich der Tradition darstellen will, sondern auch deutlich macht, worin sie sich von der Tradition unterscheidet.
In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts komponiert Johann Sebastian Bach "Das wohltemperierte Klavier" - einen Zyklus von Präludien und Fugen in den Dur- und Molltonarten aller zwölf Stufen des abendländischen Tonstems. Zu Beginn der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, in den Jahren 1950 bis 1952, komponiert Pierre Henry den Zyklus "Das wohltemperierte Mikrophon". Wenn man diesen Titel hört, weiß man nicht recht, wie man ihn verstehen soll - als eine Huldigung an Bach oder als eine ironische Verfremdung. Auch die Musik selbst ist eigentümlich ambivalent - schon in ihrem Klangbild, in ihren Gestalten und Formen. Selbst in Stücken, die an Bach erinnern könnten, erscheint dieses Vorbild nah und fern zugleich - bald in trügerischer Nähe, bald in der Distanz der Verfremdung von historisch weit Zurückliegendem.
2. Bidule Thema 1a,b DAT 3 egh, h-e; fis-h
Das erste Stück des Zyklus, das Pierre Henry als Zweiundzwanzigjähriger im März 1950 komponierte, heißt "Bidule en mi", "Dingsda in e". Auch dieser Titel präsentiert sich in leiser Ironie. Daß hier eine Tonart angegeben wird, ist für eine Komposition aus dem Jahre 1950 eigentlich merkwürdig - und diese Merkwürdigkeit ist auch deutlich zu hören: Zu Beginn hört man drei Töne, einen aufsteigenden e-moll-Dreiklang - allerdings in merkwürdig verfremdetem Klangbild:
3. Bidule en mi, DAT 1, Th 1a, egh, he
Das einfache Dreiklangsmotiv klingt vertraut und fremdartig zugleich: Wie eine surrealistische Mischung aus dem modernen Klavierklang und dem Cembaloklang der Bachzeit. Auch die melodische Gestaltung ist merkwürdig ambivalent: Sie beginnt so, wie auch ein barockes Thema einsetzen könnte; dann aber folgen seltsame, wieder zum Grundton absteigende Figurationen, die zu den Stilregeln alter Musik nicht mehr so recht passen wollen. Die Musik verwandelt sich in etwas Neues. - Im Folgenden zeigt sich noch deutlicher, wohin die Entwicklung geht:
4. Bidule en mi, Th 1b, DAT 2, fis-h
Die Musik springt in eine höhere Lage. Ihre Figuren werden schneller, auch etwas diffuser: Man hört, daß hier jemand nicht nach Noten spielt, sondern improvisiert. Um seine Improvisationen aufnehmen und anschließend konservieren zu können, verwendet Pierre Henry "Das wohltemperierte Mikrophon".
Eine seltsame Ambivalenz zwischen Bekanntem und Unbekanntem zeigt sich auch dann, wenn man das Stück im größeren Zusammenhang hört. Spuren des Alten kann man dann finden, wenn man versucht, das Anfangsthema auch im späteren Verlauf des Stückes wiederzufinden: Gleich nach dem Ende des ersten Themeneinsatzes kehren die drei Anfangstöne wieder - e, g und h, die Töne des aufsteigenden e-moll-Dreiklanges; danach aber geht es anders weiter:
5. Th 2a: egh und hdfis, DAT 4
Die Wiederholung des Themas in der ursprünglichen Tonlage bricht ab. Auf dem höchsten Ton h beginnt ein neuer Themeneinsatz - eine Quinte höher als zu Anfang, wie in einer Fuge.
Das Thema wird unterschiedlich behandelt: Bald wird es wiederholt wie in einem klassischen Sonatensatz, bald wandert es in eine andere Tonlage wie in einer barocken Fuge. So erklärt es sich, daß auch der Themeneinsatz in höherer Tonlage sich gleich anschließend noch einmal wiederholt.
6. Th 3, hdfis 2. Einsatz, DAT 7
Wenn Pierre Henry sein Thema in eine höhere Lage versetzt, dann geht er anders vor als der Komponist einer barocken Fuge: Anstatt das Thema in der anderen Tonlage nochmals zu spielen, verwendet er einen tontechnischen Trick: Eine Passage, die ursprünglich in tieferer Lage aufgenommen wurde, läßt er in rascherer Ablaufgeschwindigkeit abspielen, so daß sie nicht nur höher, sondern auch schneller klingt. Dies bedeutet, daß ein unveränderter Themeneinsatz in höherer Lage zugleich auch kürzer wäre als das Thema in tieferer Lage. Gerade dies aber versucht Henry zu vermeiden: In der höheren Lage hat er das Thema mit Figuren reicher ausgeschmückt und dabei verlängert, so daß es schließlich fast genau so lange hzu hören ist wie zu Anfang. - Im weiteren Verlauf des Stückes wird dieses Prinzip noch deutlicher: Der nächste Themeneinsatz klingt nochmals eine Quinte höher (und entsprechend schneller).
