Dokument: Inhalt\ Diverse Texte\ Bruckner\ BRUCK4B.DOC
[Zurück]   [Vor]   [Hoch]   [Startseite]        Index

 

7.10.6 BRUCK4B.DOC


Bruckner (4)

Z: Mah II 3 Anfang (Einleitung - Thema - Fortsetzung ähnlich Bruckner IV 3b)

Das Thema "Bruckner und Mahler" ist ein Thema der beziehungsreichen Gegensätze: Beide sind Sinfoniker mit gegensätzlichen Vorzeichen. Sie unterscheiden sich selbst dann, wenn sie ähnliche Melodien verwenden.

Z: Ausschnitt aus voriger Zuspielung: Klarinette - Vl, Kl - Vl. 8 Takte. 48´´ - 56´´

In dem rastlosen perpetuum mobile, das Mahler mit dem 3. Satz seiner 2. Symphonie darstellt, findet sich eine kleine Melodie, die an Anton Bruckner erinnert: an das Scherzo seiner 4. Symphonie.

Z: IV 3 1. Teil (8 Takte)

Bruckners Triomelodie und Mahlers Scherzomelodie ähneln sich sehr. Sie stehen aber in völlig verschiedenen Zusammenhängen: Bruckners Melodie ist ein Hauptthema, das nach den Angaben des Komponisten eine Tanzweise zur Jagd darstellen soll. Mahlers Melodie erscheint im Fluß der unaufhörlichen Sechzehntelläufe nur vorübergehend, nicht als beherrschendes Hauptthema. Diese Melodie verweist nicht auf einen Tanz, sondern auf Gesang.

Z: Wunderhornlieder: Fischpredigt

0´ - 1´09 (Anfang neue Strophe)

Anton Bruckners Tanzmelodie dient der unbefangenen Situationsdarstellung - ein einer leisen, vielleicht unbewußten Anspielung an ein Tanzstück für Klavier von Franz Schubert. Mahlers Melodie läßt sich in ihrem Verweischarakter nicht so einfach entschlüsseln. Selbst Erinnerungen an andere Melodien, die sie wachruft, bleiben mehrdeutig - Erinnerungen nicht nur an Bruckners Tanzweise, sondern auch an ein Klavierlied von Schumann, das auf einen Heine-Text geschrieben ist.

evtl. Z: Schumann: Das ist ein Flöten und Geigen aus Dichterliebe. Möglichst Fischer-Dieskau

Die Melodien Bruckners und Mahlers sind Musik über Musik. In ihren Bedeutungsfeldern unterscheiden sie sich deutlich: Bruckner bleibt im Bereich der Musik; Mahler spielt auch auf literarische Texte an, wie sie etwa als Gesangstexte in der Musik präsent sein können. Bruckners Melodie führt in ein in sich abgeschlossenes Kunstwerk, nämlich in seine vierte Symphonie. Mahlers Melodie dagegen ist offen genug, um auch über den Komponisten Mahler hinauszuweisen: Luciano Berio hat in einem Satz seiner "Sinfonia" Mahlers Sinfoniesatz mit Texten und anderen Musikstücken zusammencollalgiert, und auf diese Weise hat er die ohnehin schon vorhandene Mehrdeutigkeit dieser Musik noch weiter potenziert.

Berio: Sinfonia

Bruckner und Mahler unterscheiden sich auch dann, wenn sie Elemente der Tanzmusik verwenden. Vor allem in der Musik von Gustav Mahler bedarf es genauer Untersuchungen, wenn man etwa die genauere Bedeutung ihrer tänzerischen Elemente herausfinden will.

Z: Mah I 2, 1. Teil mit Wiederholung. 0´00 - 1´26 Ozawa

Es gibt Musik von Gustav Mahler, die, wenn man sie zum ersten Mal hört, provozierend einfach erscheinen könnte. Der Anfang des zweiten Satzes in der ersten Symphonie gehört dazu: Ein Tanzsatz, der immer wieder von vorn anfängt, so daß im größeren Zusammenhang die Musik gleichsam auf der Stelle zu treten scheint. Der Baß, die Begleitfiguren, die Melodie und ihre harmonische Begleitung sind von größter Einfachheit.

Täppisch derb setzen einfache Baßfiguren ein, wenig später auch Begleitfiguren der Holzbläser und schließlich die Melodie in den Streichern.

