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7.10.7 BRUCK5.DOC


Bruckner (5)

Z: Bruckner - kurzes Orchesterstück und/oder Trio IX Frühfassung (Anf.)

Anton Bruckner ist einer der wichtigsten Erneuerer der Form in der Musik. Selbst in kurzen Orchesterstücken, die noch vor seinen ersten Symphonien entstanden sind, zeigen sich erste Spuren der Neuerungen seiner Musik, vor allem der Neuerungen in seinen sinfonischen Werken. Seine neun Symphonien sind Dokumente einer immer wieder neu ansetzenden Suche nach neuen und gültigen Formen.

Z: III 2 von Anfang bis Schluß Marienkadenz

möglichst Fassung Anford. Albrecht - sonst 1. Fassung(folgt Text aus Heft). Anfang

Bruckner und die Form in der Musik: Dieses Thema war und ist schwierig. Dieser Komponist hat nicht nur Jahre, sondern Jahrzehnte gebraucht, um als Musiker den Horizont des Schulgehilfen und Dorforganisten zu überwinden. In späteren Jahren waren seine sinfonischen Formen den Konservativen zu kühn, den Modernisten zu konventionell. So hat Bruckner sich immer wieder Korrekturen und angebliche Verbesserungen gefallen lassen müssen - von verschiedenen Musikern seiner Zeit und sogar späterer Generationen. Seine mehrfachen Überarbeitungen eigener Werke haben immer wieder Diskussionen ausgelöst, ob bestimmte Versuche der Überarbeitung auch tatsächlich bessere Lösungen hervorgebracht haben. Die Frage lag also nahe: Kann ein jahrzehntelang sein Handwerk erlernender, ein zeitlebens sich selbst korrigierender Komponist uns tatsächlich in die Lage versetzen, unser Musikhören vollständig zu verändern - unser Erfassen musikalischer Zusammenhänge und Formverläufe? Hat seine Musik eine Gestalt gefunden, die hörend erfaßbar und verstehbar ist.

Z: III 2 Anfang bis nach Marienkadenz andere Fassung (2. oder 3., evtl. Sonderfassung Albrecht)

Bruckners Musik als Erneuerung der musikalischen Form und des musikalischen Formdenkens: Diese Perspektive ist klar und rätselhaft zugleich. In dieser Musik gibt es eine unnachahmliche Synthese des hochkomplexen Orchestersatzes mit klarster Durchhörbarkeit. Klar verständlich wird die Musik allerdings erst als fertiges Resultat. Völlig rätselhaft bleibt sie, so lange sie nur als Fragment, in einer vom Komponisten nicht definitiv vollendeten Gestalt, uns zugänglich ist.

Z: IX 4 Anfang Ruzicka (ausblenden auf Ende 2. Phrase des Gesangsthemas)

Bruckner, der wichtigste Exponent der geschlossenen symphonischen Form, hat den letzten Satz seiner neunten Symphonie nicht mehr vollenden können; er ist Fragment geblieben. Mehrmals ist versucht worden, die erhaltenen Aufzeichnungen zu klingender Musik auszuarbeiten. Die wahrscheinlich unüberwindlichen Schwierigkeiten, die bei diesen Versuchen offenbar geworden sind, könnten deutlich machen, wie schwer auch heute noch Bruckners Musik zu verstehen ist. Die Fragmente dieser Musik zeigen Spuren des scheinbar Disparaten, des nicht Integrierbaren:

Erste Ansätze zu einer Steigerung:

Z: IX 4 Anfang Steigerung(aufhören vor Blechbläserakkorden)

Akkorde - erste Andeutungen eines Chorals:

Z: Fortsetzung IX 4 - erste Blechbläserakkorde

Ansätze einer polyphonen Entwicklung, einer Fuge:

Z: Fuge Anfang

Wie diese und andere Gestaltungselemente im fertigen Finalsatz letztlich hätten zusammenwirken sollen, läßt sich wahrscheinlich nicht mehr überzeugend rekonstruieren. Diese Musik bleibt eine offene Frage - und dies gilt auch wohl für jeden Versuch ihrer genaueren Rekonstruktion. Um so wichtiger ist es, an diesen Fragmenten zu erfahren, wie vieles in Bruckners Musik uns bis heute noch rätselhaft geblieben ist (vielleicht sogar auch noch in seiner vollendeten Musik).

Man kann versuchen, verschiedene Fragmente Fragmente Bruckners zu konfrontieren mit ähnlich konstruierten Ausschnitten aus seiner vollständig ausgeformten Musik. Die Vergleichsbeispiele könnten deutlich machen, ob und inwieweit sich aus dem Studium der Fragmente weitergehende Schlüsse ergeben können.

Verschiedene Vergleiche sind möglich, beispielsweise:

Eine Steigerung im Finale-Fragment der neunten Symphonie und im Finale der vierten Symphonie:

Z: Zusammenschnitt Steigerung: a) IX 4 bis Unisono, b) IV 4 Anfang bis Th 2. Phrase

Ein Choral im Finale-Fragment der neunten Symphonie und im 3. Satz derselben Symphonie:

Z: Zusammenschnitt Choral: a) IX 4, b) IX 3 A-Dur-Choral 1. evtl. auch 2. Zeile,

jeweils bis Pause

Was in den Fragmenten schwer zu verstehen ist, scheint in vergleichbaren Ausschnitten aus vollendeten Werken besser verständlich zu sein: Der formale Zusammenhang. Versuche, den Finalsatz von Bruckners Neunter klanglich zu rekonstruieren, gelten einer Komposition, von der, wie es scheint, wichtige Passagen nur in grober Skizzierung ausgeführt sind.

