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7.14 Claus - Musiksprache - Sprachmusik


Rudolf Frisius

MUSIKSPRACHE - SPRACHMUSIK

Grenzüberschreitungen

im oeuvre von Carlfriedrich Claus

WERK UND PROZESS

Der Begriff Zeit ist untrennbar verknüpft mit dem Begriff Bewegung.

Ein Punkt setzt sich in Bewegung: die Linie entsteht.

Übergang von der unbeweglichen, raum- und zeitlosen Nulldimensionalität

in die bewegungserfüllte Eindimensionalität der Zeit. (...)

Mit diesen Worten beginnt ein 1952 entstandener theoretischer Text von Carlfriedrich Claus.Sein Titel: Das Wesen der Zeit und die bildende Kunst. Die Vorstellung des Bildwerkes als fixiertes Objekt löst sich hier auf in der Perspektive des Prozesses der Entstehung des Bildes. Der Zeitbegriff, der dadurch ins Spiel kommt, bedarf allerdings genauerer Differenzierung:

Zeit als Qualität ist subjektiv bedingt, Zeit als Quantität objektiv erfaßbar.

Für Claus hat der qualitative Aspekt (Erlebniszeit) Vorrang vor dem quantitativen (gemessene Zeit) -

und zwar sowohl in der (abstrakten) bildenden Kunst als auch (generell) in der Musik:

Es gibt (...) zwei große Gebiete, in denen qualitative Zeit

bei geöffneten Sinnesorganen primär wirksam wird.

Da ist erstens die Musik, die ja im Eindimensionalen, in der wesenhaften Zeit sich bewegt. (...) -

Und zweitens ist es die bildende Kunst des 20. Jahrhunderts.

Die Distanzierung vom Werk als (quasi-)räumlichem Objekt führt auch zu einem veränderten Verständnis von Sprache und Literatur.

KLINGENDE SPRACHE

(...) die Empfindsamkeit für die Schwingungen innerhalb des Wortes -

diese Sensibilität für die Vokale und Konsonanten - (...)

Diese Worte stammen nicht aus einem ästhetischen Manifest,

sondern aus der Feuilleton-Besprechung eines Rezitationsabends:

Carlfriedrich Claus hat 1954 in seiner Heimatstadt Annaberg gehört,

wie die Sprecherin Antonia Dietrich einen Vortragstext über Goethe rezitierte,

und Claus hat anschließend im Kulturteil der Lokalzeitung darüber berichtet.

Seine Beschreibung läßt deutlich erkennen, was ihn vorrangig interessiert hat:

Nicht der Text des Vorgetragenen, sondern die klingende Sprache -

die klanglichen Details im Vortrag der Rezitatorin:

Sie verwob die Stille und den Laut zu einer Ganzheit.

Sie brachte das Wort in unlösliche Beziehung zum Schweigen

und gestaltete dadurch eine überzeugende Sprachplastik.

Bemerkenswert ist, mit welchem Nachdruck Claus hier

das Verhältnis zwischen Klang und Stille

als plastischen Aspekt der klingenden Sprache hervorhebt -

ein Verhältnis, das (allerdings unter anderen ästhetischen Prämissen)

auch in der Musik des 20. Jahrhunderts wesentliche Bedeutung erlangt hat,

vor allem bei Satie, Webern und Cage.

Im Zusammenhang mit der Textrezitation ist für Claus der plastische Aspekt

der Relation zwischen Klang und Stille

gleichwertig mit dem farblichen Aspekt der Lautgestaltung

(bzw., wie Claus es metaphorisch nennt,

der Gestaltung von Licht und Farbe).

Auch dies wird in seinem Lob der Rezitatorin deutlich:

Wie sie z. B. das wellende, gleitende L

oder das große Fernen umrundende N sprach

und die Konsonanten durchglitzerte mit dem lichten i,

oder aus dem dunklen Balkenwerk der Konsonanten ein weites a erstrahlen ließ -

diese Durchleuchtung und Farbgebung des Plastischen war ein Erlebnis.