7. fis-a-cis 1. Einsatz DAT 8
Auch in dieser hohen Tonlage folgt anschließend noch ein zweiter Einsatz - mit extrem raschen Figuren, die abwärts führen und dabei schließlich wieder in die ursprüngliche Tonlage zurückführen.
8. 2. Einsatz fis-a-cis mit Rückleitung zu egh (Reprisenanfang) DAT 10
Die Musik kehrt schließlich wieder in Tonlage und Tonart des Anfangs zurück: Eine ausgedehnte, virtuos-lebendige Steigerung mündet schließlich wieder in den Tönen, mit denen das Stück zuvor begonnen hat, in e-moll.
9. Reprise DAT 11 (mit Coda) (oder evtl. kürzer: ausblenden vor Beginn der Coda)
Den Schluß des Stückes bildet eine effektvolle Coda. Auch hier ist mehrmals eine aufsteigende Dreitonfigur zu hören - allerdings nicht in Dreiklangssprüngen (wie zuvor in den Themeneinsätzen dieses fugatoartigen Stückes), sondern in Schritten. Die raschen Lauffiguren, die sich schon in vorausgegangenen Abschnitten Schritt für Schritt verdichtet hatten, greifen jetzt auch auf eine tiefere Tonlage über. Sie bringen die Musik noch weiter in Bewegung und münden schließlich in einem kräftigen Schlußakzent.
10. Coda 1:1, DAT 18
Auch am Schluß dominiert das doppeldeutige Klangbild des Anfangs: Verfremdeter Cembaloklang - verfremdeter Klavierklang. Wie dieser Effekt zustandegekommen ist, kann man sich klar machen, indem man Henrys Musik in langsamerer Geschwindigkeit abspielt: Dann klingt sie klavierähnlicher.
11. Coda 9:4, DAT 17
Musik mit dem wohltemperierten Mikrophon präsentiert sich hier als Musik des technisch manipulierten Klanges: Pierre Henry hat in dem effektvollen Schlußteil seines Stückes eine Klaveraufnahme rascher und in höherer Lage abgespielt - im Zeitraffer. Dabei hat sich auch die Klangfarbe des Klaviers verändert und ein wenig dem Cembalo angenähert. Das aus der Filmtechnik bekannte Prinzip des Zeitraffers, das hier von entscheidender Bedeutung ist, prägt überdies den Aufbau des gesamten Stückes - mit seinen aufsteigenden Themeneinsätzen, denen dann erst später die Rückkehr zum Anfangsstadium folgt.: Den Gesamtverlauf des Stückes - mit Aufstieg und Rückkehr - kann man sich verdeutlichen, wenn man sich an die Abfolge der Themeneinsätze erinnert: Die Einsätze wandern in höhere Lagern; erst mit dem letzten Themeneinsatz kehrt die Musik zur ursprünglichen Tonlage zurück.
12. Bidule: Abfolge der Themeneinsätze, DAT 14: e, e und h, h, fis, fis, e
"Bidule en mi" ist Musik am Beginn eines neuen Zeitalters, die auch im Rückblick Neues enthüllt: Das Zeitalter der genau in Noten fixierten, mit zwölf Tonstufen arbeitenden Musik ging in den Jahren zu Ende, als Henrys Musik entstand. Das "wohltemperierte Mikrophon", ein wichtiges Zeitalter der neuen Epoche der technisch produzierten Musik, macht es möglich, daß der Komponist seine Musik nicht mehr aufschreiben und zur Aufführung an Interpreten übergeben muß, sondern daß er sie selbst klanglich realisieren kann.: Er kann die Klänge, die er benötigt, selbst aufnehmen, und er kann bestimmte Klänge gegebenenfalls auch selbst spielen; außerdem kann er aufgenommene, auch selbst gespielte Klänge technisch verändern. So läßt sich auch Klaviermusik mit Hilfe des wohltemperierten Mikrophones verwandeln, und sie wird dabei zur Musik der neuartigen Klangbilder, zur technisch produzierten Musik.