Z: Mah I 2: Einl 1 - Vs 1: 0´´ - 12´´ Ozawa

Wenig später beginnt die Musik gleichsam wieder von vorn - allerdings leiser und in veränderter Instrumentation: Die Begleitfiguren, die anfangs von den höheren Streichern übernommen waren, werden jetzt von den Holzbläsern übernommen - und die Melodie nimmt den umgekehrten Weg, indem sie von den Holzbläsern auf die Streicher übergeht.

Z: Mah I 2: Einl 2 - Vs 2: 22´´ - 29´´ Ozawa

Die neue Instrumentation schafft in den ersten Takten zunächst nur wenig Abwechslung. Im weiteren Verlauf aber ändert sich das Bild: Im zweiten Anlauf der Melodie kommen neue Gegenstimmen der Blechbläser, später sogar für kurze Zeit die Pauke hinzu - und in einer längeren Entwicklung steigert sich die Musik bis zum Tuttiklang.

Z: Mah I 2: 1. Teil ohne Wiederholung 0´´ bis 43´´ (abgeblendet auf Wiederkehr des 1. Baßtons)

Nur der der volle Orchesterklang, in dem Streicher, Holzbläser und Blechbläser gleichberechtigt ist, läßt klar erkennen, daß der Komponist dieser Takte mehrere Jahrzehnte jünger ist als Bruckner. Mahler, der schon in seiner Wiener Studienzeit Kontakt zu Bruckner gefunden hat, läßt in seiner Musik Passagen stehen, die weit hinter die Innovationen Bruckners zurück zu gehen scheinen - wie ein Versuch, frühere Phasen der musikalischen Romantik zu restaurieren.

ev. Z: Mah I 2: 1. Teil ohne Wiederholung - wie vor. Zuspielung oder 2. Durchgang 43´´ - 1´26

Im 1. Teil des Satzes ist das Thema zweimal zu hören: Zunächst tanzartig einfach, in getrennten Instrumentengruppen mit der Melodie in den Holzbläsern; danach breiter ausgeführt, hineingesteigert in den Tuttiklang. Mahler schreibt vor, daß der 1. Teil wiederholt werden soll. Ein Interpret wie Seiji Ozawa, der auf exakte Wiedergabe des in der Partitur Vorgeschriebenen Wert legt, hat sich daran gehalten. Andere Dirigenten sind anders verfahren. Selbst ein Mahler so nahe stehender Dirigent wie Bruno Walter hat sich entschieden, diese Wiederholung zu ignorieren - offenbar in der Sorge, daß sonst allzu oft bestimmte Motive sich wiederholen und der Eindruck einer gewissen Monotonie entsteht. In Bruno Walters Interpretation wird unverzüglich weitergespielt, so daß die Musik relativ rasch in Bewegung kommt mit einem neu ansetzenden zweiten Teil, mit der Rückkehr zum Anfangsthema und einem effektvollen Schluß.

Z: Mah I 2 Hauptteil: 1. Teil (ohne Wiederholung) und 2. Teil. Walter 0´´ - 2´53

Wenn man die Musik im größeren Zusammenhang hört, kann man herausfinden, warum sie so schwerfällig, mit vielen Wiederholungen beginnt: Zu Beginn des Stückes wollte Mahler offensichtlich deutlich machen, daß die Musik nur schwer in Gang kommt. Wenn diese Musik im 2. Teil wiederkehr, hat sich diese Situation verändert. Deswegen erscheint sie jetzt ohne die vielen Wiederholungen: Knapp und gedrängt - rasch übergehend in die abschließend Steigerung. Wie wichtig Mahler dieser Prozeß der Konzentration ist, zeigt sich noch deutlicher am Schluß des Stückes: Nach dem ruhigen Trio kehrt keineswegs der gesamte Hauptteil wieder, sondern Mahler konzentriert sich ausschließlich auf dessen Schluß - auf das Thema und die Schlußsteigerung.

Z: Mah I 2 verkürzte Reprise Hauptteil: 6´05 (überleitende Horntöne) bis 7´20 Ozawa

(ev. schon ab 5´03 Trio-Reprise mit Überschlagsstimmen)

Wer den gesamten Satz im Zusammenhang hört, könnte zunächst den Eindruck gewinnen, Mahler hätte hier aus Tanzcharakteren eine einfaches dreiteiliges Stück gebildet. In Wirklichkeit ist der Satz aber ganz anders aufgebaut: Vor dem Trio hört man ein weit ausgedehntes, zweiteiliges Hauptstück; nach dem Trio aber kommt nicht dieses gesamte Hauptstück wieder, sondern nur der Schluß seines zweiten Teiles - d. h. das verkürzte Hauptthema und die Schluß-Stretta. Mahler hat hier eine Entscheidung getroffen, zu der Bruckner nie bereit gewesen ist - zu der ihn allerdings immer wieder seine Schüler mit barbarischen Kürzungen zu nötigen versuchten: Mahler hat darauf verzichtet, in einer dreiteiligen Form den Hautteil vollständig zu wiederholen. So kommt es dazu, daß die kühnsten Passagen seines Satzes nur einmal zu hören sind und nach dem Trio nicht mehr wiederkehren.

