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3.2.5 Symphonie pour un homme seul


Rudolf Frisius

Pierre Schaeffer, Pierre Henry: Sinfonie pour un homme seul

Zuspielung: Sendung 27. 5. 51 (MBT 7, PS 4,1)

Le Microphone bien tempéré - Sinfonie pour un homme seul: Mit diesen beiden merkwürdigen Titeln begann eine knapp dreißigminütige Sendung des französischen Rundfunks am 27. Mai 1951. Der erste Titel annoncierte die Sendereihe: Das wohltemperierte Mikrophon. Der Hauptverantwortliche dieser Sendereihe, Pierre Schaeffer, war zugleich auch einer der beiden Autoren des Stückes, das in dieser Sendung gespielt wurde - eines Stückes übrigens, dem auch die Erkennungsmusik der gesamten Sendereihe entnommen war. Wer diese Sendung damals hörte, konnte also erkennen, daß der kurze Musikakzent des Anfangs eigentlich Bestandteil eines längeren Musikstückes war.

Zuspielung: 27. 5. 51 Apostrophe Anfang (ausblenden nach Klaviermotiv "marche")

In drei Abschnitten, denen jeweils kurze Moderationstexte vorausgingen, konnten interessierte französische Radiohörer 1951 ein Stück mit insgesamt 11 Teilen kennenlernen.

Zuspielung: Sinfonie

Da ein Umschnitt dieser Sendung im Archiv des von Schaeffer gegründeten Pariser Studios erhalten geblieben ist, können wir auch heute noch hören, was damals erklungen ist: Ein neuartiges Hörstück, für das der Titel "Sinfonie" ebenso paradox erscheinen mag wie der Titel der gesamten Sendereihe, der ja offensichtlich auf das "Wohltemperierte Klavier" von Johann Sebastian Bach anspielt. Die musikalischen Anspielungen in den Titeln verwirren nicht zuletzt auch deshalb, weil der Hörer ständig im Ungewissen gelassen wird, ob das, was ihm zu Ohren kommt, noch als Musik im bisher bekannten Sinne gelten kann.

In diesem Stück gibt es eine verwirrende Vielfalt von Klängen, die sich hartnäckig sperren gegen jeden Versuch, sie musikalisch zu klassifizieren. Man findet viele Klänge, die auf die ursprüngliche Idee es Stückes verweisen, auf die Idee einer Symphonie der menschlichen Geräusche:

Rufe

Zuspielung: Rufe PS 4,6

Pfeifen

Zuspielung: Pfeifen PS 4,7 Anfang (ohne Schritte)

Schritte

Zuspielung: Schritte PS 4,7 Schluß (Schritte)

Dröhnende Schläge

Zuspielung: Schläge PS 4,8

Lachen

Zuspielung: Lachen PS 4,9 Erotica oder aus Intermezzo Mitte (Zeitraffer, nach hohen Klavierakzenten) (Sendung: Erotica)

leises Murmeln

Zuspielung: leises Murmeln PS 4,10 Collectif

Atemgeräusche

Zuspielung: Atemgeräusche PS 4,11 Ausschnitt Atem (Eroica)

ein Wort, aufgespalten und vervielfältigt

Zuspielung: absolument PS 4,12 Apostrophe

Schon in den ersten Klängen des Stückes wird deutlich, worum es geht: um eine radiophon geprägte Hörkunst neuer Art.

Zuspielung: Prosopopée Anfang 1´52 bis lauter Ruf (alte Fassung 1951)

Wer diese Klänge hört, kann versuchen, sich in seiner Phantasie aus ihnen eine Klanggeschichte zu bilden.

Zuspielung: Prosopopée Pochen, 3 Schläge, lauter Ruf (Männerstimme)

Sprecher Kinderstimme (Junge, ca. 11 J.): Jemand klopft an. Ein anderer ruft: "Herein".

Zuspielung: Forts. Pochen, 2 Schläge, Frauenstimme; Pochen, 1 Schlag, leise Männerstimme

Junge: Wieder Klopfen, aber keiner kommt rein.

