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1.2.2 DIAMOR.DOC


Rudolf Frisius

Iannis Xenakis: Diamorphoses

Z: Diamorphoses vollständig

Die Tonbandkomposition "Diamorphoses" ist eine Musik der ständigen Verwandlung. Iannis Xenakis, der 1922 geborene griechische Komponist, hat dieses Stück 1957 in einem Studio des Pariser Rundfunks realisiert. - Schon in den ersten Sekunden des Stückes wird deutlich, worum es geht: Um Klänge in Bewegung.

Z: Anfang Diamorphoses: Geräuschgliss - ausblenden nach erstem Einsatz der hohen Gliss.impulse

Die Idee einer Musik der ständigen Veränderung ist für Iannis Xenakis von zentraler Bedeutung. In den "Diamorphoses", seiner ersten Tonbandkomposition, arbeitet er mit Klängen und Produktionstechniken, die sich für die Realisierung solcher Musik besonders gut eignen. Hier entwickelt sich eine vollkommen neuartige Musik der gleitenden Klangflächen: Es gibt keine ausgehaltenen Töne mehr - geschweige denn deren Gruppierungen in Rhythmen und Melodien, deren Überlagerungen in Harmonien oder polyphonen Schichtungen. Statt dessen entwickeln sich kontinierliche Formprozesse. Mit technisch produzierten Klängen realisiert Xenakis hier komplexe Formverläufe, die er zuvor, in einem etwas älteren Stück - in einfacherer Weise - auch schon mit traditionellen Klangmitteln hatte erreichen wollen: Auf den Donaueschinger Musiktagen 1955 hatte Xenakis Aufsehen erregt mit einer Musik, die schon in ihrem Anfangsteil vollkommen im Zeichen fließender Klänge und gleitender, expandierender Klangflächen steht.

Z: Metastaseis Anfang (Ausschnitt NoKo): Gliss-Ausbreitung - Klangfläche - Tremolo (-Triangel ausbl.)

Schon in seinem ersten Orchesterstück "Metastaseis" macht Xenakis deutlich, worauf es ihm in seinen neuen Gestaltungsideen ankommt: Es geht nicht darum, daß der Hörer Bekanntes wiedererkennen sollte - seien es bekannte Klänge, seien es bekannte Gestaltungs- und Formprinzipien, die sich mit mehr oder weniger traditionellen Methoden analysieren ließen. Selbst mit den Instrumenten des traditionellen Sinfonieorchesters gelingt es Xenakis, neue Klangwirkungen und Klangprozesse zu erreichen: Alle Instrumentalisten der Streichergruppe beginnen auf dem kleinen g, dem tiefsten Ton der Violinen. Alle Streicher spielen Glissandokurven, die von diesem Ton ausgehen - die Violinen aufsteigend, die anderen Streicher absteigend. Jeder einzelne Streicher spielt dabei seine eigene Stimme: Für jeden von ihnen hat Xenakis einen anderen Zeitpunkt festgelegt, zu dem er sich vom Ausgangston lösen und mit seiner Glissandolinie beginnen muß. Auch die Geschwindigkeit des Glissandos - gleichsam der Steigungswinkel - ist für jeden Streicher individuell festgelegt. So ergibt sich ein dichtes Knäuel von Glissandokurven, bei dem der Hörer sich über die Gestaltung der einzelnen Glissando keine präzisen Vorerwartungen bilden kann, während der größere Zusammenhang der Formentwicklung für ihn klar nachvollziehbar und weitgehend auch vorhersehbar ist: Ein Prozeß der Ausweitung im Tonraum.

Z: Anfang Metastaseis Anfang: Ausweit. im Tonraum (Ausschn. NoKo oder kürzer)

Xenakis hat darauf geachtet, daß das Prinzip der gleitenden Veränderungen zu Beginn seines Orchestestückes nicht allein steht: Gleichzeitig mit den Glissandoschwärmen hört man Schlagzeugakzente - woodblock-Schläge in unregelmäßigen Abständen und in wechselnden Lautstärken. Xenakis hat diese Schlagimpulse einmal mit einem bildlichen Vergleich erklärt: Sie präsentieren sich ähnlich wie eine unregelmäßig tickende Uhr, die einzelne Zeitpunkte markiert - und die dadurch um so deutlicher Kontraste setzt zum kontinuierlichen Klangstrom der Glissandi.