Z: Mah I 2: Mittelsatz (ausblenden nach Anfang Reprise, Blende endet auf Melodieton e2)

1´16 - 2´45

Der 2. Teil beginnt in ähnlich provozierender Einfachheit wie der erste: Mit einfachen Figuren, die gleichsam herabrutschen, da sie in tiefer gelegenen Tonarten wiederholt werden - ähnlich wie später die herabrutschenden Figuren der Bässe, die in das Thema zurückführen. Die derben Tanzrhythmen des Anfangs kehren in gesteigerter Form wieder.

Z: Mah I 2: Anfang Mittelsatz: 1´26 bis vor 1´50 (Violineinsatz auf cis2): e1 - d1 - cis1

Die rüde Einfachheit des Anfanges hat Mahler bewußt pointiert: Mit schroffen Begleitharmonien der Bläser - im Fortissimo, bei dem die melodisch hervortretenden Bläser den Schalltrichter in die Höhe heben und gestopfte Horntöne den Gesamtklang verfremden.

Den ungewohnten Klangfarben folgen ungewöhnliche Tongestalten: Im Zentrum des Mittelteiles bleibt die Harmonie in einer weit entfernten Tonart plötzlich für lange Zeit stehen. Auf diesem paradoxen Wartepunkt kehren zuvor gehörte Melodiegestalten wieder - in völlig verändertem Licht, vermischt mit merkwürdigen Reminiszenzen an den Alptraum der Volksfestmusik im "Freischütz".

Z: Mah I 2: Mittelsatz Schluß Harmoniezentrum aus (cis-)des: 1´42 - 2´29

Spätestens in dieser mächtigen Klangstruktur wird deutlich, was in dieser Musik vollkommen neu ist: Die traditionelle Tanzmusik mit ihren konventionellen Harmoniewechseln ist vollständig vergessen. Die Musik bleibt für lange Zeit stehen auf einer einzigen Harmonie, und auf dieser Harmonie schichten sich ihre Motive und ihre Spannungskurven in völlig überraschenden Konstellationen. Mahler hebt dieses Klangzentrum auch durch die besonders einfache Art hervor, in der die Musik sich vorher dorthin bewegt - und später wieder entfernt, um zum Hauptthema zurückzukehren.

Z: Mah I 2: Mittelsatz und Anfang Reprise (Blendeschluß auf Melodieton e2)

1´16 - 2´45

Der Gegensatz zwischen Mahler und Bruckner wird deutlich, wenn man Mahlers Tanzsatz in A-Dur mit einem Scherzo Bruckners, das in der gleichen Tonart steht - mit dem dritten Satz der 6. Symphonie. Das tänzerische Trio dieser Symphonie steht in der gleichen Tonart wie Mahlers Tanzsatz. Im Zentrum steht eine Harmoniewendung, die zum Hauptthema zurückführt. Es ist genau dieselbe Harmoniefolge, die später auch Mahler verwendet hat. Um so auffälliger ist es, wie anders dieser Übergang bei Bruckner klingt.

Z: Bruckner, 3. Symphonie 2. Fassung: Trio Rückgang Des-A

3´41 - 3´54 (Melodieton e2)

Bruckner gestaltet seinen Übergang als Farbwechsel: Die Melodie kreist um einen hohen Ton, der plötzlich eine neue Harmonie erhält. Bruckner verbindet hier, was Mahler deutlich trennt mit seinen rumpelnden Baßfiguren. Schon in diesem kleinen Detail zeigen sich grundlegende Charakterunterschiede zwischen beiden Komponisten: Mahlers Musik ist, auch in scheinbar einfachsten Passagen, voller Risse, voller Spannungen, voll von jähen Beschleunigungen und Verlangsamungen; Bruckner gestaltet in großen Bögen einen zusammenhängenden harmonischen Fluß.

