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1.2.6 IOOLKOS.DOC


Rudolf Frisius

Iannis Xenakis: IOOLKOS für Orchester

Das Orchesterwerk IOOLKOS, das Iannis Xenakis zum 75jährigen Jubiläum der Donaueschinger Musiktage im Jahre 1996 komponiert hat, läßt sich interpretieren als Gegenstück zu dem ersten Orchesterstück, mit dem er 1955 an die Öffentlichkeit getreten ist, und zwar ebenfalls auf den Donaueschinger Musiktagen: METASTASEIS. Im Vergleich beider Kompositionen läßt sich erkennen, wie stark sich Musiksprache von Iannis Xenakis im Laufe einer kompositorischen Entwicklung über mehr als vier Jahrzehnte hin gewandelt hat.

Deutliche Unterschiede zeigen sich schon in den Anfängen beider Stücke. Obwohl beide Werke für große Orchesterbesetzungen komponiert sind, hat Xenakis die instrumentalen Klangmassen in ihnen durchaus unterschiedlich behandelt.

METASTASEIS beginnt, im Tutti der Streicher, auf einem einzigen Ton: Auf g, dem tiefsten Ton der Streicher. Von diesem Ton ausgehend, spielen alle Streicher individuell verschiedene Glissandokurven - aufsteigend in den hohen Streichern, absteigend in den tiefen Streichern. Die breit ausströmende Glissandoentwicklung reißt nach einiger Zeit plötzlich in allen Streichinstrumenten ab, und jeder Streicher hält den Ton aus, auf dem er gerade angekommen ist. Alle spielen also verschiedene Töne, die eine breite Tontraube bilden, die den gesamten Tonraum erfüllt. Dieser riesige Cluster ensteht also als Resultat eines groß angelegten Formprozesses - als kompakte, aber wandelbare Klangmasse, die auch am Schluß des Stückes nur vorübergehend wiederkehrt, um sich dann anschließend wieder zurückzuverwandeln in den einzelnen (allerdings dynamisch und im Tremolo belebten) Ton.

Auch in IOOLKOS spielen Cluster eine wichtige Rolle. Dies wird deutlich schon im ersten Takt, an einem lange ausgehaltenen Cluster der hohen Holzbläser und der Streicher. Was in METASTASEIS erst allmählich aus dem Einzelton und seinen Bewegungen entsteht, ist in IOOLKOS gleich von Anfang an vorhanden. Überdies ist noch ein anderer Unterschied wichtig: In METASTASEIS erscheint der Cluster nur vorübergehend, als flüchtiger Ruhepunkt im Kontext einer Entwicklung mit sonst unablässigen Tonbewegungen, häufig auch in innerer Bewegung der dicht übereinander geschichteten Töne (in dynamischen Schwellkurven oder in Tremoli). In IOOLKOS hingegen sind die zahlreichen Cluster, die das gesamte Stück prägen (vor allem in den stark besetzten Streichern), blockhaft und statisch gesetzt - wie in dichten Schichtungen gleichsam vervielfältigte ausgehaltene Töne, die als Cluster charakteristisch reiche, sich dem Geräusch nähernde Klangfarben gewinnen, oder auch wie charakteristisch gefärbte Klänge eines Schlaginstruments. Die Cluster sind behandelt wie "dicke Töne", die jeweils von mehreren Instrumenten gemeinsam gespielt werden und die sich (mit jeweils charakteristisch unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Bewegungsrichtungen) im Tonraum bewegen.

Dieses Gestaltungsprinzip wird schon in den ersten Takten des Stückes deutlich: Dichte Glissandostrukturen, mit denen Xenakis seit METASTASEIS berühmt geworden ist, spielen hier nur noch eine untergeordnete Rolle. Statt dessen bemerkt man starre oder ruckartig sich bewegende Klangblöcke, die sich in verschiedenen Instrumentengruppen überlagern: In langsamem Wechsel (Holzbläser) oder in etwas rascher fließender Bewegung (2 verschiedene Streichergruppen: 1. Violinen, Bratschen, Kontrabässe 1-4 - 2. Violinen, Celli, Kontrabässe 5-8). Erst im dritten Takt kommt es dazu, daß Cluster sich nicht nur im ruckartigen Wechsel verändern, sondern auch gleitend, in Glissandi der beteiligten Instrumente; die Glissandi erscheinen hier, anders als beim frühen Xenakis, nicht als dominierende Bewegungsform in einer komplexen Massenstruktur, sondern als eine von mehreren gleichberechtigten Tonformen (neben der Bewegung Null, d. h. dem ausgehaltenen Klang oder Klangkomplex, und der ruckartigen, in Stufen oder Sprüngen plötzlich sich verändernden Bewegung).

Die Glissandi verdichten und komplizieren sich im weiteren Verlauf und greifen dabei auch auf die Blechbläser über, so daß der volle Tuttiklang erreicht wird. So steigert sich nicht nur die Dichte des Klangbildes, sondern auch die melodische Bewegung. Außerdem verstärkt sich die rhythmische Bewegung, da die Cluster in den verschiedenen Schichten immer rascher aufeinander folgen und schließlich sogar in einzelnen Klangblöcken die Instrumente asynchron zu spielen beginnen mit vorzeitig einsetzenden, verzögernden oder rhythmisch unterteilenden Tönen. So ergibt sich ein klanglich reicher, ruhig fließender und gleichwohl im größeren Zusammenhang sich zielgerichtet verändernder Formverlauf.
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