Zuspielung: Forts. (Quarten, "Sirene")

Junge: Plötzlich ertönt eine Polizeisirene

Junge (Forts.): Vor der Tür ein Flüchtender.

In einer Lagerhalle spielt sich ein Duell ab:

Schüsse, Hilfeschrei, Sirene, Polizei.

Jemand geht schnell raus, schlägt im Stolpern die Tür zu.

Man hört Schritte und Singen, immer schnellere Schritte und Pfeifen.

Ein Mensch fällt die Treppe herunter und schreit auf.

Der Anfang der "Sinfonie" läßt sich hören und beschreiben wie eine Szene aus einem Hörfilm - so, wie es vor einigen Jahren einmal ein elfjähriger Schüler in Worte gefaßt hat. Auch bei den Radiohörern des Jahres konnten sich ähnliche oder andersartige Assoziationen einstellen. Dazu hat 1951 auch der Moderationstext Schaeffers einige Anregungen gegeben.

Zu Beginn des Stückes hört man ein rasches Pochen - so, als wenn jemand vor der Tür stände und ungestüm Einlaß begehrte.

Zuspielung: Pochen 12mal (1966 Anfang)

Es folgen drei laute Schläge - wie zu Beginn einer Theatervorstellung.

Zuspielung: Forts. 3 Schläge

Jetzt hat sich der Vorhang der unsichtbaren Bühne geöffnet: Man hört lautes Rufen.

Zuspielung: Forts. laute Männerstimme

Drei verschiedene Ereignisse sind hier in rascher Abfolge aneinandermontiert. So entsteht eine kurze Montagestruktur.

Zuspielung: 12mal Pochen, 3 Schläge, laute Männerstimme

Das Stück beginnt wie ein unsichtbarer Film. Die Fortsetzung seiner ersten, dreiteiligen Montagestruktur kann verschieden gehört werden - als Fortsetzung der Handlung, aber auch als Weiterentwicklung der Montagestruktur. Ihr folgen zwei Varianten, die ebenfalls mit raschem Pochen beginnen, sich mit einzelnen Schlägen fortsetzen und mit kurzen Stimmäußerungen schließen - verändert teils durch Verkürzung, teils durch neue Klangereignisse.

Zuspielung: 1. 3teilige Montagestruktur und 2 Varianten (bis tinset)

Anschließend sind andere Klänge zu hören: Ein kurzes Musiksignal - gleich anschließend eine Passage auf dem präparierten Klavier (ein "élement Cage", wie Schaeffer es damals nannte), in stark geräuschhafter Verfremdung - danach viele rasch wechselnde Klänge - später der Gesang einer Männerstimme, das Summen einer Melodie.

Zuspielung: Prosopopée ab Quarten, el. Cage, Quarten etc. (alte Fassung), Klavier, Summen

Nur an wenigen Stellen könnte man versuchen, den Klang bekannter Orchesterinstrumente wiederzuerkennen. Sonst erinnert nichts an das, was ein traditionell geprägter Hörer unter dem Stichwort "Sinfonie" erwartet. Dieser Begriff läßt sich hier eigentlich nur im ursprünglichen verstehen - im Sinne des Zusammenkommens von Klängen.

Zuspielung: Fortsetzung in der Fassung 1951 (Schneiden vor kreischendem Geräusch) Anf. Klavier polternd, dann Schleppkahn, Schreien

Umweltgeräusche, Stimlaute und Gesang, bekannte und unbekannte, originale und verfremdete Instrumentalklänge verbinden sich in rätselhafter Weise. Es bleibt ungewiß, ob die Geräusche uns auf reale Vorgänge hinweisen, ob die Stimmen uns eine sprachliche Mitteilung übermitteln, ob die instrumentalen Klänge in bestimmten musikalischen Zusammenhängen stehen. Mit anderen Worten: Beim Versuch, dieses Stück zu beschreiben, versagen sowohl die Kriterien der traditionellen Hörspieldramaturgie als auch die Kriterien der traditionellen Musik; es ist nicht einmal sicher, ob man bei der Beschreibung dieses Stückes überhaupt noch zwischen Musik und Hörspiel unterscheiden kann - oder ob es um etwas ganz anderes geht, das man heute, mehr als vier Jahrzehnte nach der Entstehung des Stückes, vielleicht "Akustische Kunst" nennen könnte.

