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Rudolf Frisius
Instrumentalmusik - Elektroakustische Musik - Musikdenken
Die ersten elektroakustischen Arbeiten von Iannis Xenakis
("Diamorphoses" und "Concret PH")
im Vergleich mit seinen ersten Orchesterwerken
("Metastaseis" und "Pithoprakta")
Die Tonbandmusik "Diamorphoses", die Iannis Xenakis 1957 in einem Studio des Pariser Rundfunks realisiert hat, ist Musik der ständigen Verwandlung. Schon in den ersten Sekunden des Stückes wird deutlich, worum es geht: Um Klänge in Bewegung.
Die Idee einer Musik der ständigen Veränderung ist für Iannis Xenakis von zentraler Bedeutung. In den "Diamorphoses", seiner ersten Tonbandkomposition, arbeitet er mit Klängen und Produktionstechniken, die sich für die Realisierung soclher Musik besonders gut eigenen. Hier entwickelt sich eine vollkommen neuartige Musik der gleitenden Klangflächen: Es gibt keine ausgehaltenen Töne mehr - geschweige denn deren Gruppierungen in Rhythmen und Melodien, deren Überlagerungen in Harmonien oder polyphonen Schichtungen. Statt dessen entwickeln sich kontinuierliche Formprozesse. Mit technisch produzierten Klkängen realisiert Xenakis hier komplexe Formverläufe, die er zuvor, in einem etwas älteren Stück - in einfacherer Weise - auch schon mit traditionellen Klangmitteln hatte erreichen wollen: Auf den Donaueschinger Musiktagen 1955 hatte Xenakis Aufsehen erregt mit einer Musik, die schon in ihrem Anfangsteil vollkommen im Zeichen fließender Klänger und gleitender, expandierender Klangflächen steht. Schon in diesem seinem ersten Orchesterstück, das den Titel "Metastaseis" führt, macht Xenakis deutlich, worauf es ihm in seinen neuen Gestaltungsideen ankommt: Es geht nicht darum, daß der Hörer Bekanntes wiedererkennen sollte - seien es bekannte Klänge, seien es bekannte Gestaltungs- und Formprinzipien, die sich mit mehr oder weniger traditionellen Methoden analysieren ließen. Selbst mit den Instrumenten des traditionellen Sinfonieorchesters gelingt es Xenakis, neue Klangwirkungen und Klangprozesse zu erreichen: Alle Instrumentalisten der Streichergruppe beginnen auf dem kleinen g, dem tiefsten Ton der Violinen. Alle Streicher spielen Glissandokurven, die von diesem Ton ausgehen - die Violinen aufsteigend, die anderen Streicher absteigend. Jeder einzelne Streicher spielt dabei seine eigene Stimme: Für jeden von ihnen hat Xenakis einen anderen Zeitpunkt festgelegt, zu dem er sich vom Ausgangston lösen und mit seiner Glissandolinie beginnen muß. Auch die Geschwindigkeit des Glissandos - gleichsam der Steigungswinkel - ist für jeden Streicher individuell festgelegt. So ergibt sich ein dichtes Knäuel von Glissandokurven, bei dem der Hörer sich über die Gestaltung des einzelnen Glissando keine präzsien Vorerwartungen bilden kann, während der größere Zusammenhang der Formentwicklung für ihn klar nachvollziehbar und weitgehend auch vorhersehbar ist: Ein Prozeß der Ausweitung im Tonraum. - Zu Beginn dieses Orchesterstückes hat Xenakis darauf geachtet, daß das Prinzip der gleitenden Veränderungen nicht allein steht: Gleichzeitig mit den Glissandoschwärmen hört man Schlagzeugakzente - woodblock-Schläge in unregelmäßigen Abständen und in wechselnden Lautstärken. Xenakis hat diese Schlagimpulse einmal mit einem bildlichen Vergleich erklärt: Sie präsentieren sich ähnlich wie eine unregelmäßig tickende Uhr, die einzelne Zeitpunkte markiert - und die dadurch um so deutlicher Kontraste sezt zum kontinuierlichen Klangstrom der Glissandi. So ergibt sich ein in den Details komplexer, im größeren Zusammenhang aber klar ausgerichteter Fomprozeß - ein Prozeß der Verbindung von Geräuschen und Tönen, von kurzen Impulsen und lang ausgedehnten Glissando-Strukturen.
Auch "Pithoprakta", das 1965 entstandene zweite Orchesterstück von Iannis Xenakis, beginnt mit einem groß angelegten Formprozeß - allerdings unter anderen Vorzeichen: Xenakis eröffnet die Komposition nicht im Zeichen des ausgehaltenen Tones und seiner gleitenden Bewegung, sondern im Zeichen des kurzen Geräusches. Est nach und nach verwandeln sich die Geräusche in Töne - zunächst in kurze Pizzikati, später in gestrichene Töne, nach einiger Zeit auch in länger ausgehaltene Töne, aus denen sich dann ein vieltöniger Akkord bildet, als erster Ruhepunkt.