Z: Anfang Metastaseis Glissandi und woodblocks (Ausschn. NoKo)

"Metastaseis", das erste Orchesterstück von Iannis Xenakis, beginnt damit, daß kurze, scharf akzentuierte Schlagzeugimpulse sich überlagern mit langsam gleitenden Tönen: in einem in den Details komplexen, im größeren Zusammenhang aber klar ausgerichteten Formprozeß - in einem Prozeß der Verbindung von Geräuschen und Tönen, von kurzen Impulsen und lang ausgedehnten Glissando-Strukturen. -

Auch "Pithoprakta", das 1956 entstandene zweite Orchesterstück von Iannis Xenakis, beginnt mit einem groß angelegten Formprozeß - allerdings unter anderen Vorzeichen: Xenakis eröffnet die Komposition nicht im Zeichen des ausgehaltenen Tones und seiner gleitenden Bewegung, sondern im Zeichen des kurzen Geräusches. Erst nach und nach verwandeln sich die Geräusche in Töne - zunächst in kurze Pizzikati, später in gestrichene Töne, nach einiger Zeit auch in länger ausgehaltene Töne, aus denen sich dann ein vieltöniger Akkord bildet, als erster Ruhepunkt.

Z: Pithoprakta Anfang bis dichter Akkord (in Überlagerung mit Tonrepetitionen)

Die Formentwicklung zu Beginn von "Pithoprakta" mündet in einem Stadium, von dem die Formentwicklung zu Beginn von "Metastaseis" ausgegangen ist: In der Synthese von Punkt und Fläche, von Klangstrom und markierenden Akzenten.

Z: evtl. Zusammenschnitt Anf. Metastaseis (Gliss-woodblock) - Akkord Pithoprakta (mit Mar-Repetitionen)

Akzente und Klangströme, geschnittene Zeit und fließende Zeit verbinden sich in der Musik von Iannis Xenakis nahtlos miteinander. Das Prinzip der Verbindung diese verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten findet sich nicht nur zu Beginn seines ersten Orchesterstückes, sondern auch zu Beginn seiner ersten Tonbandkomposition: Auch zu Anfang der "Diamorphoses" hört man nicht nur flutende Klangentwicklungen, sondern auch einzelne Klangakzente.

Z: Diamorphoses Anfang (kurz - ausblenden nach ersten hohen Impulsglissandi)

Der Formprozeß, der Vorgang der einleitenden Expansion, vollzieht sich in der elektroakustischen Tonbandmusik "Diamorphoses" durchaus ähnlich wie im Orchesterstück "Metastaseis". Deutlich wird aber auch, daß sich in der technisch produzierten Musik ganz andere Klangwirkungen ergeben: Hier beschränkt sich Xenakis nicht auf bekannte Klangfarben und klar erkennbare Tonbewegungen. Schon in den ersten Klängen der "Diamorphoses" wird vielmehr deutlich, daß hier auch komplexe Geräusche eine wichtige Geräusche spielen: Zu hören sind hier nicht klar erkennbare Tonhöhen, sondern dichtere Klangballungen, die zunächst in einem ziemlich diffusen Klangbild und in ziemlich tiefer Lage einsetzen. Dieser dunkle Klangstrom überlagert sich mit einzelnen massiven Geräuschakzenten, die den Klangverlauf markieren - wie Donnerschläge.

Z: Diamorphoses Anfang (kurz, mit mehreren Donnerschlägen)

Die Verwandlungsprozesse, die Iannis Xenakis im Anfangsteil seiner "Diamorphoses" komponiert hat, sind nicht nur Bewegungen im Tonraum, sondern in ihnen vollziehen sich auch Übergänge von bekannten zu weniger bekannten Klängen. Die Geräusche, mit denen das Stück beginnt, zeigen Spuren dessen, was man aus der täglichen Hörerfahrung kennt: Sie erinnern an Donnergrollen und Donnerschläge.