Z: IX 4 SS Inbal

Ein Versuch, den Finalsatz vollständig zu rekonstruieren, liegt auf compact disc vor in einer Aufnahme des Radiosinfonieorchesters Frankfurt unter der Leitung von Eliahu Inbal. Einen bewußt im Fragmentarischen belassenen Versuch machte Peter Ruzicka. Wie problematisch beide Versuche geblieben sind, wird hörbar schon im ersten Ton - einem Paukenwirkbel.

Z: IX 4 Anfang Paukenwirkbel (Inbal oder Ruzicka) evtl. länger, bis Pause vor Blechakkorden

Der Ton, der hier gespielt wird, steht zwar genau so in der gedruckten Gesantausgabe. In dem Faksimileband über das Finale der Neunten, der der Gesamtausgabe beigefügt ist, braucht man nur die erste Seite aufzuschlagen, um zu erkennen, daß die Pauke einen ganzen Ton zu tief spielt - im Widerspruch zu Bruckners Orgelpunkt-Gewohnheiten, mit katastrophal trivialisierenden Folgen für die gesamte Harmonik. Man kann nur staunen, daß die Musik selbst mit diesem falschen Ton noch einigermaßen interessant klingt.

Z: IX 4 Paukenwirbel-Passage vollständig (mit Harmonien)

Bruckners Musik hat in vielen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts dem Musikleben und der Musikwissenschaft immer wieder neue Impulse gegeben. Dennoch ist anscheinend die Zeit immer noch nicht dafür reif, das wohl wichtigste Fragment dieser Musik einmal ohne falsche Töne zu hören. Das scheinbar Wohlvertraute führt die traurige Existenz eines grob und falsch übermalten Bildes. Um so wichtiger ist es, in Bruckners Musik das besser Gesicherte kennen zu lernen.

Z: IV 3 (1) 1. Hornruf - 1. Steigerung

Ein kurzer Hornruf - eine weit ausholende, mächtige Steigerun: Mit diesem Kontrast beginnt einer der eigenartigsten Symphoniesätze Anton Bruckners: Das Scherzo der 4. Symphonie in ihrer er sten Fassung. Schon in den ersten Takten dieser Musik zeigen sich zwei vollkommen unterschiedliche Prinzipien der musikalischen Gestaltung: Anfangs, im Hornsolo, hört man eine in sich geschlossene Gestalt: Eine Melodie kreist um einen einzigen Ton.

Z: IV 3 (1) 1. Hornruf

Nach einer Pause schlägt die Musik um : Die prägnante Gestalt der Hornmelodie wird zunächst nicht weiter forgesetzt. Statt dessen entwickelt sich ein Prozeß: In harmonischer Verdichtung - mit raschen, weit aufsteigenden Tönen.

Z: IV 3 (1) 1. Steigerung

Das Thema, das Anton Bruckner in diesem Satz verarbeitet, ist nicht eine einfache Melodie, sondern eine Verbindung verschiedener Formprinzipien - der Prinzipien von Gestalt und Prozeß. Dies wird noch deutlicher, wenn dieses Thema anschließend, in stärkerer Ausprägung, wiederholt wird: Der Hornruf mit einem höheren Spitzenton - die anfangs relativ kurze Steigerung verwandelt in einen größeren und komplexeren Prozeß der Expüansion.

Z: 2. Hornruf - 2. Steigerung / Expansion

Erst am Schluß dieses Abschnittes hat die Steigerung so weit geführt, daß der Hornruf nicht mehr einstimmig erklingt, sondern in der vollständigen Harmonie des Orchesters. So ergibt sich im größeren Zusammenhang, in der Abfolge von Thema und Wiederholung, ein noch weiter ausgreifender Formprozeß: Die Verwandlung der Melodie eines einzigen Instrumentes in die Harmonie des ganzen Orchesters.

Z: 1. Hornruf und 1. Steigerung - 2. Hornruf und 2. Steigerung

Prägnante Gestalten und organisch sich entwickelnde Prozesse, plastische Kontraste und markant abgewandelte Wiederholungen prägen den Formverlauf des gesamten Stückes: Als Einheit des Gegensätzlichen, in wechselnden Gestalten und Verläufen.

Z: IV 3 (1) längerer Abschnitt bis Schluß Scherzo-Hauptteil, oder Scherzo-Hauptteil vollst.

In Anton Bruckners Musik erscheint Form als gestaltete Zeit - bald in markanten Glieerungen, als geschnittene Zeit; bald in bruchlosen Formprozessen, als fließende Zeit. So ergeben sich Zusammenhänge auch zwischen dem scheinbar weit Entfernten und extrem Verschiedenen. Dies führt so weit, daß der Rhythmus des Hornrufes auch in andere Melodien hineinwirkt.

Z: IV 3 (1) Zusammenschnitt: a) Hornruf 1. Teil, b) Gesangsthema (evtl),

c) Trio Anfang 1. od. 2.Teil

Dieser Scherzosatz mit mit dem einfachsten Grundintervall: Mit der Quinte, einstimmig. Erst wesentlich später folgt das Thema in voller Harmonie - nach langen Entwicklunlgen, in denen erst am Schluß des Satzes die Grundharmonie sich endgültig durchsetzt. Erst in den allerletzten Takten des Satzes wird deutlich, daß die Musik jetzt ein unwiderrufliches Ziel erreicht hat.

Z: IV 3 (1) Schluß, Th harmonisiert in es-moll, mit Coda

Musikalische Form als Ordnung der Töne im Verlaufe der Zeit: Diese scheinbar so selbstverständliche Grundbestimmung wird in Bruckners Musik so bedeutsam, als nähme sie eigentlich erst hier ihre eigentliche Gestalt an: In Kontrasten, die in die Einheit größerer Formzusammenhänge eingeschmolzen sind - in Prozessen, die in größerer Perspektive auch als Ganzes erfaßt und mit anderen Formteilen verglichen werden können. Selbst die scheinbar wohlbekannten Konturen der dreiteiligen Scherzoform können so zu Profilen neuartiger Formbildungen werden.