Die Formentwicklung dieses Stückes mündet in einem Stadium, von dem sie in "Metastaseis", dem zuvor entstandenen Orchesterstück, ausgegangen war: In der Synthese von Punkt und Fläche, von Klangstrom und markierenden Akzenten.
Akzente und Klangströme, geschnitte Zeit und fließende Zeit verbinden sich in der Musik von Iannis Xenakis nahtlos miteinander. Das Prinzip der Verbindung dieser verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten findet sich nicht nur zu Beginn seines ersten Orchesterstückes, sondern auch zu Beginn seiner ersten Tonbandkomposition: Auch zu Beginn der "Diamorphoses" hört man nicht nur flutende Klangentwicklungen, sondern auch einzelne Klangakzente. Der Formprozeß, der Vorgang der einleitenden Expansion, vollzieht sich in dieser elektroakustischen Tonbandmusik durchaus ähnlich wie im Orchesterstück "Metastaseis". Deutlich wird aber auch, daß sich in der technisch produzierten Musik ganz andere Klangwirkungen ergeben: Hier beschränkt Xenakis sich nicht auf bekannte Klangfarben und klar erkennbare Tonbewegungen. Schon in den ersten Klängen der "Diamorphoses" wird vielmehr deutlich, daß hier auch komplexe Geräusche eine wichtige Rolle spielen: Zu hören sind nicht klar erkennbare Tonhöhen, sondern dichtere Klangballungen, die zunächst in einem ziemlich diffusen Klangbild und in ziemlich tiefer Lage einsetzen. Dieser dunkle Klangstrom überlagert sich mit einzelnen massiven Geräuschakzenten, die den Klangverlauf markieren - wie Donnerschläge. Die Verwandlungsprozesse, die Iannis Xenakis im Anfangsteil dieses Stückes komponiert hat, sind also nicht nur als Bewegungen im Tonraum beschreibbar, sondern auch als Übergänge von bekannten zu weniger bekannten Klängen. Die Geräusche, mit denen das Stück beginnt, zeigen Spuren dessen, was man aus der täglichen Hörerfahrung kennt - sie erinnern an Donnergrollen und Donnerschläge. Erst im weiteren Verlauf des Stückes wird deutlich, daß auch die Erinnerungen an bekannte Umweltgeräusche nichts Festes und Unveränderliches sind, sondern nur Ausgangspunkte in einem Prozeß universeller Verwandlung. Je weiter sich die aufgenomenen Klänge im Tonraum bewegen, desto deutlicher wird auch der Prozeß ihrer technisch manipulierten Veränderung, der Veränderung ihres ursprünglichen Klangbildes. Man hört Vewandlungen von Umweltgeräuschen in unbekannte Kklänge, von konkreter Musik in elektroakustische Musik.
Assoziationen mit aus der Erfahrung bekannten Klänge ergeben sich am ehesten am Anfang des Stückes - nicht nur bei Donnergrollen und Donnerschlägen, sondern auch bei einem später einsetzenden langgezogenen, glissandierenden Pfeifen, das an einen Düsenjäger erinnern könnte. Erst später sind Klänge zu hören, die sich vom Alltäglichen deutlich und unmißverständlich unterscheiden: Kurze Gleitklänge in extrem hoher Lage. Olivier Messiaen, der einstige Lehrer und spätere Förderer von Iannis Xenakis, hat - offenbar gestüttzt auf Informationen des Komponisten - verraten, wie diese Klänge zustande gekommen sind: durch technische Manipulation. Xenakis hat hier Aufnahmen von Glocken auf eine Transpositionsmaschine gelegt, mit der sich Tonhöhen nicht nur in Stufen, sondern auch gleitend, in Glissandi verändern lassen: Ein Phonogen. Dieses Gerät hat eine wichtige Rolle gespielt in dem Studio, das Iannis Xenakis bei der Realisation zur Verfügung stand - in dem von Pierre Schaeffer begründeten Pariser Versuchsstudio für konkrete Musik am damaligen Staatsrundfunk ORTF. Im Klangarchiv dieses Studios finden sich viele Beispiele der Arbeit mit diesem Gerät. Das Phonogen verändert aufgenommene Klänge nach dem Preinzip von Zeilupe oder Zeitraffer: Die Klänge werden technisch so manipuliert, daß sie entweder langsamer und tiefer kklingen (als das Original) oder schneller und höher. - Wenn Iannis Xenakis in seinem ersten Tonbandstück mit den Phonogen arbeitet, dann gelingt ihm der Nachweis, daß auch mit einer bereits bekannten Studiotechnik neue und überraschende Klangwirkungen erreicht werden können. Xenakis folgt dabei dem Grundansatz der konkreten Musik, daß auch aus scheinbar altvertrauten Klängen durch Schnitt und Verfremdung, durch Montage und Mischung neuartige Klangobjekte und Klangstruktuten entwickelt werden können. Neu ist bei Xenakis jedoch die Art und Weise, wie er solche Vorgänge strukturiert und integriert in größer dimensionierte Formprozesse. Die auf das Phonogen gelegten Glockenklänge sind in seiner Komposition die ersten Signale einer Klangentwicklung, die Schritt für Schritt vom Bekannten ins Unbekannte führt. Was zu Beginn des Stückes sich in ersten Ansätzen angedeutet hat, erfüllt sich später im weiteren Verlauf.