Z: evtl. Wiederholung der vorigen Zusp.: Anf. Donnergrollen, Donnerschläge

Erst im weiteren Verlauf des Stückes wird deutlich, daß auch die Erinnerungen an bekannte Umweltgeräusche nichts Festes und Unveränderliches sind. Sie sind vielmehr nur Ausgangspunkte in einem Prozeß universeller Verwandlung. Je weiter sich die aufgenommmenen Klänge sich im Tonraum bewegen, desto deutlicher wird auch der Prozeß ihrer technisch manipulierten Veränderung, der Verfremdung ihres ursprünglichen Klangbildes. Man hört Verwandlungen von Umweltgeräuschen in unbekannte Klänge, von konkreter Musik in elektroakustische Musik.

Diamorphoses Anfangsabschnitt Klett MaL

Der Anfang des Stückes läßt Assoziationen mit aus der Erfahrung bekannten Klängen zu: Donnergrollen - Donnerschläge - später ein langgezogenes, glissandierendes Pfeifen, das an einen Düsenjäger erinnern könnte. Erst später sind Klänge zu hören, die sich vom Alltäglichen deutlich und umißverständlich unterscheiden: Kurze Gleitklänge in extrem hoher Lage.

Diamorphoses aus Anfang: Extrem hohe kurze Gleitklänge (sehr kurzer Ausschnitt)

Olivier Messiaen, der einstige Lehrer und spätere Förderer von Iannis Xenakis, hat - offenbar gestützt auf Informationen des Komponisten - verraten, wie diese Klänge zu Stande gekommen sind: durch technische Manipulation. Xenakis hat hier Aufnahmen von Glocken auf eine Transpositionsmaschine gelegt, mit der sich Tonhöhen nicht nur in Stufen, sondern auch gleitend, in Glissandi verändern lassen: Ein Phonogen. Dieses Gerät hat eine wichtige Rolle gespielt in dem Studio, das Iannis Xenakis bei der Realisation zur Verfügung stand - in dem von Pierre Schaeffer begründeten Pariser Versuchsstudio für konkrete Musik am damaligen Staatsrundfunk ORTF. Im Klangarchiv dieses Studios finden sich viele Beispiele der Arbeit mit diesem Gerät.

Z: evtl. Demo-Beispiele GRM-phonogène, aus SWF-Soirée Schaeffer

Das Phonogen verändert aufgenommmene Klänge nach dem Prinzip von Zeitlupe oder Zeitraffer: Die Klänge werden technisch so manipuliert, daß sie entweder langsamer und tiefer klingen (als das Original) oder schneller und höher.

Z: evtl. aus voriger Z Ausschnitt (Original-)Zeitlupe-Zeitraffer (z. B. gesungenes a Frauenstimme)

Wenn Iannis Xenakis in seinem ersten Tonbandstück mit dem Phonogen arbeitet, dann gelingt ihm der Nachweis, daß auch mit einer bereits bekannten Studiotechnik neue und überraschende Klangwirkungen erreicht werden können. Xenakis folgt dabei dem Grundansatz der konkreten Musik, daß auch aus scheinbar altvertrauten Klängen durch Schnitt und Verfremdung, durch Montage und Mischung neuartige Klangobjekte und Klangstrukturen entwickelt werden können. Neu bei Xenakis ist jedoch die Art und Weise, wie er solche Vorgänge strukturiert und integriert in größer dimensionierte Formprozesse. Die auf das Phonogen gelegten Glockenklänge sind in seiner Komposition die ersten Signale einer Klangentwicklung, die Schritt für Schritt vom Bekannten ins Unbekannte führt. Was zu Beginn des Stückes sich in ersten Ansätzen angedeutet hat, erfüllt sich später im weiteren Verlauf.

Z: Diamorphoses Anf. Ausschnitt Mc

In der Komposition "Diamorphoses" verwandeln sich nicht nur die Klänge, sondern auch die Beziehungen zwischen ihnen. Anfangs finden sich Übergänge von bekannten zu unbekannten Klängen. Später führen die Verwandlungen von einem Unbekannten ins andere. Man hört aufwärts und abwärts wandernde Glissandi im weiten Tonraum schnell abreißend oder in langen Zügen, mit erkennbaren Tonhöhen oder mit Übergängen ins Geräuschhafte, im Ablauf eng verschmolzen durch Blendungen und Überlagerungen. Nur wenige Geräuschakzente gliedern den fließenden Formverlauf.