Formzusammenhänge spielen in Bruckners Musik eine so wichtige Rolle, daß sie bedeutsam werden können auch über die Grenzen eines einzelnen Satzes hinaus. Dies zeigt sich auch im Zusammenhang seiner 4. Symphonie: Das Hornthema, mit dem dieser Satz beginnt, kreist um das Kernintervall der Quinte. Hier dominiert also dasselbe Intervall, das auch die Anfänge der beiden vorausgegangenen Symphoniesätze prägt. Die Quinte erscheint als Kernintervall im Kopfsatz der Symphonie, in ihrem langsamen Satz und im Scherzo.

Z: Zusammenschnitt Satzanfänge IV (1)

a) I 1. Hornruf, b) II Anfang bis ges (vor pp-Forts. aufhören) oder kürzer c) III Hornruf 1. Hälfte

Die Quinte ist das Kernintervall der gesamten Symphonie. Dies vollends deutlich zu Beginn des letzten Satzes: Der markante Quintruf des ersten Satzes kehrt wieder - eingeschmolzen in einen neuen Formzusammenhang.

Z: IV 4 (1) mit Zitat Hornruf

Die Rückkehr zum Thema des Kopfsatzes, die zu Beginn des Finalsatzes sich abzeichnet, ist in dieser Musik das Ziel eines Formprozesses, einer Steigerung. Wie wichtig dieser Steigerungsprozeß für Bruckner war, zeigt sich daran, daß er ihn in einer späteren Fassung noch beträchtlich ausgeweitet hat. Das Finale der 4. Symphonie beginnt in der endgültigen Fassung mit einer markanten Steigerung, mit der Bruckner - auch für seine eigene Musik - neue Maßstäbe gesetzt hat.

Z: IV 4 (2) bis Wiederkehr Kopfthema und Ausklingen (Schluß letzter Paukenton auf es)

In der neuen Fassung hat Bruckner Prozeß der Großform beibehalten, und er hat dieses Prozeß sogar noch intensiviert; die einzelnen Töne und Tongestalten aber hat er radikal verändert. Dies führt so weit, daß die Musik in der neuen Fassung ihren Charakter vollständig verändert. In der ursprünglichien Fassung begann der Finalsatz fast spielerisch heiter - mit Klängen und Klangverbindungen, zu denen Bruckner nach seinen eigenen Worten sich inspirieren ließ durch leichte Regentropfen und durch die Stimmung eines Volksfestes.

Z: IV 4 (1) bis Fl. Quartmotiv: Regentropfen - Volksfeststimmung

Ganz anders als die heitere Urfassung des Finalsatzes wirkt die Neufassung, in der - außer den pochenden Baßtönen - fast alles verändert erscheint: Schon nach wenigen Takten werden düstre Melodielinien und Harmonien hörbar. Die heitere Volksfest-Stimmung hat sich verwandelt in eine mysteriöse Nachtstimmung.

Z: IV 4 (2) Anfang: Thema in Ganzen - 4 je viertönige Hornphrasen

Anton Bruckners Formdenken verwandelt seine Musik so grundlegend, daß selbst der Stimmungsgehalt - die Frage der Deutbarkeit als Programmusik - davon nicht unberührt bleibt: In der Neufassung der Symphonie ereignen sich grundlegende Veränderungen. 1996, in Bruckners 100. Todesjahr, hat einer der profiliertesten deutschen Komponisten daran erinnert, der sich mit den sinfonischen Traditionen der deutschen und europäischen Musik intensiv auseinandergesetzt hat: Wolfgang Rihm. Auf einem Kompositionskurs der Darmstädter Ferienkurse sprach Rihm davon, wie schnell es geschehen kann, daß die anfänglichen Konzeptionen und Assoziationen des Komponisten sich im Arbeitsprozeß grundlegend verwandeln. Die inhaltliche Aussage der Musik ist nicht von Anfang an klar und eindeutig fixiert, sondern sie ergibt sich erst im Prozeß der kompositorischen Ausarbeitung.

Bruckner hat den Finalsatz seiner vierten Symphonie neu gefaßt - und zwar wahrscheinlich auch deswegen, weil im Prozeß der Überarbeitung auch die vorausgegangenen Sätze sich verändert hatten. Den Scherzosatz mit dem Hornruf hat Bruckner durch eine Neukomposition ersetzt, die dann auch im Anfangsteil des neuen Finalsatzes wieder aufgegriffen wird: Als Steigerung in der Steigerung - als mächtig expandierende Jagdmusik.

Z: Zusammenschnitt: a) IV 3 (2) bis Kontrast ff: Ges-F. b) IV 4 (2) kurzer Ausschn. m. III

Der Finalsatz der 4. Symphonie Bruckners beginnt mit einer Rückerinnerung: In großer Steigerung führt die Musik zurück zum Kopfmotiv des 1. Satzes.

Z: IV 4 (2) bis Wiederkehr Quint-Hornruf-Thema 1. Satz und Ausklingen (letzter Paukenton)

Bekanntes kehrt in diesem Satz in verwandelter Form wieder: Das Quintmotiv, das zu Beginn der Symphonie schattenhaft leise erklungen ist, verwandelt sich im letzten Satz in ein musikalisches Symbol der Apotheose.