Zuspielung: Fortsetzung Prosopopée I ab kreischendes Geräusch (1951)

alte Fassung: Schläge, Schritte, Summen, kreischender Geräuschakzent

Von einer traditionellen Symphonie unterscheidet sich die "Sinfonie pour un homme seul" nicht nur durch ihr Klangmaterial, sondern auch durch die Form seiner Präsentation: Dies ist keine Orchestermusik, die sich zunächst in einer Partitur aufschreiben und dann später, dieser Partitur getreu, im Konzertsaal aufführen ließe. Geräusche, Stimmlaute, instrumentale und musikalische Fragmente präsentieren sich hier auf ganz andere Weise: In technischer Konservierung - in Bruchstücken, die zusammenmontiert und gemischt sind wie in einem Film. Diese technische Faktur des Stückes erklärt auch, daß sein Aufbau und sein Klangbild anderen Gesetzen folgen als eine klassische Sinfonie.

Wer das Stück im Klangbild aus dem Jahre 1951 hört, kann feststellen, daß es gleichsam historische Patina angesetzt hat: Es klingt wie eine historische Aufnahme, wie das akustische Pendant eines vergilbten Fotos.

Zuspielung: Anfang 1951 1. Montagestruktur

Pierre Henry, einer der beiden Autoren, hat das Stück 1966 überarbeitet. In dieser modernisierten Fassung ist die "Sinfonie" seitdem bekannt - in einem deutlich verbesserten Klangbild, neu montiert, auch kompositorisch umgearbeitet, gleichsam in der Kombination von Restauration und remake.

Zuspielung: Anfang 1966 1. Montagestruktur (evtl. länger bis tinset oder späterem lautem Ruf)

Die "Sinfonie pour un homme seul", ein Hauptwerk der Medienkunst des 20. Jahrhunderts, ist ein Stück, das im ursprünglichen Klangbild und und im ursprünglichen Formaufbau heute kaum noch jemand kennt. Die Fassung, die Pierre Henry 1966 herstellte, hat dieser Lautsprechersinfonie nicht nur ein neues Klangbild gegeben, sondern auch den Aufbau und sogar Auswahl und Abfolge der einzelnen Teile wesentlich verändert. Hier zeigt sich ein weiterer Unterschied zur klassischen Sinfonie: Es gibt keinen normativ festgelegten viersätzigen Aufbau, sondern viele einzelne, unterschiedlich kombinierbare Klangstrukturen und vollständige Sätze. Die Situation ist ähnlich wie in einem Film, von dem unterschiedliche Schnittfassungen existieren. - Die Paradoxie der Lautsprechersinfonie geht so weit, daß wir heute das Stück nicht einmal in der Form kennen, in der es am 18. März 1950 erstmals öffentlich erklang. Nur ein Bericht über dieses denkwürdige Ereignis ist uns erhalten. Er stammt von Pierre Schaeffer.

Zitator Pierre Schaeffer (lebendige Baritonstimme - vgl. O-Töne Schaeffer in Schaeffer-Sendung Frisius):

"Am 18. März 1950 war das Stammpublikum des "Triptyque" zu einem "Ersten Konzert mit Musique concrète" in den ehrwürdigen Saal der Ecole Normale de Musique eingeladen. Die Gäste dieses Abends waren die ersten, denen etwas für Konzertbesucher Wesentliches vorenthalten wurde: es saßen keine Musiker auf dem Podium.