Z: Diamorphoses Auschnitt Mc vollständig

"Diamorphoses" ist eine Musik der stetigen Verwandlung, die mehr und mehr vom Einzelnen, Gegliederten sich entfernt und übergeht zum Zusammenhängenden, sich bruchlos Entwickelnden. Diese Formidee macht eine ausgedehnte und kontinuierliche Formentwicklung möglich, wie sie für die Musik der fünfziger Jahre sonst durchaus ungewöhnlich ist - zumal für die damals entstandene elektroakustische Musik. Kontinuität ergibt sich hier aus der dichten Überlagerung gleitender Klangflächen - in einer überaus radikalen und konsequenten Ausgestaltung aller Klänge und Klangstrukturen. Neue Klangwirkungen, Form- und Ausdruckswerte erscheinen hier als Konsequenz eines extrem folgerichtigen kompositorischen Ansatzes. -

Wie genau Xenakis sich der extremen Konseqauenz seines Ansatzes bewußt war, läßt sich verdeutlichen im Vergleich: 1958, ein Jahr nach den "Diamorphoses", realisierte er ein sehr kurzes Stück, das gleichsam die extreme Gegenposition zur weit gespannten Formentwicklung der "Diamorphoses" markiert: In "Concret PH" konzentriert Xenakis sich nicht auf langsam gleitende Klänge, die sich prozeßhaft verändern, sondern auf kurze Klangpunkte, die in dichter Massierung ein kompaktes, vorwiegend statisches Klangbild ergeben.

Z: Concret PH vollständig

In "Concret PH", der zweiten Tonbandkomposition von Xenakis, dominiert ein Klangbild mit vielen kurzen und dicht massierten Geräuschen. Es erinnert an die Geräusch-Kaskaden, mit denen Xenakis sein zweites Orchesterstück "Pithoprakta" eröffnet.

Z: Anfang Pithoprakta massierte Geräusche auf Corpus der Streichinstrumente (Holzgeräusche)

Typisch für die Musik von Iannis Xenakis - schon in den ersten Werken, mit denen er bekannt wurde - ist der Mut zur Konsequenz, den sie widerspiegelt. Dieser Mut geht so weit, daß man fast glauben könnte, in jedem neuen Stück würden alle Regeln der Komposition nochmals von Anfang an neu erfunden. Eine große Komplexität im Bereich der Definition und Differenzierung klanglicher Details verbindet sich hier mit überaus sinnfälligen Prinzipien großformaler Gestaltung: der Bewegung und Verwandlung, der Reihung und Schichtung, der Gliederung und Verbindung, der reichhaltig akzentuierten und abgestuften Vielschichtigkeit, der einfallsreichen kompositorischen Vermittlung im Wechsel zwischen verschiedenen Klangeigenschaften und Klangtypen. Hier artikuliert sich eine Musikauffassung, die für das gesamte Musikdenken von Iannis Xenakis charakteristisch ist und die besonders sinnfällig hervortritt in seinen elektroakustischen Kompositionen: Dies ist Musik, die sich in wesentlichen Aspekten von der Sprache unterscheidet. Sie arbeitet nicht mit Tönen oder Tongruppen, die sich ähnlich disponieren ließen wie Laute, Wörter und Sätze einer Sprache. Wenn man diese Musik mit anderen künstlerischen Ausdrucksformen vergleichen will, dann sollte man weniger an Sprache und Literatur denken als an die Bildenden Künste, insbesondere an die Architektur. Konstruktive Strenge verbindet sich hier mit formaler Klarheit, mit der plastischen Artikulation neuartiger Klangqualitäten und Klangwirkungen. Diese Musik der universellen Verwandlung und Vermittlung markiert einen Höhepunkt in der kompositorischen Entwicklung von Iannis Xenakis und in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts.

Z: Diamorphoses vollständig
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