Z: Bruckner III 3, 2. Fassung Trio (evtl. erst ab 2. Teil) - Scherzo 1. Teil. 2´30 - 5´28

Bruckners Musik braucht ihre Zeit - und zwar nicht nur für ihre Ruhezonen und ihre architektonisch ausgewogenen Wiederholungen, sondern auch für ihre großangelegten dynamischen Prozesse. Diese Musik atmet ganz anders als die Musik Mahlers. Dies läßt sich im Vergleich zeigen: Der Tanzsatz, den Mahler als 2. Satz seiner 1. Symphonie gestaltet, steht in der gleichen Tonart wie Bruckners 6. Symphonie, die Mahler selbst aufgeführt hat: In A-Dur. Das Scherzo der 6. Symphonie von Bruckner, das in a-moll beginnt und in A-Dur schließt, ist ein charakteristisches Beispiel für seinen symphonischen Stil und für dessen polare Gegensätzlichkeit zur Symphonik Mahlers. Zu Beginn des Satzes gibt es, anders als bei Mahler, keinerlei Tanz-Assoziationen. Im ersten Teil dieses Satzes baut die Musik sich, von kleinsten Elementen ausgehend, in zwei großen Spannungsbögen auf.

Z: Bruckner VI 3 Anfang, Jochum: 1. Teil, 1. und 2. Steigerungswelle

0´´ - 1´05

Die Harmonie, mit der der erste Teil abschließt, ist aufgebaut auf demselben Ton, mit dem der Satz zuvor begonnen hat: Mit pochenden Baßschlägen, mit aufwärts jagenden Figuren und mit rhythmisch gespannten Melodielinien, die ihnen aus der Höhe entgegenkommen.

Z: Bruckner VI 3, 1. Steigerungswelle

0´´ - 22´´

Auch der zweite Teil setzt mit leise pochenden Baßschlägen ein - einen halben Ton höher als zuvor. Nachdem vorher die Musik im markanten Tutti geschlossen hat, geht die Musik jetzt ruhiger weiter: Leise, in veränderten Tonbewegungen und Klangfarben. Nach kurzem Anschwellen sinkt die Musik wieder ins Leise zurück. Aus dieser gespannten Stille entsteht wieder das Hauptthema, mit dem das Stück schließlich im vollen Orchesterklang schließt. So beginnt der 2. Teil als Beruhigung, mit nur vorübergehendem An- und wieder Abschwellen, und er schließt mit einer machtvollen Steigerung.

Z: Bruckner VI 3: Scherzo-Hauptteil 2. Teil, 1´07 - 2´45

Erst am Ende des Scherzo-Hauptteils ist die Harmonie erreicht, nach der die Musik zuvor in immer neuen Anläufen gesucht hat. Hier hat Bruckner weiter entwickelt, was erstmals Beethoven in seiner dritten Symphonie realisierte: Ein Scherzo als durchgängiger dramatischer Prozeß, dessen Harmoniebewegungen erst kurz vor Schluß ihr Ziel erreichen - im vollen Tuttiklang der Grundharmonie.

Z: Beethoven III 3 Scherzo-Hauptteil, Davis 0´´ - 2´48

Im Scherzo der dritten Symphonie von Beethoven stellte sich erstmals ein neues Formproblem: Machen solche machtvollen Prozesse es überhaupt noch möglich, etwas zu wiederholen - kann man im unaufhaltsamen Zeitfluß dieser Musik gleichsam rückwärts springen? Beethoven löst dieses Problem, indem er das Scherzo nach dem Trio in veränderter Form wiederkehren läßt: Es beginnt noch leiser, noch stärker dynamisch gespannt als zuvor, und auch der massive Höhepunkt kurz vor Ende des Satzes wird markant verändert und überdies um einen Schlußteil erweitert.

Z: Beethoven III 3 Reprise, Davis 4´14 - 6´00´´

Was Beethoven mit dem Scherzo seiner dritten Symphonie begann, zielte auf radikale Veränderungen in der musikalischen Formgestaltung - auf radikalere Konsequenzen, als selbst Bruckner sie später zu ziehen bereit war. Bruckner läßt ein Scherzo meistens nach dem Trio unverändert wiederkehren. Seine mächtigen Steigerungsentwicklungen verbindet er mit architektonisch ausgewogenen dreiteiligen Formen. Mahler ist andere Wege gegangen - schon in seiner ersten Symphonie.

Schon der junge Mahler hat es aufgegeben, große dreiteilige Formen zu komponieren, in denen sich große Formteile wörtlich wiederholen.

