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3.2.4 Gedanken über eine neue Musik


Pierre Henry: Gedanken über eine neue Musik

Wir müssen die Musik zerstören. Musik im Sinne einer HARMONIE DER SPHÄREN entspricht unseren Vorstellungen nicht mehr. Ebenso wie sich das Sakrale aus dem Absoluten in das Leben selbst hineinbewegt hat, muß die Musik sich aus der musikalischen Kunst in den Bereich der sakralen Angst bewegen.

Wenn es richtig ist, daß die musikalischen Konventionen, die Harmonie, die Komposition, die Regeln, die Zahlen, der mathematische Aspekt und die Formen einst einen Sinn im Hinblick auf das Absolute hatten, dann kann die heutige Musik einen Sinn nur haben im Kontext der Schreie, des Lachens, der Sexualität, des Todes. All dies bringt uns in Kommunikation mit dem Kosmischen, d. h. mit der lebendigen Materie des Welt im Feuer. Wir müssen unverzüglich eine Richtung einschlagen, die zum rein Organischen führt. Diesem Gesichtspunkt ist die Musik schon viel näher gekommen als die Poesie oder die Malerei. Allerdings hat sie es noch nicht gewagt, sich selbst zu zerstören, um zu leben. Um intensiver zuleben, wie es jedes wirklich lebendige Phänomen vermag. Das heißt nicht, daß jede Regel vermieden werden sollte, jede Strenge oder jede Form; vielmehr geht es nur um diejenigen Regeln, die tatsächlich wirksam sind. Ich glaube, daß das Aufnahmegerät gegenwärtig das beste Instrument des Komponisten ist, der tatsächlich mit dem Ohr und für das Ohr schaffen will. Wenn wir gegen das Mechanische kämpfen wollen, müssen wir mechanische Methoden verwenden; dann wird sich die Maschine gegen sich selbst wenden. Ein aufgenommener Klang ist nichts Maschinelles mehr.

Der Mythos der Moderne existiert nicht mehr. Die Geräusche werden wir unterdrücken. Sie werden ihr Fleisch und ihre Bedeutung verlieren und gleichsam sakralisiert werden.

Das wird vielleicht die konkrete Musik sein, die Musik des LEBENs und der SONNE.

Pierre Henry

Le Conservatoire, octobre 1950

Hier zitiert nach dem booklet zur CD: Pierre Henry, Des Années 50, MANTRA 032, WM 366,

64 20 32

Pierre Henry: Selbstporträt

Ich fühle mich als Musiker. Ich lebe für die Musik; alles, was mich umgibt, durchdenke ich musikalisch; was ich sehe, strukturiere ich musikalisch.

Die Musik muß das Reflex des "Ich" dessen sein, der sie komponiert.

Ich lebe in einer hermetisch abgeschlossenen Welt, in der es nichts als meine Musik gibt.

Professionell beherrsche ich meine eigene Musik, aber nicht die Musik der Vergangenheit,

ja nicht einmal die Musik der anderen. Ich glaube, daß man nur das lieben kann, was man selbst produziert, nur seine eigene Musik.

Meine ist ein Instrument. Meine Musik ist ein physiologisches Bedürfnis.

Meine Musik ist mein Grund zu existieren. MEINE MUSIK: DAS BIN ICH SELBST.

Nur dann, wenn die Klänge, die seit der Kindheit uns entflohen sind, wieder auflebe, ist künstlerisches Schaffen möglich. Mir liegt nicht daran, daß meine Musik analysiert wird; mir liegt daran, daß sie wahrgenommen wird - roh, wie sie ist.

In "La Fin de Satan" schrieb Victor Hugo: "Jedes Geräusch, das man lange Zeit gehört hat, wird zu einer Stimme". Es gibt keine Geräusche, es gibt nur Klänge.