Claus empfahl den Lesern seiner Lokalzeitung eine Rezeption,

die er selbst seit den fünfziger Jahren

offensichtlich zum Kriterium auch seiner künstlerischen Produktion gemacht hat:

Übrigens kann sich jeder für derartige Erlebnisse aufnahmefähig machen,

wenn er nur versucht, sich auf das Dargebotene zu konzentrieren,

das heißt, nichts anderes in sein Bewußtsein eindringen zu lassen.

Man wird dann bald empfinden, wie sich der Erlebniskreis, der Erfahrungsbereich

in ungeahnter Weise ausdehnt, vergrößert.

In Notizen an Will Grohmann, die ebenfalls 1954 entstanden sind,

hat Claus deutlich gemacht, daß seine Vorstellungen über Laut- und Sprachgestaltung

über die literarische Rezeption hinausweisen in Richtung der literarischen Produktion:

Die Worte steigen wie märchenhafte Wolken aus dem dunklen Schweigen

und tropfen langsam zurück in das Wesen der Stille.

Der Dichter verwebt in seinen Gebilden das Wort mit der Stille -

er versucht, aus dem Schweigen und dem Laut eine Ganzheit zu gestalten,

die Ganzheit des Kunstwerkes.

Das Verhältnis zwischen Klang und Stille hat Claus grundsätzlich anders bestimmt als Cage.

Einerseits löst er sich nicht aus der Vorstellung eines kontinuierlichen Zeitflusses,

in den Klang und Stille eingebunden sein sollen;

diese traditionsverhaftete Vorstellung

paßt besser zu den Leitvorstellungen anthroposophisch inspirierter Text-Gestaltung

als etwa zum Vortrag der lecture on nothing von Cage.

Andererseits legt Claus großen Wert darauf,

seine Vorstellungen nicht nur auf ästhetische Traditionen zu beziehen,

sondern auch auf die ästhetisch aktualisierende Reflexion politischer Erfahrung.

In diesem Sinne notiert er für Will Grohmann:

Wortlärm zerreißt die Stille und färbt die Fetzen grell - wie Krieg und Mord.

Dies zielt auf ein anderes Erscheinungsbild klingender Sprache:

Die Sprache als Machtinstrument für bestimmte Zielsetzungen

im Raume wirtschaftlicher, politischer o. ä. Bestrebungen.

Resultat = sich überstürzende "Wort"-Ungeheuer.

Auf die Lautstärke kommt es an.

Und auf den pausenlosen Einsatz der Wörterwaffen-Einheiten.

Im Spannungsfeld politisch geprägter Sprach-Erfahrung

radikalisieren sich Tonfall und Sprechduktus auch der ästhetischen Reflexion:

Auf Verinnerlichung und metaphysische Überhöhung zielende

Beschwörungen von Klang und Stille,

wie sie in den fünfziger und sechziger Jahren

beispielsweise auch im Bereich des traditionellen literarischen Hörspiels beliebt waren,

verlieren an Bedeutung.

Statt dessen konzentriert sich das Interesse

auf die Präsenz des (pausenlosen) Klanges.

So entstehen erste Konturen einer undomestizierten,

dabei womöglich sogar vom konventionellen Sprachklang sich lösenden experimentellen Stimmkunst,

deren Entwicklung bei Claus bereits in den frühen fünfziger Jahren einsetzt,

sich zunächst jahrzehntelang abseits des offiziellen Kunstbetriebes vollzogen hat

und erst in den neunziger Jahren einer breiteren Öffentlichkeit konfrontiert worden ist -

in der skandalumwitterten Donaueschinger Vorführung der Produktion Lautaggregat.

Das Verhältnis zwischen Text und klingender Sprache differenziert Claus im Rekurs auf Zeit und Raum, und er schafft damit erste Grundlagen für die ästhetische Legitimation

einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen hörbarer und lesbarer Sprache.

In dieser Sinne äußert sich Claus in einer weiteren Notiz an Will Grohmann:

Die Sprache, die tönende Sprache ist in der Zeit. (...)

Erst im gedruckten Wort tritt die Sprache in lose Beziehung zum Räumlichen.

Nur in "lose Beziehung" deshalb,

weil im Nacheinander (des Lesens) auch die Zeit mitspielt.