In der Komposition "Diamorphoses" verwandeln sich nicht nur die Klänge, sondern auch die Beziehungen zwischen ihnen. Anfangs finden sich Übergänge von bekannten zu unbekannten Klängen. Später führen die Verwandlungen von einem Unbekannten ins andere. Man hört aufwärts und abwärts wandernde Glissandi im weiten Tonraum schnell abreißend oder in langen Zügen, mit erkennbaren Tonhöhen oder mit Übergängen ins Geräuschhafte, im Ablauf eng verschmolzen durch Blendungen und Überlagerungen. Nur wenige Geräuschakzente gliedern den fließenden Formverlauf.
"Diamorphoses" ist eine Musik der stetigen Verwandlung, die mehr und mehr vom Einzelnen, Gegliederten sich entfernt und übergeht zum Zusammenhängen, sich bruchlos Entwickelnden. Diese Formidee macht eine ausgedehnte und kontinuierliche Formentwicklung möglich, wie sie für die Musik der fünfziger Jahr sonst durchaus ungewöhnlich ist - zumal für die damals entstandene elektroakustische Musik. Kontinuität ergibt sich hier aus der dichten Überlagerung gleitender Klangflächen - in einer durchaus radikalen und konsequenten Ausgestaltung aller Klänge und Klangstrukturen. Neue Klangwirkungen, Form- und Ausdruckswerte erscheinen hier als Konsequenz eines extrem folgerichtigen kompositorischen Ansatzes. Wie genau Xenakis sich der extremen Konsequenz dieses Ansatzes bewußt war, läßt sich verdeutlichen im Vergleich: 1958, ein Jahr nach den "Diamorphoses", realisierte er ein sehr kurzes Stück, das gleichsam die extreme Gegenposition zur weit gespannten Formentwicklung der "Diamorphoses" markiert: In "Concret PH" konzentriert Xenakis sich nicht auf langsam gleitende Klänge, die sich prozeßhaft verändern, sondern auf kurze Klangpunkte, die in dichter Massierung ein kompaktes, vorwiegend statisches Klangbild ergeben. In diesem Stück dominiert ein Klangbild mit vielen kurzen und dicht massierten Geräuschimpulsen. Es erinnert an die Geräusch-Kaskaden, mit denen Xenakis sein zweites Orchesterstück "Pithoprakta" eröffnet.
Typisch für die Musik von Iannis Xenakis - schon in den ersten Werken, mit denen er bekannt wurde - ist der Mut zur Konsequenz, den sie widerspiegelt. Dieser Mut geht so weit, daß man fast glauben könnte, in jedem neuen Stück würden alle Regeln der Komposition nochmals von Anfang an neu erfunden. Eine große Komplexität im Bereich der Definition und Differenzierung klanglicher Details verbindet sich hier mit überaus sinnfälligen Priipien großformaler Gestaltung: der Bewegung und Verwandlung, der Reihung und Schichtung, der Gliederung und Verbindung, der reichhaltig akzentuierten und abgestuften Vielschichtigkeit, der einfallsreichen kompositorischen Vermittlung im Wechsel zwischen verschiedenen Klangeiegenschaften und Klangtypen. Hier artikuliert sich eine Musikauffassung, diie für das gesamte Musikdenken von Iannis Xenakis charakteristisch ist und die besonders sinnfällig hervortritt in seinen elektroakustischen Kompositionen: Dies ist Musik, die sich in wesentlichen Aspekten von der Sprache unterscheidet. Sie arbeitet nicht mit Tönen oder Tongruppen, die sich ähnlich disponieren ließen wie Laute, Wörter, und Sätze einer Sprache. Wenn man diese Musik mit anderen künstlerischen Ausdrucksformen vergleichdn will, dann sollte man weniger an Sprache und Literatur denken als and die Bildendne Künste, insbeosndere an die Architektur. Konstruktive Strenge verbindet sich hier mit formaler Klarheit, mit der plastischen Artikulation neuartiger Klangqualitäten und Klangwirkungen. Diese Musik der universellen Verwandlung und Vermittlung markiert einen Höhepunkt in der kompositorischen Entwicklung von Iannis Xenakis und in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts.
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