13. Bidule en mi vollständig: 1´38
14. (evtl.) Batterie fugace vollst. 2´11
"Le Microphone bien tempéré", "Das wohltemperierte Mikrophon" hat die Musik grundlegend verändert: Alles, was sich mit dem Mikropon aufnehmen läßt, kann zum Ausgangsmaterial von Musik werden - nicht nur das Spiel auf konventionellen oder eigens präparierten bzw. technisch verfremdeten Instrumenten (z. B. dem Klavier), sondern auch Musik mit aufgenommenen Ereignissen der Hörwelt - mit Geräuschen, Stimmen und vorgefundener Musik. Hier ergibt sich eine Fülle verschiedener Möglichkeiten. Der Zyklus "Le Microphone bien tempéré", den Pierre Henry 1950 begann und in den beiden folgenden Jahren weiterführte, gehört zu den frühesten Beispielen von Kompositionen, in denen die Fülle der kompositorischen Möglichkeiten technisch produzierter Musik absehbar wird.
Unter dem Titel "Le Microphone bien tempéré" lief in den frühen fünfziger Jahren im Pariser Rundfunk eine Sendereihe, in der die neuesten Produktionen der seit 1948 etablierten Lautsprechermusik, der "musique concrète", vorgestellt wurden. Für verschiedene Folgen dieser Sendereihe hat Pierre Henry einzelne Stücke komponiert - Beiträge gleichsam als "musikalisches Feuilleton", wie er später sagte. In vielen dieser Stücke ist deutlich zu hören, daß Henry in verschiedenen Funktionen tätig gewesen ist: Nicht nur bei der Aufnahme und technischen Verarbeitung im Studio, sondern auch bei der Klangproduktion, z. B. auf dem präparierten Klavier oder mit Schlaginstrumenten. So zeigt sich die Vielseitigkeit eines Musikers, der nicht nur im Studium bei Nadia Boulanger und Olivier Messiaen wichtige kompositorische Anregungen bekommen hatte, sondern auch als Instrumentalist, als Pianist und Schlagzeuger aktiv gewesen war. In vielen seiner Stücke ist deutlich herauszuhören, daß instrumentale Sequenzen zunächst live gespielt und dann später im Studio technisch verändert wurden - z. B. Schlagzeugpassen in dem kurzen Stück "Batterie Fugace".
15. Batterie fugace vollst. 2´11
"Batterie Fugace" heißt "Flüchtiges Schlagzeug". Damit ist gemeint, daß aufgenommene Schlagzeug-Passagen in technischer Verfremdung, im Zeitraffer, beschleunigt, gleichsam in die Flucht getrieben werden. Eine rhythmische Figur wird, ähnlich wie ein Fugenthema, mehrmals nacheinander in stets wechselnden Tonlagen und Ablaufgeschwindigkeiten vorgestellt: Zunächst immer höher und rascher und in Schritt für Schritt zunehmender klanglicher Verfremdung - später übergehend in tiefere Lage, sich dabei wieder stärker dem "natürlichen" Schlagzeugklang nähernd. Der fugatoartige Aufbau des Stückes wird deutlich, wenn man die Anfänge der verschiedenen Themeneinsätze miteinander vergleicht.
16. Batterie, Abfolge der Themeneinsätze, DAT 31
"Batterie Fugace" ist nicht nur Musik der wechselnden Tonlagen, sondern auch Musik der Beschleunigung: Bestimmte Schlagzeugfiguren werden dadurch verändert, daß die Wiedergabegeschwindigkeit gleitend verändert wird - sozusagen im technisch simulierten Accelerando.l
17. Batterie, technisch simuliertes Accelerando im Schlußteil, DAT 25
Man kann versuchen, auf technischem Wege den Effekt der gleitenden Beschleunigung rückgängig zu machen. Dann erkennt man die Wichtigkeit der technischen Verfremdung: Ohne sie könnten die wiederholten Schlagzeugfiguren fast eintönig wirken.
18. Batterie, technisches Accelerando durch Abwärts-Transpositionsglissando kompensiert
"Batterie Fugace" ist ein frühes Beispiel technisch produzierter Schlagzeugmusik. Das Hören dieser Musik kann unter verschiedenen Perspektiven reizvoll sein - als Hören von intensiven live-Aktionen, deren Aufnahmen in mannigfaltigen technischen Verfremdungen zu hören sind. So artikuliert sich Instrumentalmusik, die mit Hilfe der Technik die Grenzen der instrumentalen Klangwelt überwindet.