In dieser Unterscheidung kündigt sich eine ästhetische Bipolarität an, die dann später, seit Ende der fünfziger Jahre, für die künstlerische Arbeit von Carlfriedrich Claus wesentliche Bedeutung gewonnen hat: Claus distanziert sich von Positionen, die man aus der Ästhetik des traditionellen literarischen Hörspiels der fünfziger Jahre kennt - von der Konzentration auf das schriftlich fixierte Wort (bzw. auf den schriftlich fixierten literarischen Text), der einer klanglichen (oder sogar klanglich-szenischen) Realisation in ähnlicher Weise übergeordnet ist wie die Partitur eines traditionellen Musikstückes seiner Aufführung. Claus zieht Konsequenzen daraus, daß diese hierarchische Abstufung zwischen Text und klanglicher Realisation im Zeitalter der technischen (Re-)Produzierbarkeit keine Allgemeingültigkeit mehr beanspruchen kann. Denn einerseits ist es durch Techniken der Klang-Aufzeichnung und Klang-Verarbeitung möglich geworden, Klänge auch unabhängig von einer im voraus fixierenden Notation zu realisieren und kompositorisch zu fixieren: Der Klang hat sich emanzipiert von den Möglichkeiten und Grenzen einer standardisierten Notation. Andererseits hat die Autonomisierung des Klanges den Weg bereitet auch für die Autonomisierung der Schrift. Bei Carlfriedrich Claus zeigt sich dies daran, daß in seiner experimentellen Literatur - ähnlich wie in graphischen Notationen experimenteller Musik - Schriftzeichen zu Bildelementen werden können. Die ästhetische Verselbständigung der visualisierten Sprache, der Schrift-Text, ergibt sich als Komplement zu dem vom Primant der konventionellen Schrift emanzipierten Klang-Text (bzw. Laut-Text, wenn man sich auf die von Claus favorisierte vokale Klang-Produktion konzentriert - auf die Stimme des Klangpoeten als Äquivalent zu den Händen des bildenden Künstlers).

Die Komplementarität beider Lösungsansätze verdeutlicht Claus dadurch, daß er sowohl Klänge (bzw. Laute) als auch Bildelemente (z. B. Schriftzeichen) vergleichbaren Arbeitstechniken unterwirft - z. B. Fragmentierung, polyphone Schichtung und Verfremdung. So lassen sich beispielsweise übereinandergelagerte transparente Blätter mit Schriftelementen (vielschichtige Sehtexte) interpretieren als visuelle Korrelate zu im Playback (in Trickschaltung) übereinander geschichteten Stimmaufnahmen (d. h. vielschichtigen Hörtexten). Die Verlagerung des ästhetischen Interesses vom literarischen Text auf die klingende Sprache wird zum Sonderfall einer ästhetischen Emanzipation verschiedener Sinnesbereiche, in deren Zusammenhang sich die Verselbständigung einerseits des Hörtextes, andererseits des Sehtextes ergeben kann. Die Trennung der Sinnesbereiche macht andererseits den Weg frei für neuartige Synthesen verschiedener Sinnesbereiche. Hierzu heißt es in den Notizen an Will Grohmann:

Eine Linie, einen Laut nicht nur sehen, hören,

sondern auch riechen, schmecken, voll empfinden.

Und umgekehrt:

Linien und Farben, oder Konsonanten und Vokale soweit durchsichtig machen,

daß z. B. eine Duftwesenheit darin wohnen kann.

So ergibt sich ästhetische Vielschichtigkeit

gleichsam als polyästhetische Verallgemeinerung des musikalischen Begriffs der Polyphonie.

DIESSEITS UND JENSEITS DER SPRACHE:

WORT UND SATZ - LAUT UND BUCHSTABEN

jedes wort strömt

wächst

ist organ des folgenden wortes

Die Rezitation dieser Worte hört man im Zusammenhang eines Zyklus von Sprechexerzitien, die Carlfriedrich Claus 1959 aufgenommen hat. Sie beschreiben eine ästhetische Position, die sich nicht auf die Objektstruktur eines abgeschlossenen Textes, sondern auf den Prozeß der Materialerzeugung konzentriert. Claus bilanziert sie in dem 1964 entstandenen theoretischen Text Notizen der experimentellen Arbeit - zu ihr, wo auch der Satz energetisch paralysiert wird:

Man versucht, mit allen Gliedern einzugehen in den Satz;

dabei wird man, indem man sich in ihn hineinbewegt, von ihm bewegt,

bewegt bis in die feinsten und gröbsten Leib-Endigungen und -Beginne;

durch und durch, bis ins Skelett endlich,

ist man von ihm, den man durch sich erregt, erregt.