Mein erster Schock ist nicht Olivier Messiaen gewesen, sondern die Natur; Messiaen war die organisierte Natur. Ich war immer stark beeindruck von Naturklängen - nicht nur von den Klängen des Gewitters, des Windes oder des Regens, sondern auch von den Klängen der Tiere und Menschen und auch von den mechanischen Klängen, z.B. des Zuges. Aber zunächst waren diese Klänge für mich eher eine Quelle als eine Zeremonie. Sie erlaubten es mir, im <inneren ihres Verlaufes neue Klänge zu entdecken, d. h. man konnte sie sehr rasch vergrößern. Es gab eine Art Mischung,, eine Art Verwandlung, die sich in mir selbst vollzog. Die Klänge der Natur hört man ein erstes Mal, aber später hört man noch sie wieder, im Inneren. Man hört sie wieder, wenn man allein ist, und dann sind sie noch unerhörter als zuvor.

Ich bin nicht wirklich ein "Klangjäger" gewesen. Mir genügt es, wenn ich einige Tage auf dem Lande oder an einem interessanten Ort oder im Studio bin, um in meinem Klangarchiv eine neue Orientierung zu finden und viele "neue" Klänge zu erzeugen.

DAS EINZIGE INTENVISE INTERESSE IN MEINEM LEBEN IST ES,

DIESE KLANGWELT ZU VERVOLLSTÄNDIGEN, ZU VERBESSERN,

DIE MICH HEIMSUCHT UND IN MEINEM INNEREN WOHNT.

Pierre Henry. Aus dem booklet der CD: Pierre Henry Des Années 50, MANTRA A 032, WM 366, 64 2032

Pierre Henry: Ein spiritueller Weg: DIE KONKRETE MUSIK

Die Musik ist eine Kunst der Architektur, der Konstruktion, der Synthese.

Die konkrete Musik ist vor allem die Bewkußtsamchung des Elements, des Klangobjektes.

Sie beginnt mit der Analyse. Mehr war nicht nötig, um das Paradoxe hervorzubringen:

"konkrete Musik" und, mit ihr, das Mißverständnis.

"Die konkrete Tatsache", das ist die Rückkehr zum Realen.

"Die musikalische Tatsache", das ist der Ausdrduck, den der schaffende Künstler durch dieses Material vermittelt.

Was bedeutet es, daß dieses Reale sich eines Tages als ungewöhnlich, neu und unüblich erweist?

Fesselnd, belebend und wahrhaftig bleibt allein die psychologische Erfahrung, die der Mensch sich in dieser "Pilgefahrt zu den Quellen" erschließt, und ebenso der Kontakt, denn er aufs Neue erschafft mit dem handwerklichen Einsatz seiner Mittel. Denn "das Wichtige, mehr noch als die ästhetischen Entdeckungen und Annäherungen", das Wichtige ist es, "das Wesen einer Kunst in ihren instrumentalen Techniken" zu entdecken.

Aus dieser Unterscheidung resultiert das Mißverständnis - aus der Unterscheidung zwischen der Rückkehr zum Konkreten auf der philosophischen Ebene des Weges und auf der Ebene des musikalischen Ausdrucks

Zwischen dem Material - dem Realen, dem Konkreten - und seiner Architektur gibt es eine Beziehung von Ursache und Wirkung. Ist des nicht wahr, daß heute alle Intellektualismen dieses fundamentale Gesetzt in eine Beziehung von Ursache und Wirkung verwandeln?

Die Entwicklung der Kunst ist, in der Musik mehr noch als in jeder anderen Kunst, mit instrumentalen Fortschritten verbunden. Diese Fortschritte sind nicht nur das Sprungbrett, sondern manchmal auch der Motor des Fortschritts. Die technischen Möglichkeiten regen die Imagination an, die versucht, zunächst noch abstrakte Möglichkeiten greifbar und real zu machen. Wir müssen den Einfluß dieser handwerklichen Arbeit auf die Kunst anerkennen, wenn die elektroakustischen Entdeckungen dieser letzten Jahren uns an die Schwelle einer neuen Welt bringen sollen.

Unsere Musik hat ihren Ort in einer Welt, die bis heute unerforscht geblieben ist und die die Musik um neue Parameter erweitert, die unter unaufhörlich sich erneuernden Formen entsteht und wieder entsteht, die ihre Farben und Timbres verändert, die langsam ihre Reichtümer enthüllt, sich bis ins Unendliche hinein vervielfacht. Unsere Musik ist uns von der Erfahrung gegeben, und die Welt, die sie uns eröffnet, scheint anderen Dimensionen zu gehorchen.

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