Diese Gäste erlebten auch als erste eine Probe des noch Ungehörten: nicht nur bislang nie gehörte Klänge, sondern auch Klangverbindungen, von denen sich nicht sagen ließ, ob sie vorherbestimmten Gesetzen von Komponisten folgten, oder ob sie einfach dem Zufall entsprungen waren. Und wenn von dieser neuen Sprache ein Bann ausging, so war sie doch auch befremdlich, um nicht zu sagen ungehörig. Handelte es sich überhaupt noch um eine Sprache?"

Zuspielung: Ausschnitt mit Stimmen (z. B. Valse 58´´ oder aus Intermezzo oder aus Scherzo)

Sinfonie pour un homme seul: Der Titel ist mehrdeutig. In musikalischer Deutung enthält er gleichsam eine Instrumenten- und Besetzungsangabe: Sinfonie für einen Menschen allein, für einen Menschen solo. Dieser Titel spielt auf die Ausgangsidee an - die Vorstellung eines Stückes aus Geräuschen und Klängen, die ein Mensch allein hervorbringen kann.

Zitator PS: (evtl. Geräusche hineinschneiden)

Ein Mensch singt, er schreit (das ist besser), er pfeift, er atmet in seine Hände hinein, er tappt mit den Füßen, er schlägt sich an seine Brust, er kann sich sogar mit dem Kopf gegen die Wand werfen..

So endet die "Sinfonie pour un homme seul", die gemacht ist aus den Geräuschen, die der Mensch hervorbringen kann - ohne irgendeine Hilfe, mit nichts in den Händen, nichts in den Taschen, so wie wir am Ende unserer Tage dastehen werden, das wir allein bestehen müssen, ohne irgend eine Hilfe, und selbst ohne Mikrophon. Amen.

Zuspielung: Prosopopée I Schluß (hu-hu) (evtl.)

Der Titel dieser Lautsprechersinfonie kann verschieden gedeutet werden - nicht nur als Hinweis auf die verwendeten klanglichen Mittel, sondern auch als Kennzeichnung des Hörers, an den das Stück sich wendet. Dieser Bedeutung entspräche die deutsche Übersetzung des Titels, die vielen deutschsprachigen Hörern geläufig ist: "Sinfonie für einen einsamen Menschen."

Zitator Pierre Schaeffer:

"Die Bezeichnung "homme seul" hat ihre Berechtigung sowohl vom Rückgriff auf das vom Menschen imitierte Geräusch als einziger Quelle wie von der Einsamkeit der Autoren her, die ein Widerhall der Einsamkeit des heutigen Menschen ist, der sich in der Masse verloren sieht."

Die "Sinfonie für einen einsamen Menschen" ist paradoxerweise das Werk von zwei einsamen, in der Isolation der Studioarbeit miteinander verbundenen Künstlern: Pierre Schaeffer und Pierre Henry. Beide haben - in der Zusammenarbeit mit einem Techniker, mit einigen Mitwirkenden bei Sprechrollen und instrumentalen Partien - ein radikales Kontrastmodell zu einer traditionellen Sinfonie geschaffen: Unsichtbare Musik.

Zuspielung: Collectif (murmelnde Stimmen) oder evtl. Apostrophe - absolument

Die beiden Autoren dieses Stückes, Pierre Schaeffer und Pierre Henry, sind zugleich die wichtigsten Ausführenden, die wichtigsten Verantwortlichen für die klangliche Realisation: Sie haben das gesamte Klangmaterial gesammelt, montiert, gemischt und technisch verarbeitet. Dabei gingen sie zunächst von einer einfachen Arbeitsteilung aus: Pierre Henry, Jahrgang 1927, - ein Kompositionsschüler von Olivier Messiaen, der auch Schlagzeug und Klavier studiert hatte - war zuständig für die Klangproduktion im Aufnahmeraum. Die "Sinfonie" ist die erste größere künstlerische Arbeit, mit der dieser universelle Klangkünstler 1950 an die Öffentlichkeit getreten ist - das erste Dokument einer neuen Klangästhetik, die Henry mehr als drei Jahrzehnte später bilanziert hat in "Journal de mes sons", einer Produktion für das Hörspielstudio des Westdeutschen Rundfunks aus dem Jahre 1982.