19. Batterie fugace vollständig 2´11
20. (evtl.) Fantasia vollst. 4´39
"Le Microphone bien tempéré", "Das wohltemperierte Mikrophon": Dieser Titel verweist darauf, wie sich - spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts - die Musik und die gesamte Hörerfahrung verändert haben. Bei Johann Sebastian Bach hieß es noch: "Das wohltemperierte Klavier". In Bachs Titel wird ein Instrument genannt, das zu seiner Zeit und in den ihm folgenden Generationen von zentraler Bedeutung für die gesamte Musik war: Das Klavier - das bevorzugte Instrument vieler Komponisten, auf dem sie improvisieren, für das sie Originalmusik komponieren und auf dem sich sogar (im Klavierauszug) Musik auch für andere Besetzungen mehr oder weniger genau darstellen läßt. - Der Titel "Das wohltemperierte Mikrophon", unter dem der französische Komponist Pierre Henry einen Zyklus kurzer Stücke als Lautsprechermusik veröffentlicht hat, - dieser Titel ist zweifellos eine humoristische Anspielung auf den berühmten Werkzyklus von Johann Sebastikan Bach. Andererseits macht dieser Titel aber auch deutlicb, was sich im 20. Jahrhundert im Vergleich zu Bach grundlegend verändert hat: Von entscheidender Bedeutung ist hier nicht das Klavier, sondern das Mikrophon. Hier kommt es nicht darauf an, daß bestimmte Töne auf einem bestimmten Instrument gespielt werden - obwohl viele Klänge dieser Musik an das Klavier (oder auch an Schlagzeug) erinnern. Wichtiger ist es, daß alle Klänge dieser Musik mit dem Mikrophon aufgenommen worden sind. Es geht hier nicht um Tonstrukturen, die zunächst ein Komponist aufgeschrieben und dann später ein Interpret notengetreu gespielt hätte. Die Musik Pierre Henrys, ein typisches Produkt des Tonstudios, folgt ganz anderen Bedingungen. Live, z. B. im Konzertsaal, läßt sie sich nicht nachspielen; ein solcher Versuch wäre ebenso sinnlos wie die live-Rekonstruktion einer Kinoszene auf dem Theater. Selbst Klänge, die mehr oder weniger deutlich an das Klavier erinnern, lassen sich meistens auf dem Klavier nicht exakt nachspielen: Die aufgenommenen Klänge unterscheiden sich vom Original - in ähnlicher Weise, wie sich ein Photo von der dargestellten Person unterscheidet. Das Mikrophon ist entscheidend, nicht die Klangquelle. Besonders deutlich wird dies dann, wenn aufgenommene Klänge zu hören sind, die man nicht auf einem Instrument nachspielen kann - zum Beispiel Aufnahmen von Naturgeräuschen.
21. Fantasia Anfang, DAT 34: Donner - absteigende Kurztonakkorde - präpariertes Klavier
Eines der wichtigsten Stücke des Zyklus "Le Microphone bien tempéré" heißt "Fantasia". Dieses Stück beginnt mit einem Donnerschlag - wie der Hörfilm eines Gewitters. Schon wenige Sekunden später wird allerdings deutlich, daß es hier nicht um eine realistische Hörszene geht: Man hört, wie andersartige Klänge hinzugemischt werden - kurze, aus hoher Lage absteigende Akkorde -, und wie anschließend das Klangbild sich vollständig verändert: mit Klängen des präparierten Klaviers.
Auch im weiteren Verlauf finden sich solche surrealistischen Klangmischungen und Klangkontraste: Donnergrollen - Gesang - verfremdetes Klavierspiel - ein Hörfilm verwandelt sich in fremdartige Musik.
22. Fantasia Fortsetzung DAT 35: Donnergrollen - Gesang - verfremdetes Klavierspiel
Das ganze Stück läßt sich beschreiben als Dialog zwischen verschiedenen Klangfamilien. In den ersten Abschnitten ergeben sich dabei einfache dreiteilige Abfolgen:
- Jeweils beginnend mit vorgefundenen, der Musik im traditionellen Sinne eher fernstehenden Klängen, z. B. mit einem Donnerschlag oder mit Donnergrollen;
23. Fantasia Zusammenschnitt Anfänge 21, 22: Donnerschlag - Donnergrollen
- sich fortsetzend mit vorgefundener Musik, die hinzugemischt wird - z. B. aus hoher Lage absteigende Akkorde oder Gesang einer Frauenstimme;
24. Fantasia Zusammenschnitt aus Fortsetzungen 21, 22: Akkorde absteigend - Frauengesang
- abschließend jeweils mit originaler oder verfremdeter Klaviermusik, die wie improvisiert, wie vom Komponisten selbst gespielt klingt.