Auch dann, wenn Mahler sich bewußt der klassischen Scherzoform nähert, entwickelt er ganz andere Lösungen als Bruckner - zum Beispiel im "wuchtigen" a-moll-Scherzo seiner 6. Symphonie.

Z: Mah VI Scherzo von Anfang

Kubelik 0´´ - 1´55

Das Scherzo der 6. Symphonie von Gustav Mahler entwickelt sich, anders als bei Bruckner, nicht in großen Steigerungswellen, sondern in scharf geschnittenen Konturen, Linie und Entwicklungen. Seine Musik ist durchsetzt von scharfen Akzenten, jähen Aufschwüngen und dynamischen Brüchen. Immer wieder ist zu hören, wie die Musik Anschwünge nimmt zu neuen Entwicklungen, die immer wieder überraschen, obwohl sie in dieser motivisch strengen Musik niemals ganz unvorbereitet einsetzen. Alles wird weiterentwickelt, nichts wird wörtlich wiederholt. Dem extrem scharfen Klangbild entsprechen scharf geschnittene Akzente und Gliederungen.

Wie stark diese Musik sich von einem Scherzo Bruckners unterscheidet, läßt sich im Vergleich verdeutlichen: Auch das a-moll-Scherzo in der 7. Symphonie Anton Bruckners bildet sich aus wenigen, scharf geschnittenen Motiven. Bei Bruckner aber sind die Motive eingeschmolzen in große Steigerungswellen - in eine klar gegliederte zweiteilige Großform, deren Teile ruhig beginnen und in großen Steigerungswellen ins machtvolle Tutti führen; in eine Musik mit weitem Atem.

Z: VII 3a Wand 0´00 - 3´28

Bruckners Formen unterscheiden sich von denen Mahlers vor allem durch ihre Zielgerichtetheit und Geradlinigkeit. Klar zu erkennen sind nicht nur die Themen und Motive, sondern auch die Richtungen, in die sie sich entwickeln - Steigerung, plötzliches Abblenden und erneutes Anwachsen, Beruhigung und Erfüllung.

Bruckners Formentwicklungen sind völlig klar selbst dann, wenn die voll ausgeprägten Themen anfangs noch nicht klar zu erkennen sind - wenn die Musik gleichsam auf dem Wege zum Thema beginnt und dieses selbst erst später erscheint, etwa im Scherzo der dritten Symphonie.

Z: III 3a Wand (3. Fassung), 0´ - 2´23

Scherzothemen, die gleichsam aus dem Nichts sich bilden, gibt es nicht nur bei Bruckner, sondern auch bei Mahler - zum Beispiel in seiner 7. Symphonie. Auch dieser Satz aber unterscheidet sich deutlich von einem symphonischen Scherzo Bruckners: Die Formprozesse bilden sich nicht aus melodischen Linien, sondern aus scharfen Splittern, Akzenten und Kurven.

Z: Mah VII 3 Kubelik (oder evtl. andere Aufnahme) bis 5´ Tonl. abwärts in Rückl. zur Reprise

oder später bis Paukenakzent: 0´00 - 5´23

(oder evtl. ab 5´23 bis Schluß oder ab 7´16 Bartokpizz)

Das Scherzo der 7. Symphonie Mahlers schließt, wie es begonnen hat: Mit einzelnen Bruchstücken. Es zerfällt in Splitter.

Z: Mah VII 3 Kubelik Schluß (Schlußtakte ab Dreitonmotiv Pauke)

ab 8´40 (oder 9´04) bis 9´20

oder ab EH-Kfg: Punktierte 3tonmotive vor Ziffer 267, S. 237: Dauer 1´20 (8´bis 9´20 Schluß)

Der letzte Scherzosatz, den Bruckner komponiert hat, beginnt mit einem leisen, lange ausgehaltenen Ton, der harmonisch und rhythmisch so eingefärbt wird, daß er selbst anzuwachsen scheint und zum Kern einer Steigerung wird. Der Ton selbst und alle ihn begleitenden Figurationen geraten in den Sog einer heftigen dynamischen Entwicklung - in einer kühn dissonanten Harmonik, die auch den weiteren Verlauf des Satzes prägt.