Zuspielung: Journal: Anfang Henry Tout ce...

anschließend auch Anf. dt. Übers. (Ingrid Caven, Stimme)

Pierre Schaeffer, Jahrgang 1910, hat zunächst als Techniker im französischen Rundfunk gearbeitet. Während des zweiten Weltkrieges, zur Zeit der deutschen Besetzung, hatte er in Beaune ein radiophones Versuchsstudio aufgebaut, in dem neue Formen der Literaturvermittlung und der Hörspielproduktion entwickelt wurden - in der Hoffnung auf bessere Zeiten nach der Befreiung. An die Resistance-Zeit denkt Schaeffer auch im Zusammenhang der "Sinfonie" zurück. Am Anfang dieses Stückes hört man pochende Geräusche, die Schaeffer auch als Erinnerungen an den nächtlichen Terror der Gestapo versteht.

Zuspielung: Anfang 1. Montagestruktur 1966

1948 hat Pierre Schaeffer die experimentelle Arbeit im Radiostudio auf einen anderen Erfahrungsbereich ausgeweitet und dabei die neuartige Klangkunst der "musique concrète" entdeckt: Eine technisch produzierte Hörkunst, deren Ausgangsmaterial beliebige mit dem Mikrophon aufnehmbare, speicherbare und montierbare Hörereignisse sein können - unabhängig davon, ob sie in den Erfahrungsbereich des Umweltgeräusches, der Sprache oder der Musik im bisher bekannten Sinne gehören.

Das komplexeste und vielschichtigste Ergebnis der ersten Studioarbeit im Jahre 1948 ist die "Etude pathétique.

Zuspielung: Etude pathétique Ausschnitt (von Anfang oder Schluß z. B. Ausschnitt Klett)

Pierre Henry hat schon frühzeitig Kontakt zu Schaeffer gefunden. In seinem Hörspiel "Journal de mes sons" erzählt er, wie es zur ersten Begegnung gekommen ist.

Zuspielung: Journal, Voir l´invisible

In seinem Hörstück hat Henry auch einiges über die "Sinfonie" gesagt. Über die Zusammenarbeit mit Schaeffer erzählt er in diesem Zusammenhang allerdings nichts. Er hebt vielmehr hervor, daß die ersten Impulse für diese Gemeinschaftsarbeit offenbar von Pierre Schaeffer ausgegangen sind.

Zuspielung: Journal, Prosopopée

Aus ausführlichen Aufzeichnungen, die Pierre Schaeffer veröffentlicht hat, wissen wir, daß seit seinen ersten Entwürfen die Konzeption der "Sinfonie" auf Grenzbereiche zwischen Musik und Hörspiel zielte.

Zitator Pierre Schaeffer:

In der Tat ist die "Sinfonie pour un homme seul" eine Oper für Blinde, eine Handlung ohne Inhalt, eine Dichtung aus Geräuschen und Klängen, aus Splittern von Texten und Musik.

Zuspielung: Eroica (Sendung; Alternative: Scherzo, PS 4,22)

Die Zusammenarbeit zwischen Schaeffer und Henry hat offenbar dazu geführt, daß der Anteil der Musik an der Gesamtplanung letzlich größer ausgefallen ist als ursprünglich vorgesehen. Deutlich wird dies vor allem in den Passagen, in denen das von Henry gespielte präparierte Klavier dominiert.