Z: Zusammenschnitt Quintmotiv IV 4 (2): a) I Anfang, b) IV Einleitung Höhepunkt

Bruckner läßt nicht nur den Kopfsatz seiner Symphonie leise beginnen, sondern auch ihr Finale. Dadurch gerät die einleitende Hinführung zum Hauptthema des Finales in den Sog einer Steigerung. Die konkreten musikalischen Details des Steigerungsprozesses sind dadurch aber noch nicht eindeutig fixiert. So konnte es geschehen, daß Bruckner zunächst eine erste Fassung ausarbeitete, deren Details er dann später in der endgültigen Fassung radikal umgestaltet hat: Bruckner hat nicht nur einzelne Themen und Harmonien verändert, sondern das gesamte Formkonzept.

In der Arbeit an diesem Finalsatz hat Bruckner sich gelöst vom klassischen Formdenken: Seine Steigerungsprozesse sprengen das formale Gleichgewicht von klassisch ausgewogenen Themen, die sich aufstellen und anschließend wiederholen lassen. Vor allem am Anfang dieses Satzes treibt Bruckner seine Steigerung so weit, daß der aufmerksame Hörer sich kaum noch vorstellen kann, die Musik würde später wieder einmal auf Früheres zurückkommen.

Z: IV 4 (1) bis 1. Höhepunkt, aufhören vor Beginn Wiederholung

In der ersten Fassung seines Finalsatzes ist Bruckner noch einer Regel der klassischen Formgebung treu geblieben: Wichtige Themen werden nicht nur eingeführt, sondern auch anschließend wiederholt. So kommt es zu der paradoxen Entwicklung, daß nach einer großen Steigerung zunächst nichts Neues zu hören ist, sondern die Wiederkehr des Anfangsthemas.

Z: IV 4 (2) Wiederholung des Themas (Forts. vor. Zuspielung), ausbl. nach Anf. Ges.th. (2 Phr.)

In der endgültigen Fassung des Finalsatzes gibt es keine Wiederholung des Hauptthemas mehr. Statt dessen hat er eine einheitliche, unwiederholbare Formentwicklung geschaffen: Das Thema entsteht - nur ein einziges Mal, auf dem Höhepunkt, erscheint das Thema in vollständiger Gestalt - schließlich verwandelt sich das Thema in etwas anderes.

Z: IV 4 (2) HS

In Bruckners Neufassung verändern sich nicht nur die Wege der Formentwicklung, sondern auch ihre Ziele: Der zurückhaltendere Kontrastabschnitt,der auf den ersten großen Formprozeß folgt, ist in beiden Fassungen sehr unterschiedlich ausgefallen. In der ersten Fassung beginnt er spielerisch heiter - erinnernd an die Volksfeststimmung zu Beginn des Satzes.

Z: Zusammenschnitt IV 4 (1) a) Anfang Hauptthema (Volksfest), b) Anf. Gesangsthema

In der 2. Fassung des Finales ist dieser Abschnitt in ähnlicher Weise verändert wie der Abschluß des Satzes: Dem düsteren Beginn des Satzes entsprechend, hat Bruckner in der Neufassung auch dem Gesangstehema ein düsteres Kopfthema vorangestellt.

Z: Zusammenschnitt IV 4 (2) a) Anf. Hauptth. (Nachstimmung), b) Anf. SS (düsteres Thema)

Auch bei dieser Umarbeitung hat Bruckner sich vom klassischen Formdenken entfernt: Er bricht die gelöste Stimmung des Gesangsthemas auf - und gerade dadurch erreicht er eine größere Geschhlossenheit in der Grundstimmung und Anlage des gesamten Satzes.

Wenn man Bruckners Musik in verschiedenen Fassungen vergleicht, erkennt man Unterschiede nicht nur zwischen Themen, sondern auch zwischen verschiedenen Arten ihrer Verarbeitung und formalen Einbindung. Was beispielsweise in verschiedenen Fassungen unterschiedlich eingeführt worden ist, verlangt auch unterschiedliche Arten der Weiterführung. Für den Finalsatz der 4. Symphonie folgt daraus, daß unterschiedliche Lösungen nicht nur zu Beginn des Satzes verglichen werden können, sondern auch an späteren, formal entsprechenden Stellen - beispielsweise zu Beginn des 2. Teiles, wenn Bruckner zu Beginn der Durchführung auf das Anfangsthema zurückgreift. In de r 1. Fassung ist die ursprüngliche Volksfest-Idee auch zu Beginn des 2. Teils noch zu spüren.

Z: IV 4 (1) Anfang 2. Teil Wiederkehr Volksfest-Stimmung

In der endgültigen Fassung beginnt der 2. Teil ganz anders: In geheimnisvoller Nachtstimmung, ähnlich wie in der Neufassung der Anfangstakte - jetzt bereichert durch melodische Verwandlung und polyphone Verdichtung.

Z: IV 4 (2) Anfang 2. Teil bis 2. Phrase SS (danach G. P.)

Auch den Schluß des Finalsatzes hat Bruckner in der letzten Fassung vollständig verändert - wobei allerdings einige hier verwendete Elemente bereits in der Grundfassung zu finden sind. In der 1. Fassung ist der Schlußteil offensichtlich geprägt vom strahlenden Glanz seiner Apotheose.

Z: IV 4 (1) Coda

In der endgültigen Fassung des Finalschlusses hat Bruckner nicht nur die dynamischen Verläufe und Profile, sondern auch die Klangfärbungen vollständig verändert - im Prozeß einer stetigen, ruhigen und umfassenden Erfüllung.