Z: IX 2 Wand: 0 - 3´45

In den späten Scherzosätzen Mahlers und Bruckners radikalisieren sich die extrem unterschiedlichen Positionen dieser Komponisten: Bei Bruckner in der Forcierung der steilen Spannungsbögen, bei Mahler in der Verschärfung des Zerrissenen und Disparaten. Der vorletzte Satz der 9. Symphonie Mahlers, ein Scherzosatz, trägt die Überschrift: "Rondo. Burleske". Das Erscheinungsbild dieser Musik ist geprägt von scharfen Kontrasten - von jähen Wechseln der Motive und Themen und von einer radikalen, in Extreme des Disparaten hineingetriebenen Polyphonie - bis in die Schlußtakte hinein.

Z: Mah IX 3 Schluß Presto. Ozawa take 8: 28´´

Mahler komponiert eine Musik der ungeschönten Konflikte. Er hat radikale Konsequenzen gezogen aus einem Musikdenken in polaren Gegensätzen, wie es sich in den klassischen Sonatensatzformen herausgebildet hat. Dieses Denken hat seine Wurzeln im klassischen Gegensatz zwischen den beiden Hauptthemen des Sonatensatzes: Dem markanten Kopfthema und dem breit ausgesponnenen Gesangsthema. Mahler konnte sich dabei nicht nur an Beethoven orientieren, sondern auch an Beethoven orientieren, sondern auch an den sinfonischen Kopfsätzen Bruckners, zum Beispiel am Eröffnungssatz der zweiten Symphonie.

Z: II 1 Wand (Endfassung) 0´ - 3´04 (bis 1. Ton 3. Thema)

Bruckners Hauptthema mit seinen charakteristischen Kopfmotiven setzt in den tiefen Streichern ein - verbunden mit einer harmonischen Grundierung durch höhere Streichinstrumente.

Z: II 1 Wand Anfang Hauptthema

0´ - 21´´ (aufhören vor dem Einsatz der Holzbläser)

Dem motivisch markanten Hauptsatzthema folgt später ein weit ausschwingendes Gesangsthema.

Z: II 1 Wand Anfang Gesangsthema 2´02 - 2´19 (1. Pause Celli, ausbl. vor Forts. Celli)

Die beiden ersten Themen im Kopfsatz von Bruckners zweiter Symphonie in c-moll sind so gestaltet und aufeinander bezogen, daß es naheliegt, sie zu vergleichen mit einem frühen Symphoniesatz Gustav Mahlers, der ebenfalls in c-moll geschrieben ist.

Auch Gustav Mahlers zweite Symphonie beginnt mit einem motivisch markanten Thema, das die tiefen Streicher einführen.

Z: Mah II 1 Ozawa Hauptthema Anfang (ausblenden auf Trem. nach 3. Figur)

0´ - 12´´

Auch Mahler läßt seinem prägnanten, wuchtigen Hauptthema später ein weit ausschwingendes Gesangsthema folgen.

Z: Mah II 1 Anfang Gesangsthema

5´40 Einsatz Violinen - 6´02 F-Dur (aufhören vor Einsatz Hörner)

Im weiteren Verlauf wird das Gesangsthema verdrängt von heftigen dramatischen Entwicklungen. Später kehrt das Gesangsthema wieder - als breite Beruhigung.

Z: Mah II 1 Part. Ziffer 13 bis vor Ziffer 15: Gesangsthema (2. Mal: F-Dur) -

Beruhigung H-Dur

9´40 (SS F-Dur Flöte) - 10´49 (Beruhigung Schluß, aufhören vor Hauptmotiv fff)

Nach der Aufstellung und Bekräftigung der Themen beruhigt sich die Musik - übrigens in ähnlicher Weise, wie dies in vergleichbaren Zusammenhängen bei Anton Bruckner geschieht, etwa im ersten Satz der 7. Symphonie.

Z: VII 1 Wand: SchlS Hp Ges - Beruhigung (bis Fl fis2, Anfangston der Durchführung)

5´52 - 7´02

Der Eröffnungssatz von Gustav Mahlers zweiter Symphonie trägt Spuren einer intensiven Auseinandersetzung mit Anton Bruckner. Dies zeigt sich in unterschiedlichen Zusammenhängen - nicht nur bei der Einführung von Themen oder bei beruhigenden Schlußbildungen, sondern auch in Phasen extremer dramatischer Verdichtung.

Z: Mah II 1 Höhepunkt Df: Rückleitung zur Reprise mit Tredezimakkord

14´12 aufsteigendes Bläserthema - 14´42 Reprise Thema c2-g2-c1

Die stärkste dramatische Verdichtung entsteht unmittelbar vor der Wiederkehr des Hauptthemas. Um diese Wiederkehr vorzubereiten, verwendet Mahler im kräftigen Orchestertutti einen Spannungsakkord, der sich auch bei Bruckner findet - übrigens in derselben Tonart und an genau entsprechender Stelle, als Ankündigung des Hauptthemas.