Zuspielung: Partita 1´12

Die "Handschriften" Schaeffers und Henrys in diesem ihren ersten - und zugleich wichtigsten - Gemeinschaftswerk könnte man in erste Annäherung unterscheiden durch die Aspekte des Radiophonen und des Instrumentalen: Auf Schaeffer verweisen die vielen Montagestrukturen mit Umweltgeräuschen, Stimmen, teilweise auch kurzen Instrumentalfragmenten; auf Henry verweisen Passagen, in denen über längere Zeit hinweg zusammenhängendes Instrumentalspiel zu erkennen ist - sei es auch in starker geräuschhafter Verfremdung auf dem präparierten Klavier. Aus Schaeffers Aufzeichnungen läßt sich entnehmen, daß er in diesem Gemeinschaftsprojekt eines akustischen Films gleichsam als Drehbuchautor und Regisseur fungiert hat, während Henry vor allem die Musik zum vorgegebenen Szenarium lieferte. - Dieser Modus der Arbeitsteilung könnte auch erklären, warum Henry in seinem autobiographischen "Journal de mes sons" so wenig über seine - zweifellos beträchtlichen - Anteile an der "Sinfonie" gesprochen hat; statt dessen hat er betont, wie stark sein erstes vollkommen eigenständiges Werk sich von der Konzeption der "Sinfonie" unterscheidet: Die "Musique sans titre".

Zuspielung: Henry, Musique sans titre a) aus Journal, b) aus Stück

Die "Sinfonie", eine gelungene Gemeinschaftsarbeit, ist natürlich mehr als die Summe der Anteile beider Autoren. Beim genaueren Studium kann man deutlicher erkennen, wie sich die Aktivitäten von Schaeffer und Henry mehr und mehr durchdrungen und vielfältig ergänzt haben: Einerseits hat Henry sich die technischen Kenntnise Schaeffers zu eigen gemacht. Andererseits sind viele Montagestrukturen (die sonst eher der Arbeitsweise Schaeffers entsprechen) offensichtlich auch nach musikalischen Gesichtspunkten "komponiert", wie sie Henry, der Schüler Olivier Messiaens, effizient in die gemeinsame Arbeit einbringen konnte. Hinzu kommt, daß daß "montierte" und "gespielte" Klangstrukturen sich häufig verbinden, überlagern und wechselseitig beleuchten.

Zuspielung: montierte und gespielte Klangstrukturen z. B. Scherzo (oder evtl. Erotica) Sendung: Klavier, hohe Stimmfragmente

An vielen Stellen der "Sinfonie" kommt es so weit, daß die Gestaltungsprinzipien des neuen Hörspiels und der neuen Musik voll integriert erscheinen in der Synthese Akustischer Kunst. Dies zeigt sich auch im ersten Satz, den nach Henrys Worten usprünglich Schaeffer allein begonnen hatte - im montierten Dialog zwischen Geräuschen, Instrumentalklängen und Stimmen, in der Verbindung der musikalisch geformten Melodie mit unterschiedlichen Möglichkeiten der stimmlichen Artikulation. Auch in dieser Musik hat Henry seine Spuren hinterlassen: Man hört, wie er die Melodie mitsingt - ohne Worte, in einer eigentümlichen Mischung von Ironie und Agressivität.

Zuspielung: Prosopopée I, Henry singt Melodie (ironisch, aggressiv)

Im größeren Zusammenhang dieses Satzes wird deutlich, daß es hier nicht um den Gegensatz zwischen musikalisch gestalteten und technisch konservierten Klängen geht, sondern um etwas anderes: Im Kontext der Montagen wird selbst die Melodie unwichtig. Nicht sie verändert sich in mehreren Durchgängen, sondern die vokale Artikulation. Man achtet nicht mehr auf die Folge der Töne, sondern auf die wechselnden Ausdrucksqualitäten, in denen sie erklingen.

Zuspielung: Prosopopée I, Melodie mehrere Durchgänge (evtl.)

In der "Sinfonie pour un homme seul" begann in ersten Ansätzen, was Henry später seinem "Journal" als zentrale Aufgabe seine gesamten kompositorischen Arbeit präsentiert hat: Die Entwicklung einer Akustischen Kunst, in der sich die Vielfalt der gesamten Hörwelt widerspiegelt.

Zuspielung: Henry, Journal: Man kann die gesamte konkrete Musik...

