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1.2.5 HIKETIDE.DOC


Rudolf Frisius

Iannis Xenakis: Hiketides - Suppliantes d´Eschyle (1964)

Die Komposition "Hiketides" ist in ihrer ursprünglichen Fassung, als Theatermusik für die gleichnamige Tragödie des Aischylos (den ersten Teil der Atriden-Tetralogie), eine szenische Musik für Frauenchor (50 Alt- oder Mezzosopranstimmen, jede mit einem Triangel, Maracas, Tambourin, Glocken und Zimbeln) und Instrumentalensemble (2 Trompeten, 2 Posaunen; 2 erste Violinen, 2 zweite Violinen, 2 Bratschen, 2 Celli, 2 Kontrabässe). Die Uraufführung dieser Fassung fand am 26. 7. 1964 in Epidaurus statt. Eine rund zehnminütige Konzertfassung dieser Musik ist (als Instrumentalsuite) geschrieben für 2 Trompeten, 2 Posaunen und Streicher (6 erste Violinen, 2 zweite Violinen, 8 Celli, 4 Kontrabässe - oder ein Vielfaches dieser Besetzung).

Die Instrumentalsuite "Hiketides - Suppliantes d´Eschyle" für Blechbläser und Streicher läßt in einfachen, plastischen Gestaltbildungen eine klare Gliederung in verschiedene Teile erkennen:

1. Streicher und Bläser (sehr laut - diminuendo): 2 Akkordblöcke mit rasch repetierten Tönen, die im mehrfachen Wechsel zwischen beiden Instrumentalgruppen immer länger werden nach den Zeitproportionen folgender Zahlenreihe: 1 - 2 - 3 - 5 - 8 - 13 - 21 - 33 - 55. (Diese Abfolge entspricht, mit einer geringfügigen Abweichung - 33 statt 34 - der "Fibonacci-Reihe", bei der jeweils eine neue Zahl sich als Summe der beiden vorausgegangenen Zahlen ergibt; nach dieser Zahlenreihe, deren Zahlen sich an die Proportion des goldenen Schnittes annähern, läßt sich die Zunahme der Dauern mit dem Ohr deutlich verfolgen.)

2. Streicher (mittlere Lautstärke): Flageolett-Töne, wechselnd in unregelmäßigen Abständen (für jede der 5 Stimmen in einer anderen Periodizität)

3. Bläser (sehr laut): Geschichtete Tonbewegungen; im Staccato wiederholte Töne, die sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten bewegen: 3 Töne pro Zeiteinheit in der 1. Trompete (beginnend mit absteigenden Tönen) - 5 Töne pro Zeiteinheit in der 2. Trompete (beginnend mit aufsteigenden Tönen) - 4 Töne pro Zeiteinheit (von Anfang an in wechselnden Bewegungsrichtungen; Töne zu zwei und zwei ineinander geschachtelt in beiden Posaunen): in allen Schichten hört man zunächst nur kleinere, später auch größere Intervalle, während später sich mehr und mehr größere Intervalle und eine Bewegungstendenz der Ausweitung im Tonraum durchsetzt

4. Streicher (sehr laut) und Bläser (mittlere Lautstärke) im Übergang zum Glissando: Die Streicher (die allein beginnen und am Schluß wieder allein übrig bleiben) wechseln zwischen Glissandi und - im mittleren, durch Pausen abgegrenzten Abschnitt - Flageolett-Tönen ähnlich wie im 1. Teil; die Glissandi im letzten Abschnitt dieses Teiles klingen abwechselnd "rauh", im Tremolo, und "glatt", ohne Tremolo; die Tonbewegungen verlaufen zunächst in den einzelnen Schichten verschieden, während sich später einheitliche, von der Mittellage im Crescendo in beide Richtungen auseinanderstrebende Bewegungen durchsetzen, die schließlich zu einem lauten, weit gespannten Tremolo-Akkord führen. - Die Bläser spielen, ähnlich wie zuvor im 3. Teil, extrem rasch repetierte Töne ("Flatterzunge"), die sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten durch den Tonraum bewegen; nach einer Pause setzen sich diese Bewegungen in abgewandelter Form fort (mit gedämpften und im Glissando miteinander verschliffenen Tönen); später kehrt die ursprüngliche Klangfarbe wieder, und der kompakte Bläsersatz löst sich auf im mehrfachen Wechsel zwischen 2 Posaunen und 2 Trompeten.