Z: IV 4 (2) Coda Ruhige Akkordbewegungen in ganzen Noten - ruhige Expansion

Wenn man verschiedene Fassungen von Bruckners Finalsatz miteinander vergleicht, dann kann man erkennen, wie stark die einzelnen melodisch-harmonischen Gestalten und die größeren formalen Zusammenhänge wechselseitig voneinander abhängig sind. In beiden Fassungen wird deutlich, daß es in diesem Finale von an Anfang an um einen Satz gegangen ist, der nicht nur in sich geschlossen sein, sondern auch das Fazit aus der viersätzigen Gesamtform ziehen sollte. Hier ist es Bruckner erstmals gelulngen, die Formentwicklungen der gesamten Symphonie zu bündeln und zum Abschluß zu führen. Wie weit Bruckner hierbei gekommen ist, zeigt ein Verlgeich mit dem Finale seiner 3. Symphonie. In deren Schlußteil hat Bruckner noch versucht, an die Themen früherer Sätze zu erinnern in ziemlich locker aneinandergereihten Zitaten.

Z: III 4 (1) Zitaten von Themen früherer Sätze (aus I zunächst nur SS)

Das Verfahren, Themen früherer Sätze im Finale wiederkehren zu lassen, ist seit der IX. Symphonie Beethovens wohlbekannt. Als Bruckner in seiner 3. und 4. Symphonie Ähnliches versuchte, wurde ihm deutlich, wie schwierig es werden kann, die wiederkehrenden Themen überzeugend aufeinander folgen zu lassen. Von großer Bedeutung war, daß das Vorbild von Beethovens letztem Finalsatz strenge Maßstäbe gesetzt hatte: Der Übergang von der düsteren Musik des Kopfsatzes zum jagenden Scherzothema, zur völligen Beruhigung im Adagio und zu erneuter Belebung in der schließlich neu eingeführten Freudenmelodie.

Z: Zusammenschnitt: Be IX a) Hauptthemen I - III, b) Einleitung IV bis Einsatz Freudenthema

möglichst Leibowitz, notfalls Davis oder andere Aufnahme, z. B. Bernstein

Es gibt einen Finalsatz Bruckners, der - im zitierenden Rückgriff auf die Hauptthemenoder Anfangstakte früherer Sätze - an Beethovens Vorbild anknüpft: In der Einleitung zum Schlußsatz von Bruckners 5. Symphonie führt die Entwicklung Schritt für Schritt von früheren Themen zu einem neuen Thema, das anfangs nur knapp angekündigt wird mit einem prägnanten motivischen Signal, das danach mehr und mehr in den Vordergrund rückt und schließlich, als voll ausgeprägtes Fugenthema, alle Stimmen erfaßt: Der Weg zum neuen Hauptthema ist in diesem Finalsatz Bruckners zugleich der Weg zur Polyphonie.

Z: V Einl. und HS (Fuge)

Im Laufe der formalen Entwicklung ist die Kraft der Polyphonie so stark geworden, daß sie später auch im Gesangsthema voll erhalten bleibt: Dieses Thema erscheint in plastisch orchestrierter Dreistimmigkeit - mit ständig imitierenden Oberstimmen und durchlaufendem Baß.

Z: V SS

Die Formentwicklung führt bis zu einem wichtigen Wendepunkt. Hier gewinnt erstmals die Harmonie zentrale Bedeutung - in der vollakkordischen Begleitung einer neu einsetzenden Melodie, die als Blechbläserchoral ausgesetzt ist.

Selbst die reine Harmonie, die akkordische Begleitung der Chormalmelodie, muß im weiteren Verlauf des Stückes der Polyphonie weichen. Die Choralmelodie, die anfangs mit reicher akkordischer Begleitung eingeführt worden war, verwandelt sich später in ein Fugenthema, das sich in allen Stimmen ausbreitet, verwandelt und später mit dem ursprünglichen Fugenthema (und seien verschiedenen melodischen Verarbeitungen) verbindet. So wächst in Bruckners Musik eine Synthese zwischen Harmonie und Polyphonie, die selbst in seiner eigenen Musik einzigartig geblieben ist: Die Erneuerung der musikalischen Form aus dem Geiste von Melodie, Harmonie und Polyphonie. Die Synthese es scheinbar längst Bekannten führt zu klar konturieren und neuartigen Formzusammenhängen - zu einer Musik, die zu sprechen gelernt hat aus eigener Kraft.

Z: V 4 längerer Ausschnitt vom Ende

Z: IX 1 Hauptsatz. Jochum 0´´ - 3´31. Hauptsatz - Steigerung und Rückentwicklung

Anton Bruckners letzte Symphonie setzt mit Klängen ein, die den Hörer vor eine Ausnahmesituation stellen: Es klingt, als begänne hier nicht ein bestimmtes Musikstück, sondern die Musik selbst: Alle Keime des Rhythmus, der Melodie und der Harmonie entwickeln sich aus einem einzigen Ton - einem Ton, der bereits in sich musikalisch geformt ist.

Z: IX 1 Anfang: 1 Ton. Jochum 0´´ - 14´´ bis einschl. 1. 2tön. Hornmotiv

Klangfläche - Halteton - erste rhythmische Zelle

Der Ton, mit dem die Musik beginnt, ist vielschichtig und vieldeutig schon in den kleinsten Details: In der Tonhöhe klar erkennbar - rhythmisch diffus in der Doppeldeutigkeit zwischen Bewegung und Ruhe, zwischem dem leise schwirrenden Tremolo und dem etwas klarer hervortretenen ausgehaltenen Ton - später mit ersten Andeutungen von Melodie und Rhythmus: Als zweittöniges Motiv.

Z: wie zuvor

Der erste Keim des Melodischen ist Ungleiches, das aufeinanderfolgt: Zuerst ein kurzer Ton - dann ein langer Ton, auf gleicher Höhe wie der kurze.