Dieses Exerzitium, eine antikontemplative Meditation,

eine Meditation aus und in raumsprengenden und -bildenden Tanz aller Glieder, Knochen im Wort,

leitet das eigentliche Experiment ein:

den Start, dann Austritt des leibhaftigen Informationsvehikels aus dem semantischen Schwerefeld

(...)

Versuche der asemantischen Erweiterung von Stimm- und Sprachäußerungen können von der kodifizierten Sprache ausgehen - beispielsweise dadurch, daß Claus um 1956 den hauch (also auch den in sprachlichen Äußerungen und darüber hinaus wirksamen Prozeß des Atmens) literarisch thematisiert:

ein hauch

gewann

genau gegliederten umriss

(...)

Der Text beschreibt, daß die organische Äußerung sich der sprachlichen Artikulation annähert.

Dies wird präzisiert im Zentrum des Textes:

genau gegliedert

in inriss ausriss inriss

(...)

Die dritte Textzeile wird hier durchführungsartig erweitert und verarbeitet.

Beschrieben wird Atmen als artikulierte Äußerung.

In den letzten Zeilen kehrt der Text reprisenartig zum Ausgangsgedanken zurück.

Er beschreibt den Atem als organische Äußerung,

der nun wieder

hauch ist

verschwimmt

Der Atemlaut als literarisches sujet erscheint im verbalen Verweis auf nonverbale Dimensionen der stimmlichen Mitteilung. Der Text von Claus entstand fast gleichzeitig mit einem der ersten Musikstücke, das nonverbale Stimmäußerungen nicht nur benennt, sondern auch direkt als Klangmaterial einbezieht: Haut Voltage (1956) von Pierre Henry. Später, in Le Voyage (1962), ging Henry noch einen Schritt weiter, indem er artikulierte Atemlaute (wie sie Claus in seinem Text anspricht) zum dominierenden Klangmaterial macht. Später hat Henry dies in einer fiktiven Tagebuchnotiz zugleich biographisch und ästhetisch legitimiert. Im Text seines Hörspiels Journal de mes sons beruft Henry sich auf eine Kindheits-Erfahrung: Auf Atmen als Therapie.

Ich machte viel Gymnastik. Bewegungen, Übungen, Atemzüge.

Seitdem interessiere ich mich für Atemlaute.

Atemlaute sind wichtig für meine Arbeit... All diese unentbehrlichen Atemlaute...

Henry, der produktivste Pionier der konkreten Musik, hat in seine universellen Klangkunst schon frühzeitig auch nonverbale Stimmäußerungen einbezogen. Schon seit den späten vierziger Jahren standen ihm hierfür die Ressourcen professioneller Studiotechnik zu Gebote, während Carlfriedrich Claus, der experimentelle Literat, sich in nahezu völliger ästhetischer Isolation mit denkbar einfachen technischen Hilfsmitteln begnügen mußte: Seine ersten Produktionen akustischer Kunst realisierte er auf einem Heim-Tonbandgerät mit einer einfachen (Playback-)Trickschaltung.

Claus hat mitgeteilt, daß die ersten Ansätze seiner experimentellen Literatur bis in das Jahr 1951 zurückreichen. Wie weit der Weg von den ersten literarischen Versuchen bis zur von konventioneller Sprache emanzipierten experimentellen Stimmkunst war, läßt sich an verschiedenen Produktionen aus den fünfziger Jahren belegen. Als charakteristisches Beispiel einer Orientierung auf das (umgangssprachlich fixierte) Wort bietet sich eine Textprobe aus dem Jahre 1955 an:

muscheln

strömen

meere

strömen

muscheln

Dieser kurze Text mit seinen symmetrisch angeordneten, im Lautmaterial eng miteinander verwandten Zeilen findet sich auch in dem 1959 zusammengestellten Tonbandzyklus der Sprechexerzitien - allerdings nicht als einfache Rezitation, sondern im Playback vervielfacht: Der polyphone Klangstrom erscheint als akustische Konkretisierung des Textinhaltes. Hier zeigen sich erste Ansätze einer Konzeption alternativer Polyphonie - eines dialektischen Umschlags des Geordneten ins Chaotische, vergleichbar der (allerdings ästhetisch durchaus andersartigen) hystérie sonore bei Pierre Henry, deren extremste Konsequenzen Claus später am Beispiel seiner 1993 entstandenen Produktion Lautaggregat beschrieben hat:

Zum Beispiel der Beginn, der scheinbar ein totales Durcheinander, Tohuwabohu darstellt, besteht aus Einzelelementen, die in sich eine ganz klare Struktur haben. Die Unklarheit entsteht aus Klarheit.

Der dialektische Umschlag verbaler in nonverbale Kommunikation läßt sich dann relativ einfach beschreiben, wenn (scheinbar) abstrakte Lautstrukturen aus konventionellen Sprachstrukturen gleichsam herausgefiltert werden. Hans Grüß hat an einem plausiblen Beispiel beschrieben, wie Claus einen Schreibmaschinentext semantisch destruierend weiter verarbeitet:

glitzern/ist/antlitz/spiegel//denken/glitzert//schnee

i e i a i i e e e i e e

Hier führt - ähnlich wie in Lautgedichten, wie sie Josef Anton Riedl schon in den frühen fünfziger Jahren geschrieben hat - die Laut-Ausfilterung zur vollständigen semantischen Destruktion. Wer den Ausgangstext nicht kennt, wird ihn in der Regel aus den daraus abgeleiteten Lautstrukturen nicht mehr rekonstruieren können - zumal nicht in diesem Beispiel, in dem, wie Hans Grüß mit Recht hervorgehoben hat, zwischen Lautstruktur und Buchstabenstruktur nicht hinreichend deutlich unterschieden wird (insbesondere zwischen langen und kurzen Vokalen und entsprechenden orthographischen Varianten; differenzierende Schriftzeichen, die die Länge oder sogar die Akzentuierung eines Vokals festlegen, finden sich bei Claus nur ausnahmsweise bzw. erst im Kontext nachträglicher Text-Überarbeitung). Im zyklischen Zusammenhang der Sprechexerzitien können allerdings solche Ableitungszusammenhänge dann deutlich werden, wenn bestimmte Textpassagen sowohl ungefiltert als auch gefiltert in hinreichender zeitlicher Nachbarschaft identifizierbar sind. Der von Grüß geführte Nachweis, daß die Filtrierungen - als Buchstaben-Filtrierungen - auch zu abstrakten Schreibmaschinen-Texten führen können, macht deutlich, daß Hör- und Sehtexte trotz ihrer unterschiedlichen Materialbedingungen analog strukturiert sein können (daß Claus also insofern ähnlich denkt wie J. A. Riedl mit seiner Parallelisierung akustischer und optischer Lautgedichte).

KONKRETION UND ABSTRAKTION

TONGTONG

TONG

ÖISILIRI

ÖISILIRI

SILIRI

RI

TONG

TONGTONG

TONG

ÖI

ÖI

TONG

SILIRI

ÖISILIRI

I

ÖII

TONGTONGTONGTONGTONG

Experimentelle Literatur kann sich von der Sprache in verschiedenen Richtungen entfernen -

beispielsweise einerseits in der Richtung einer exakt notierbaren Musikalisierung,

andererseits in der Richtung einer klanglichen Konkretisierung,

die die Möglichkeiten einer konventionellen Standard-Notation sprengt.

Die erstgenannte Möglichkeit findet sich in einem 1954-1956 entstandenen Schreibmaschinentext,

der nach gründlicher Überarbeitung schließlich eine schriftliche Gestalt angenommen hat,

die nicht nur das Lautmaterial fixiert,

sondern auch Längen und gegebenenfalls Akzentuierungen von Vokalen.