5. Bläser und Streicher (sehr laut beginnend; später mit individuell geschichteten Akzenten und Schwellklängen als im Inneren belebte Akkordfläche): Der einleitende Akkord erklingt in extrem weiter Tonlage und in extrem raschen Repetitionen der Bläser (Flatterzunge) und Streicher (Tremolo). Die Belebung der Akkordfläche im Inneren konkretisiert sich anfangs durch Tonwiederholungen der Bläser (jeder in einer anderen Tonart), dann (nach einer Generalpause) durch Schwellklänge, Akzente und rhythmisch eigenständige Tonwiederholungen in allen Instrumenten; im Streichersatz wird die Akkordfläche zweimal aufgebrochen durch kurze, geräuschhaft verfremdete (mit dem Bogenholz geschlagene) Töne. Zwei markante Tutti-Akkorde beschließen diesen Teil: Der erste im Wechsel der Streicher zwischen langen Tönen und Tremoli, der zweite im extrem langen An- und Abschwellen.

6. Streicher und Bläser (laut, in Überblendungen und Überlagerungen: als sich verengende Akkordfläche im Übergang von der Harmonie in den einzelnen Ton): Verschiedene Akkordtöne setzen ein - laut und kompakt in allen Streichern (im Tremolo, auf denselben Tönen wie am Ende des vorausgegangenen Teiles); leise und lang ausgehalten in den Bläsern. Allmählich färbt die Klangfläche sich um durch individuelle Bewegungen der einzelnen Akkordtöne: chromatisch aufsteigend bei den tiefen Tönen, chromatisch absteigend bei den hohen Tönen. So verwandelt sich der Akkord in ein komplexes Liniengeflecht: beginnend in den Streichern - später überblendend in die Bläser - danach wiederum überblendend zu den Streichern (die im reduzierten Satz beginnen, in den ersten und zweiten Celli; später kommen erste Violinen und Kontrabässe hinzu, verdrängen für kurze Zeit die Celli und verbinden sich dann mit diesen und den zweiten Violinen) - schließlich vereint in beiden Instrumentengruppen wobei die individuellen, rhythmisch und dynamisch genau abgestuften chromatischen Tonbewegungen aller Instrumente schließlich in denselben Ton führen, der als mächtiger Schwellklang diesen Teil beschließt.

7. 2 Streicher (Solocelli) - 2 Bläser (Trompeten) - Übergang zum Tutti: Verwandlung eines Tones in eine Melodie (bzw. in elementare Zweistimmigkeit). Alle Instrumente beginnen auf demselben, bereits am Schluß des vorigen Teiles erreichten Ton. Dieser Ton wird im Unisono repetiert (mit wechselnden Geschwindigkeiten und Lautstärken), und aus ihm wächst schon nach wenigen Takten ein quasi archaisch-folkloristischer zweistimmiger Satz heruas, den zwei Solo-Celli spielen - in engen Tonschritten, die sich auf (in beiden Stimmen geringfügig verschiedene) Viertonräume (altgriechische Tetrachorde) beschränken. Wenn beide Stimmen am Schluß dieses zweistimmigen Abschnittes wieder auf ihrem gemeinsamen Ausgangston angelangt sind, wird das Cello-Duo von einem (wiederum satztechnisch sehr einfachen) Trompeten-Duo abgelöst. Auch die beiden Trompeten treffen sich schließlich wieder auf demselben Ton, der mächtig anschwillt und sich danach in Repetitionen auflöst (in verschiedenen Oktavlagen, sich beschleunigend und verdichtend, in einem großen Crescendo sich ausbreitend auf das gesamte Orchester).
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