Z: 1. Hornmotiv (2 Töne) (2 Schlußtöne der vorigen Zuspielung)

Dem ersten Keim rhythmischer Bewegung folgt ein erster Ansatz melodischer Bewegung: Dem langen Ton folgen weitere, eben so ruhige Töne: Zunächst ein höherer Ton - dann wieder der Ausgangston. Die erste melodische Zelle bleibt in sich geschlossen - als erste Andeutung von Aufstieg und Rückkehr.

Z: 1. Horn-Melodieabschnitt (bis Pause) Tonbewegung d-f-a (bis einschl. Trp-Pk 2tonrhythmus)

Der ersten melodischen Bewegung folgt gleichsam ihr rhythmischer Schatten: Trompete und Pauke spielen den Anfangsrhythmus wieder auf einem Ton: Ein langer Anschwungston - ein etwas längerer Abschlußton.

Z: wie zuvor

Dem ersten Ansatz melodischer Bewegung folgt ein zweiter: Auch in diesem zweiten Anlauf steigt die Melodie auf - diesmal zu einem höheren Ton als vorher.

Z: 1. und 2. Aufstieg d-f-a, d-a-d (incl. 2tonrhythmus Trp-Pk) (evtl. nur 2. Phrase)

Der 2. Melodieton ist höher als der erste, und die zweite Melodiephrase führt höher hinaus als die erste: Ein Prozeß melodischen Wachstums beginnt in einer kleinsten melodischen Zelle, und er breitet sich von da aus auf größere Formeinheiten aus.

Z: wie zuvor

Nachdem die Musik melodisch in Fluß gekommen ist, verstärkt sich auch die rhythmische Bewegung: Die Töne folgen rascher aufeinander.

Z: Anfang d-f-a, d-a-d, f-d, a-d (incl. Trp-Pk-Motiv)

Wieder kündigt sich Neues an: Der Fluß der Töne wird gleichmäßiger - die Töne folgen rascher aufeinander, aber auch rhythmisch entspannter als zuvor im Wechsel der langen und kurzen Töne. Die Entwicklung beginnt sich zu wenden - auch im Melodischen, wo das Motiv jetzt erstmals auf einem tieferen Ton weitergeht.

Z: a-d, e-d

Die melodische und rhythmische Wende kündigt den Beginn einer neuen Entwicklung an: Die Melodie kehrt zu ihrem Ausgangston zurück, und dieser Ausgangston erscheint jetzt in völlig neuem Licht - als Keimzelle einer konfliktreichen harmonischen Entwicklung.

Z: ab a-d, e-d, anschließend Horn-Aufstieg und -Abstieg

(ausblenden im Baßtrem. auf Melodiepause)

Ein Ton in verschiedenen, geschichteten und gemischten Farben - ein Rhythmus - eine Melodielinie - eine Harmonie: So entsteht Musik aus ihren einfachsten Gestaltungselementen. Wieder wird deutlich, daß Formentwicklungen, die anfangs in kleinen Zellen zu erkennen sind, später auch auf größere Zusammenhänge übergreifen: Aufstieg und Rückkehr erscheinen nicht nur in den ersten melodischen Zellen, sondern auch, in größeren Dimensionen, am ersten Wendepunkt des Formprozesses: In auf- und abschießenden Tönen der Hörner beim ersten Aufleuchten der Harmonie im vollen Bläsersatz.

Z: Anfang bis 1. Teil-Höhepunkt

(Harmonie-Durchbruch Ces-Dur, blenden nach Mel-Pausen in Bassi)

Aufstieg und Rückkehr verbinden sich im Folgenden auch in noch größeren Dimensionen der musikalische Formgestaltung: Der Aufstieg als Steigerung mit aufwärts drängenden Harmonien, mit rhythmisch und polyphon sich verdichtenden Melodielinien - in einer abschließenden Entwicklung, die den Einsatz des Hauptthemas vorbereitet; Erfüllung und Rückkehr als Einsatz und Ausschwingen des Hauptthemas, das im vollen Orchestertutti einsetzt, und dessen Thema, markant in hoher Lage einsetzend, in markanten Linien abwärts getrieben wird - um mehrere Oktaven tiefer, bis wieder der Anfangston des Stückes erreicht ist.

Z: Fortsetzung: Steigerung - Thema (choralartiger Abschluß Streicher D-Dur)

Aus den kleinsten Details des musikalisch gestalteten Tones ist musikalische Form entstanden. Ein Thema, eine voll ausgeprägte musikalische Gestalt, wird - anders als in der klassischen Musik - nicht gleich zu Beginn des Stückes hingestellt, sondern der Hörer erlebt den Prozeß ihrer Entstehung mit. Musik gestaltet sich nicht als Darstellung und Verarbeitung eines Themas, sondern als Prozeß der Entstehung, Entwicklung und Verwandlung. Es ist nicht das Thema, das einen ihm angemessenen Formprozeß aus sich selbst heraus erzeugt. In Bruckners Musik ist es vielmehr gerade umgekehrt: Die Formprozesse erzeugen das ihren Energieflüssen angemessene thematische Material. Diese Entwicklung führt in ihren letzten Konsequenzen so weit, daß es kein Thema im klassischen Sinne mehr gibt, das man aufstellen und anschließend, in architektonischer Absicherung, wiederholen könnte. Bruckners Formentwicklungen bereiten einer Musik den Weg, in der sich nichts mehr unverändert wiederholen läßt - einer Musik, die erlebt werden kann, als einmaliger, unwiederholbarer Prozeß. Dies zeigt sich nicht nur in den Stadien des Aufbaus und der Entwicklung ihrer melodisch-thematischen Gestalten; nicht weniger deutlich wird es, wenn seine Musik, nachdem sie ihr volles Reifestadium erreicht hat, anschließend ausklingt in einer Rückentwicklung.