Z: VII 3, 1. Teil Höhepunkt: Vorber. des letzten Themeneinsatzes

46´´ Melodieton d2 bis 1´09 Schluß 1. Teil

Im Eröffnungssatz von Mahlers 2. Symphonie lassen sich viele Verwandtschaften mit Bruckners Symphonik finden. Gleichwohl bleibt unverkennbar, daß Mahler alles, was er von Bruckner übernimmt, im Ausdruckscharakter vollständig verändert - mit schärferen Zeichnungen der Motive, mit stärkerem Kolorit, mit heftigeren Kontrasten und Entwicklungen.

Wenn man Mahlers Satz genauer mit Vorbildern Bruckners vergleicht, kann man feststellen, daß es neben Ähnlichkeiten auch wichtige Unterschiede gibt. Zum Beispiel klingt der Beginn einer Durchführung bei Bruckner völlig anders als bei Mahler. Bei Bruckner beginnen Durchführungen meistens in der großen Ruhe, die sich in der Musik zuvor durchgesetzt hat. (Aus der Ruhe wächst schließlich wieder neue Bewegung.)

Z: Bruckner Expositionsende Beruhigung - Anfang Durchführung

6´13 Beruh. auf Quartsextakk. H, Exp. ende, 7´05 Durchf.anf. bis 8´11 vor SS d (oder G: 10´41)

Ganz anders beginnt die Durchführung im Symphoniesatz Gustav Mahlers: In eine ruhig abschließende Musik fährt plötzlich die heftige Wiederkehr des Hauptthemas hinein. Die Durchführung steht im Zeichen dramatischer Entwicklungen.

Z: Mah II 1 Ruhiges Expositionsende - heftiger Durchführungsanfang, Ozawa

10´08 Solovl mit SS H-Dur bis 11´15 Verlöschen, Pause

Den Beginn der Durchführung gestaltet Mahler als explosiven Ausbruch, dem ein katastrophischer Zusammenbruch folgt. Diese Formidee war wichtiger als die Festlegung der einzelnen Töne. Dies wird deutlich daran, daß in einer frühen Fassung des Stückes dieselbe Formidee mit ganz anderen Tönen dargestellt wird.

Z: Totenfeier Lopez-Cobos 11´43 (H-Dur) bis 13´38 (Beruhigung, tiefe Blechbläser es-moll)

Die frühe Fassung dieses Symphoniesatzes heißt "Totenfeier". Die Ausdruckswelt, die dieser Titel umschreibt, prägt auch den endgültigen Symphoniesatz - mit katastrophischen Formentwicklungen, die bis in die letzten Takte wirksam sind.

Z: II 1 Schluß, Ozawa ab 18´02 chrom. Gang abwärts Hf bis Schluß 20´58

Gustav Mahlers Totenmusik, der Kopfsatz seiner zweiten Symphonie, schließt ähnlich wie der Kopfsatz der letzten Symphonie, die Anton Bruckner vollendete: Am Schluß von Bruckners Symphoniesatz führt die Musik in äußerster Kraftentfaltung bis zur völligen Erstarrung und zum Zusammenbruch. Die Bedeutung der letzten, abwärts rinnenden Motive hat Bruckner selbst gedeutet: Als Bild der Totenuhr.

Z: VIII 1 Wand (Endfassung)

13´27 (Einsatz Todestrompeten) bis 15´40 Schluß

Bruckner hat seine 8. Symphonie in zwei verschiedenen Fassungen komponiert. Die erste Fassung läßt erkennen, daß Erstarrung und totales Verlöschen ursprünglich nicht das letzte Wort in der Formentwicklung dieses Satzes haben sollten. Bruckners ursprüngliche, später wieder aufgegebene Idee war anders: Er suchte nach der Auflösung in einer Apotheose.

Z: VIII 1, 1. Fassung (Inbal) Schluß

11´17 Schlußsatz akkordischer Aufstieg bis 13´58 Schluß 1. Satz

Die Schlußapotheose, die Bruckner in diesem Satz ursprünglich plante und später wieder verwarf, ist auch seinem Gesamtwerk versagt geblieben: Das Finale seiner neunten Symphonie blieb unvollendet.