Die Ergebnisse der universellen Klangkunst der musique concrète sind schon in ihrem ersten Hauptwerk ebenso überraschend wie ihre Ursprünge einfach zu bestimmen sind. Am Anfang standen Experimente, die Schaeffer 1948 in einem Pariser Rundfunkstudio begonnen hatte und die ihn über die Grenzen des Hörspiels hinaus geführt hatten bis zu einer neuartigen experimentellen Musik und zu einer Musik und Hörspiel übergreifenden Medienkunst. Diese Entwicklung begann damit, daß Schaeffer mit Geräuschen experimentierte und sie dabei aus dem Kontext des traditionellen Hörspiels herauslöste.

Zitator Pierre Schaeffer:

"Ich komme ins Studio, um "Geräusche sprechen zu lassen"...

Sie beschwören nicht mehr das Dekor oder die Schicksalsknoten einer Handlung, sondern artikulieren sich durch sich selbst,... und selbst wenn Bruchstücke von Worten oder Sätzen darin enthalten sind, so haben sie doch fraglos eine Ablenkung erfahren, wo nicht ihres Sinnes so doch ihres Gebrauches."

Zuspielung: Intermezzo Schluß (ab vorletztem Klavierakkord g-d-fis)

In der Studioarbeit mit aufgenommenen Klängen entdeckte Schaeffer neue Möglichkeiten nicht nur für das Hörspiel, sondern auch für die Musik.

Zitator Pierre Schaeffer:

"Anstelle von Musik ist ex abrupto eine Art Klangpoesie entstanden."

Eine wichtige Inspirationsquelle bei der Erfindung dieser Musik entsprang aus einer technischen Panne: Pierre Schaeffer nutzte den Effekt eines künstlichen Ostinatos, wie er sich beim Abspielen defekter Schallplatten ergeben kann: Die geschlossenen Schallplattenrillen - die "sillons fermés".

Zuspielung: sillons fermés, PS 3,20. Vortrag PS, evtl. auch Forts. (Schleifen aus GRM-Archiv)

Der Effekt der geschlossenen Schallplattenrille findet sich in vielen Sätzen der "Sinfonie" - besonders sinnfällig in dem Satz "Erotica". Hier sind mehrfach wiederholte Klangmuster im Wechsel und in Überlagerungen zu hören: Eine Frauenstimme mit Lauten des Lockens, Lachens und Staunens (entnommen einer Schallplatte aus Tahiti); als Begleitung hierzu wechselnde vokale oder instrumentale Klangmuster.

Zuspielung: Erotica (Schleifen) von Anfang, ausblenden auf Vokalglissando

Der Effekt der geschlossenen Schallplattenrille erlaubt es, aus Aufnahmen kurze Ausschnitte auszuwählen und beliebig oft zu wiederholen. Dadurch lösen sich die Klangfragmente aus ihrem ursprünglichen Kontext und werden zu eigenständigen Klangobjekten. Beispielsweise können kurze Ausschnitte aus Sprachaufnahmen zur Musik isolierter Wortfetzen oder Stimmlaute werden, die in der mehrfachen Wiedergabe gleichsam unter dem Mikroskop erscheinen.

Zuspielung: Vokalschleifen - Erotica Fortsetzung oder Intermezzo oder GRM-Archivschleifen aus PS 3,20 Schluß

Eine andere Technik, die zur Ausbildung selbständiger und neuartiger Klangobjekte führen kann, ist die Rückwärts-Wiedergabe: Man ändert die Richtung, in der eine Aufnahme abgespielt wird. Solche rückwärts abgespielten Klänge sind in der "Sinfonie" häufig zu finden.

Zuspielung: Stimmen rückwärts - Scherzo PS 4, 22 Schluß (Frauenst., Pfeifen, Ausschn. aus 1´07)

Wenn man bei solchen rückwärts wiedergegebenen Klängen die Abspielrichtung nochmals umkehrt, kann man ihr ursprüngliches Klangbild wiederfinden.

Zuspielung: Die vor. Zuspielung in entgegengesetzter Abspielrichtung: Pfeifen - Frauenst. original PS 4,23 Anf.