25. Fantasia Zusammenschnitt aus Schlüssen 21, 22: 1. und 2. Klavier-Intervention
Diese Abfolgen gehen jeweils aus von Klängen, die der Komponist in der Außerwelt vorfindet; es folgen Klänge, die dem Komponisten in der Musik begegnen und schließlich Klänge, die er selbst spielt und anschließend, ebenso wie die anderen Klänge seiner Musik, auch technisch verarbeitet.
Die Übergänge von einer Klangfamilie zu anderen werden zunächst dadurch überbrückt, daß neue Klänge nicht plötzlich, im Schnitt, eingeführt werden, sondern allmählich, in der Überblendung. Dieses Prinzip bleibt auch im weiteren Verlauf maßgeblich, wenn ein neuer Abschnitt nicht mehr mit einem realistischen Umweltgeräusch (mit einem Donnergeräusch) beginnt, sondern mit einem stärker musikalisierten, rhythmisch prägnanten Geräusch.
26. Fantasia schrittartige Geräusche DAT 36
Pierre Henrys Musik beginnt in ihren Abschnitten zunächst mit kompakten Geräuschen, später mit rhythmisierten Geräuschimpulsen, deren Erscheinungsbild sich stärker der geformten Musik nähert: Meistens regelmäßig - in leise angedeuteter Monotonie, die dann aber immer wieder aufgebrochen wird durch Akzente und raschere Abfolgen. Man fühlt sich erinnert an Schritte eines Menschen, die immer wieder abweichen vom stur regelmäßigen, dem kollektiven Marschieren und die dennoch ständig zu hören sind, als Signale nervös-rastloser Bewegung.
27. Fantasia Schritte kurze Erinnerung aus DAT 36 oder spätere Parallelstelle.
Auch die surrealistisch verfremdeten Schritte erscheinen mehrmals, und auch sie verwandeln sich jeweils, überwechselnd zu einer anderen Klangfamilie, in stilisierte Klaviermusik.
Der Komponist spielt mit Klängen - und er spielt auf seinem Instrument, dem präparierten Klavier. Die vorgefundenen und selbst gespielten Klänge, die er mit dem Mikrophon aufnimmt und auf Tonträgern speichert, kommen meistens in technischer Verfremdung vor - klanglich umgestaltet, in Montagen oder Mischungen, kombiniert mit andersartigen Klangmaterialien. So ergibt sich eine Musik der wechselnden oder sich überlagernden Klangbilder - aber auch der sich entwickelnden Klangprozesse und Klangkontraste.
28. Fantasia 2 Min 44 bis nach 3 Min 47: Steigerung (Stretta, Pfiff) - leise Klangfläche (ausblenden)
Beispiele dramatischer Entwicklung finden sich vor allem in Henrys stilisierten Klavierpassagen - etwa am markanten Schluß des 2. Teiles. Der Höhepunkt der gesamten Formentwicklung wird hier wirkungsvoll hervorgehoben auch dadurch, daß gleich anschließend der dritte und letzte Teil extrem leise beginnt - mit einer tiefen und kontinuierlichen harmonischen Klangfläche, die sich der Musik im engeren Sinne noch stärker annähert als die zuvor gehörten rhythmisierten Geräusche. Im größeren Formzusammenhang wird also deutlich, daß sich, über viele einzelne Wechsel der Klangbilder hinaus, ein zusammenhängender Prozeß der Verwandlung ausbildet. Im Verlauf des Stückes ändert sich nicht nur der Typus der Klänge, sondern auch die Art, in der sie gehört werden: Zunächst, zu Beginn des Stückes, wird man am ehesten bekannte Klangbilder erkennen wollen - Erinnerungen an bekannte Umweltgeräusche, Stimmen und Instrumentalfarben. Erst bei längerem Zuhören kann das Interesse an der Herkunft der Klänge zurücktreten; dafür werden das Eigenleben der Klänge und ihre neuartigen formalen Konstellationen immer wichtiger. So wird deutlich, daß auch scheinbar unbedeutende Alltagsgeräusche oder musikalische Improvisationen sich in Musik verwandeln können: In eine Komposition, die - ähnlich wie eine "Fantasia" in traditioneller Musik - die Freiheit der Erfindung mit größtmöglichem Reichtum der musikalischen Gestalten zu verbinden sucht. Dabei zeigt sich auch, welche neuen Aufgaben der musikalischen Phantasie sich stellen im Zeitalter des "wohltemperierten Mikrophons": Die Vielfalt der Klänge, die uns begegnet im täglichen Leben, in der uns bekannten Musik und in unserer musikalischen Phantasie, - diese Vielfalt, verbunden mit plastischer Kraft des Asdrucks und der Gestalten, wird zur wichtigsten Herausforderung für die Musik des technischen Zeitalters.
29. Fantasia vollständig. 4´39
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