Z: Rückentwicklung (HS Ende)

Bruckner beginnt seine letzte Symphonie mit einem großangelegten Prozeß des Wachsens und Abnehmens - einem Prozeß, der von einem einzigen Ton ausgeht und der wieder in diesem Ton mündet. Der in sich belebte Ton wird zum Keim einer musikalischen Formentwicklung.

Z: Anfang kurz: in sich belebter Ton d

Was Bruckner begann, hat sich in späterer Musik unter anderen Vorzeichen fortgesetzt: Auch ein Schlüsselwerk der Musik des 20. Jahrhunderts beginnt mit einem in sich belebten Ton - nämlich Arnold Schönbergs Variationen für Orchester op. 31.

Z: Schönberg op. 31 belebter Ton b

Auch Schönberg verwandelt den innerlich belebten Ton später in Tongestalten, die mehr und mehr Kontur gewinnen - in stets zunehmender Belebung des Flusses der Rhythmen, der dialogisch-polyphonen Melodielinien und der Harmonien.

Z: Schönberg op. 31 Anfang bis 1. Zäsur (vor b-a-c-h)

Das Formdenken Bruckners hat weitergewirkt auch in späterer Musik, die sich, anders als die Symphonik Bruckners, völlig löst von der Begrenzungen der überlieferten Tonalität. Dies zeigt sich nicht nur in der Zwölftonmusik Schönbergs, sondern auch in Kompositionen, die noch einen Schritt weiter gehen, indem sie über die Begrenzungen der traditionellen Tonkunst hinausgehen. Dies hat, schon vor der Etablierung von Schönbergs Zwölftonmusik, Schönbergs Schüler Anton Webern versucht in frühen Werken, die Grenzbereiche zwischen Ton und Geräusch erforschen. In einem trauermarschartigen Orchesterstück - dem vierten Stück aus seinem Zyklus opus 6 - hat Webern einen Steigerungsprozeß im Sinne Bruckners so verwandelt, daß er das gesamte Stück erfüllt und überdies nicht nur Töne, sondern auch Geräusche in sich einbegreift. Die Musik beginnt mit leisen, fernen Geräuschen; sie geht über zu Akkorden und melodischen Fragmenten, die sich mehr und mehr verdichten und schließlich in einer komplexen Geräuschstruktur münden. Steigerungsprozesse, wie sie vorher Bruckner in einzelnen Formteilen mit Tönen dargestellt hatte, dehnen sich hier aus auf ein vollständiges Stück mit vielfältig wechselnden Konstellationen der Töne und Geräusche.

Z: Webern op. 6 Nr. 4 vollständig

Prozeßhafte Musik ist Musik der ständigen Verwandlung - sei es in der Ablösung verschiedener Gestalten, sei es im Übergang von einer zur anderen. In Prozessen der Verwandlung sind häufig erste Vorahnungen künftiger Veränderungen zu erkennen - erste Andeutung, die im späteren Verlauf, in der Rückerinnerung besser verstanden werden, wenn die musikalische Formentwicklung dem Angekündigten bereits näher gekommen ist. In solchen Prozessen werden auch die klassischen Unterscheidungen zwischen verschiedenen Themen fragwürdig - zum Beispiel zwischen dem Hauptthema und dem Gesangsthema eines Sonatensatzes: Wichtiger als die Aneinanderreihung solcher Themen kann in Bruckners Musik ein großangelegter Formprozeß werden, in dem sich ein Hauptthema in ein Gesangsthema verwandelt - im ersten Satz seiner 8. Symphonie.

Z: VIII 1 Jochum bis SS nach 2. Pause (ausblenden)

Der Eröffnungssatz der 8. Symphonie Bruckners beginnt als Musik der Verwandlung: Das gezackte, rhythmisch unruhige Hauptthema verwandelt sich in ein breit ausströmendes Gesangsthema. Sobald dieses Thema erreicht ist, beginnt ein neuer Verwandlungsprozeß, der zu neuen Gestaltbildungen und Verdichtungen führt und der schließlich, auf dem Höhepunkt, den Weg bahnt für eine Rückverwandlung: In der verwandelten Wiederkehr der Rhythmen des Anfangs beruhigt sich die Musik.

Z: VIII 1 Jochum SS Anfang bis Exp Ende

In dieser Formentwicklung zieht Bruckner eine wichtige Bilanz des klassischen Formdenkens: Was in seiner Gestaltung als Verwandlung und Rückverwandlung erscheint, entspricht in der klassischen Formgestaltung und Formbezeichnung dem 1. Teil einer Sonatenhauptsatzform - einer Sonatensatz-Exposition mit verschiedenen Themen. Auch in klassischen Sonatensätzen kehrt die Musik am Ende der Exposition oft zu Motiven des Anfangsteils zurück - und zwar nicht zuletzt deswegen, weil dieser Anfangsteil anschließend wiederholt wird. Bei Bruckner ist es anders: Er komponiert eine rückwärts führende Verwandlung - aber nicht als Einleitung einer Wiederholung, sondern als Vorbereitung einer neuen Entwicklung; einer Entwicklung, die zwar auf Früheres zurückgreift, die aber dieses Frühere von Anfang an in einen neuen Zusammenhang stellt.