Es genügt, einige Klänge in veränderter Richtung abzuspielen, um herauszufinden, wie stark der gesamte Klangeindruck sich dabei verändern kann - zum Beispiel so, daß eine Stimme, die in der einen Abspielrichtung zu sprechen schien, in der anderen Abspielrichtung plötzlich zu singen scheint. So verwandelt sich der Klangeindruck, so entschleiert sich das Geheimnis der Genese eines zunächst rätselhaften Klanges.

In der "Sinfonie" hört man viele Passagen mit Stimmlauten, aber kaum jemals klar verständliche Sprache. Offensichtlich kommt es in erster Linie darauf an, wie die Stimmen klingen, welche Ausdrucksqualitäten sie übermitteln - und nicht darauf, welche sprachlichen Mitteilungen sie machen.

Zuspielung: 2 Stimmen rückwärts (F, M) Scherzo, PS 4, 24 15´´

In der "Sinfonie" findet man Passagen mit rückwärts wiedergegebenen Stimmen, bei denen man nur die Verlaufsrichtung ändern muß, um das ursprünglich Gesagte zu verstehen.

Zuspielung: Rückwärtswiedergabe der vorigen Aufnahme, aus Scherzo, PS 4,25 15´´

Bei solchen Rekonstruktionen kann man beispielsweise herausfinden, daß in der "Sinfonie" auch Sprachaufnahmen vorkommen, die an ältere Rezitations- und Hörspielexperimente Schaeffers anknüpfen - zum Beispiel dann, wenn eine Aufnahme zu Grunde liegt, in der zwei Stimmen (eine Frauenstimme und eine Männerstimme) asynchron denselben Text rezitieren. Wenn in der "Sinfonie" eine solche Aufnahme allerdings rückwärts abgespielt wird, geht die Textverständlichkeit verloren: Das Hörspiel verwandelt sich so in Musik und in Akustische Kunst.

evtl. Zuspielung: Wiederholung der vorigen Zuspielung, u. U. gekürzt

Eine weitere wichtige technische Verfremdung, die zur Ausbildung neuartiger Klangobjekte führen kann, ist die Veränderung der Wiedergabegeschwindigkeit - die Beschleunigung (im Zeitraffer: rascher und in höherer Lage) oder die Verlangsamung (in Zeitlupe: langsamer und in tieferer Lage). Dieser Effekt läßt sich besonders an Sprachaufnahmen leicht identifizieren.

Zuspielung: Sprache im Zeitraffer - aus Intermezzo PS 4, 26 (Stück) oder 4, 27 (Schleife)

Man kann die Entstehung solcher Klangeffekte verdeutlichen, wenn man ein einzelnes Klangmuster herauslöst, es langsamer abspielt, dann mehrfach wiederholt und dabei beschleunigt, bis es wieder im Zeitraffer so schnell und hoch klingt wie zuvor. Dann hört man, wie ein bekannter Klang sich almählich verwandelt in einen unbekannten.

Zuspielung: a) evtl. Sprachschleife aus Intermezzo, PS 4, 27

b) Sprachschleife verlangsamt - wieder beschleunigt PS 4,28

Schnitte und Mischungen, künstliche Wiederholungen, Rückwärts-Wiedergaben, Zeitlupe- und Zeitraffer-Effekte: Diese und ähnliche Techniken können dazu führen, auch aus scheinbar bekannten Klangmaterialien neue Klangwirkungen herauszuholen.

Zuspielung: Intermezzo Zusammengang PS 4,29

Die Welt der unsichtbaren Klänge präsentiert sich dabei in der verwirrenden Vielfalt der uns umgebenden komplexen Realität - einer Realität, die uns immer rätselhafter wird, je tiefer wir in sie eindringen. Die Herkunft der Klangmaterialien wird dabei unwesentlich - auch ihre Zuordnung zu den Bereichen etwa des Hörspiels oder der Musik. So entsteht Akustische Kunst, die, vom scheinbar Bekannten ausgehend, den Weg öffnet ins Unbekannte.

Zuspielung: Sinfonie pour un homme seul vollständig

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