Bruckners katastrophischer Satzschluß im Kopfsatz seiner 8. Symphonie weist einen Weg, den später Gustav Mahler weiterging, als er seine "Totenfeier" komponierte und als er diese Komposition später zum Bestandteil seiner großen zweiten Symphonie in c-moll machte.

In dem letzten großen sinfonischen Adagiosatz, den Bruckner komponiert hat, führt die Formentwicklung schon in den ersten Takten bis zu einem Punkt, der keine Umkehr zu erlauben scheint: In einem kräftigen Tutti-Ausbruch erscheint ein vieltöniger, dissonanter Akkord, dessen Töne in mehrfachen Wiederholungen gleichsam erstarren. Der Akkord löst sich nicht auf, sondern er sinkt, intervallisch unverändert und in abgeschwächter Lautstärke, einen Halbtonschritt tiefer; erst danach lösen die Dissonanzen sich auf. Diese Musik beginnt an einer Grenze zu rütteln, jenseits derer das vollständige Verstummen droht.

Z: IX 3. Satz Anfang Wand: Hauptsatz bis Anfang Seitensatz (Ende Vs)

0´´ - 4´40 außerordentliche harmonische Kühnheit dieser Musik führt an einzelnen Stellen bis an den Rand der überlieferten tonalen Ordnungen, an den Rand der "Atonalität". Der kompakte, vieltönige, dissonante Klang beginnt hier zum selbständigen Klangzentrum zu werden; die Auflösung in eine konsonante Harmonie ist nicht mehr selbstverständlich, so daß der harmonische Fluß zum Stillstand zu kommen droht. Der einzelne dissonante Akkord - oder sogar der einzelne Ton - wird so zum ekstatischen Ausdruckssymbol. Beispiele hierfür finden sich nicht nur im Spätwerk Bruckners, sondern auch in den letzten Werken von Gustav Mahler - etwa im letzten Satz der neunten Symphonie, einem Adagio im Geiste Bruckners. Dieser Satz beginnt mit einer weit geschwungenen, reich harmonisierten Streicher-Kantilene - wie ein großer Abgesang.

Z: Mah IX 4: Anfang bis 1. Ton cis-moll-Thema. Ozawa

0´´ bis 1´59 des1

Im weiteren Verlauf des Satzes führt die Entwicklung so weit, daß der melodische und harmonische Fluß sich staut auf einem einzigen Ton - so, als drohte die musikalische Bewegung zu ersticken. Auf dem Höhepunkt der formalen Entwicklung dieses großen Adagio-Satzes verstummt die Harmonie. Ein einziger Ton bleibt übrig - ein hoher Geigenton, der mit intensivem Ausdruck gespielt wird. Erst allmählich findet die Musik von diesem hohen Ton zurück zur Adagio-Melodie.

Z: Part. S. 176, 177: Aufschwung bis zum hohen Geigenton - Rückführung zum Adagiothema

ab 15´52 Trompeten-Einsatz bis 17´00 Hauptthema Schluß 2. Takt (Blende über T. 2)

Im Adagiosatz der 10. Symphonie, die unvollendet geblieben ist, verbindet sich die expressive Kraft des einzelnen Tones mit der Massivität eines vieltönigen Akkordes.

Z: (Mah X 1 Thema (z. B. Anfang: einstimmig - volle Harmonie))

Z: Tutti - Halteton gegen vieltönigen Akkord - Beruhigung (aufhören vor Th mit Pizz-Begl.)

20´07 (Tutti b-moll) bis 22´09 (Akkord mit glissandierendem Violinsprung abwärts)

Der gehaltene Ton und der vieltönige Akkord verbinden sich an zentraler Stelle des Stückes: als Chiffren ekstatischen Ausdrucks. Klangenergien, wie sie Bruckner in großen sinfonischen Wellen gebündelt hatte, konzentrieren sich in dieser Musik auf den einzelnen Moment, auf den Augenblick, auf das Jetzt - auf die volle Konzentration des Ausdrucks.

Z: Mah X 1 Thema (z. B. Anfang: einstimmig - volle Harmonie) oder Schluß

In der Konzentration auf die Ausdruckskräfte von Ton und Klang wird deutlich, was Bruckner und Mahler letztlich doch miteinander verbindet - und was auch den letzten Adagiosatz von Bruckner prägt: Die Intensität des musikalischen Ausdrucks - Musik als wortlose Sprache.

Z: Bruckner IX 3 Schluß (Länge je nach Sendezeit)

[Zurück]   [Vor]   [Hoch]   [Startseite]        [Index]   [Frisius-Homepage]