Z: VIII 1 Jochum 2. Teil Anfang bis Tiefpunkt c-moll (nach Überlagerung beider Themen)

Im Kopfsatz der 8. Symphonie beginnt der 2. Teil mit verwandelten Melodielinien: Die Themen, die zuvor in aufsteigenden Melodielinien eingeführt worden waren, erscheinen jetzt in umgekehrter Bewegung, abwärts führend. Wieder geht die Entwicklung vom Hauptthema aus, und wiederum ergibt sich das Gesangsthema als Ziel eines Prozesses der Verwandlung. Das Ziel, zu dem die Musik sich bewegt, ist aber ein anderes als zuvor: Beide Themen erscheinen gleichzeitig - das Hauptthema, jetzt wiederum aus tiefer Lage absteigend, und das Gesangsthema, jetzt aus hoher Lage absteigend. Beide Themen begegnen sich. Dann aber verlöschen sie, und die Musik stockt.

evtl. Z: Tiefpunkt c-moll nach Überlagerung beider Themen (Schluß der vor. Z): Stockende Th.

Die Vereinigung der beiden Themen ist offensichtlich das zentrale Ereignis der gesamten Formentwicklung. Was danach folgt, läßt es ungewiß erscheinen, ob die Musik sich darüber hinaus überhaupt noch weiter entwickeln kann. Besonders deutlich wird diese Ungewißheit in der Verwandlung des ersten Themas: Immer mehr konzentriert es sich auf seine Schlußfigur, die einzige die abwärts führt.

Z: Durchführung nach Höhepunkt Abwärtsfiguren c-B-As-G (mit sich abschwäch. Gesangsth.)

Die gezackten Rhythmen des Hauptthemas kehren wieder in melodischer Erstarrung, reduziert auf einen einzigen Ton - in einer konfliktgeladenen Konstellation von letzten Bewegungsenergien und zunehmender Lähmung. Das gleichzeitig erklingende Gesangsthema wird immer schwächer: Reduziert auf ein einziges Thema, die Flöte; verlangsamt; schließlich ganz verlöschend. Erst dann, wenn das Gesangsthema verstummt ist, löst sich die Musik aus der Erstarrung: Eine neue Formentwicklung setzt ein, die das Schlußmotiv des Themas wieder in die Höhe treibt, bis schließlich Hauptthema und Seitenthema wiederkehren: Nicht mehr polyphon vereint wie noch kurz zuvor, sondern im Übergang vom einen zum anderen - in einem neuen Prozeß der Verwandlung.

Z: Durchführung Anfang der Belebung (Aussetzung des Gesangsthemas in der Flöte)

bis Reprise Gesangsthema Ende (bis Generalpause vor Einsatz des 3. Themas)

Das Zentrum der Formentwicklung, wo Hauptthema und Gesangsthema gleichzeitig erklingen, ist Höhepunkt und Wendepunkt zugleich: Danach zerfallen die melodischen Gestalten, und erst nach ihrer endgültigen Trennung bilden sie sich wieder neu. Dieser Prozeß der Vereinigung, des Absterbens und der Neuentstehung ist offenbar für das Verständnis der Formentwicklung wichtiger als der Versuch, das Gehörte nach klassischen Formgesetzen zu erklären. Wer an die Allgemeingültigkeit klassischer Formprinzipien glaubt, könnte beispielsweise versuchen, herauszufinden, an welcher Stelle in diesem Prozeß die Durchführung aufhört und die Reprise beginnt. Natürlich könnte man sagen, daß die Zusammenführung beider Themen als das eigentliche Ziel der Formentwicklung in der Durchführung angesehen werden kann. Richtig ist auch, daß danach frühere Themen wiederkehren, was der Reprise im klassischen Sinne entspräche. Viel wichtiger aber dürfte es sein, daß diese Wiederkehr den bruchlosen Zusammenhang der Formentwicklung nicht unterbricht: Was in der klassischen Musik als Durchführung und Reprise klar getrennt war, bildet bei Bruckner eine untrennbare Einheit: Als 2. Teil einer Formentwicklung, die als zusammenhängender Verlauf in mehreren Stadien angesehen werden kann - als Musik in wechselnden Prozessen der Annäherung und Entfernung, der Verbindung und der Trennung, der Belebung und Erstarrung.

Z: VIII 1 Schluß ab Repr. SchlS: Letzte Belebung - abschließender Verfall

Der Sinn der Formentwicklung in Bruckners Symphoniesatz ist klar: Der Formprozeß geht aus von einem Thema, das offen angelegt ist - bis hin zur Verwandlung in ein anderes Thema oder bis hin zur polyphonen Verbindung mit diesem anderen Thema. Nachdem diese Verbindung zerfallen ist, zerfällt schließlich auch das Thema selbst. Erst am Schluß der gesamten Symphonie ersteht es neu - und zwar deswegen, weil jetzt andere, lebensfähigere Themen erschienen sind, mit denen es sich vereinigen kann in einer dauerhaften Verbindung. Die Formentwicklung im Finale von Bruckners 8. Symphonie mündet darin, daß schließlich die Hauptthemen aller vier Sätze sich überlagern - als Ziel des gesamten Formprozesses der viersätzigen Symphonie.

Z: VIII 4 Coda mit Überlagerung der Themen (evtl. schon ab Reprise 3. Thema)

evtl. im Zusammenschnitt vorher einzeln die Hauptthemen der 4 Sätze

Bruckners Formdenken stiftet Zusammenhänge zwischen Phänomenen, die in der klassischen Formenlehre mit verschiedenen Begriffen bezeichnet werden: Zusammenhänge zwischen verschiedenen Formabschnitten, zwischen verschiedenen Themen und ihren Verarbeitungen, zwischen Darstellung und Entwicklung, sogar zwischen verschiedenen Sätzen einer großen zyklischen Form. Die Unterscheidungen der klassischen Formenlehre hat er aufgehoben im Doppelsinne Hegels: Er hat sie zugleich bewahrt und in Neues verwandelt.

(dies evtl. als Schluß - u. U. anschließend Schlußbeispiel V Finale Schluß)

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