In dem 1959 entstandenen theoretischen Text Klangtexte Schriftbilder

hat Claus Stichworte gegeben, die sich bei der Analyse

dieses Buchstabentextes und analog strukturierter Lauttexte anwenden lassen:

DIE RINDENGESTEUERTE LETTERN-PUNKTIK

das ist:

Mathematik. Konstruktion. Konstellation.

Etwa:

seriell komponierte Felder;

x-phasige Durchgänge gleicher oder anderer Systeme;

Bewegung; Gegenbewegung.

Also: punktige, optische Musik mit akustischen Zeichen, Maschinenlettern vorwiegend.

DIE ISOLIERENDE ARTIKULATION:

das ist:

Herausstellung der jedem Laut eigentümlichen Gestalt;

GEGEN das allgemeine Sinn-Timbre;

Zerlegung der Worte;

Kreisung IN SICH jedes Lautes

Der Verweis auf serielle Strukturierungen

zielt auf Annäherungen experimenteller Literatur an experimentelle Musik,

wie sie in den fünfziger Jahren

beispielsweise in Hörstücken von Gerhard Rühm initiiert worden sind.

Das ästhetische Kontrastmodell zur quasi sprachstrukturell organisierten seriellen Musik,

nämlich die transgrammatische und transsyntaktische konkrete Musik

(für die sich Beispiele u. a. einerseits bei Pierre Henry,

andererseits bei Iannis Xenakis finden lassen),

hat Claus in diesem theoretischen Text ebenfalls beschrieben -

beispielsweise im Falle visueller Texte als

DIE WUCHERNDE, VEGETATIV-ORIENTIERTE

ZEICHEN-VERSCHLINGUNG, -AUFLÖSUNG, -SCHICHTUNG.

gleich:

(...)

Überschwemmung des Blatts mit psychoenergetischen Strömen, Seen;

(...)

Charakteristisch für diese Beschreibung visueller Texte ist wiederum

die Auflösung des Werkes in den Prozeß seiner Hervorbringung.

Analog generierte auditive Texte spielen im oeuvre von Carlfriedrich Claus eine wesentliche Rolle,

und ihre kompromißlose Expressivität und klangliche Radikalität

haben sich für die Akustische Kunst von Carlfriedrich Claus

als durchaus charakteristisch erwiesen.

Was Claus im Falle der Bildenden Kunst bilder- und metaphernreich zu konkretisieren vermag,

kennzeichnet er in seiner Hörkunst allerdings eher indirekt, in der Abgrenzung vom Bekannten:

Kein einzelner Laut mehr erkennbar.

(...)

alle Laute (...) in Fluß (...)

Charakteristisch für die künstlerische Praxis von Carlfriedrich Claus

und für deren ästhetische Reflexion

ist eine vieldimensionale Dialektik des produktiven Widerspruchs.

Claus hat von Jugend auf immer wieder gegen den Strom schwimmen müssen:

In ästhetischer und politischer Opposition gegen die Nazi-Barbarei -

im Widerstand des idealistischen Kommunisten

gegen primitive (polit-)ästhetische Klischees des "sozialistischen Realismus" -

in radikaler Verweigerung gegen die Vermarkungsmechanismen von Kunst -

in der vorurteilslosen Auseinandersetzung

mit angeblichen oder tatsächlichen ästhetischen Widersprüchen.

Seine grenzüberschreitende Akustische Kunst

ist und bleibt aktuell als Modell produktiv-kritischer Auseinandersetzung

mit Kunst und gesellschaftlicher Wirklichkeit.

Nachweise:

Carlfriedrich Claus: Erwachen am Augenblick Sprachblätter

(mit den theoretischen Texten von Carlfriedrich Claus und einem kommentierten Werkverzeichnis

bearbeitet von Klaus Werner)

herausgegeben von den Städtischen Museen Karl-Marx-Stadt

und dem Westfälischen Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster -

Landschaftsverband Westfalen-Lippe

(mit Ausstellungs- und Literaturverzeichnis)

Kassettenumschnitt: Carlfriedrich Claus: Sprechexerzitien. 1959

Carlfriedrich Claus: Lautaggregat, 001-95-CC WDR, WDR 1993

(Erstsendung 16. März 1993, Dauer 42´25 Min)

(im booklet: Gespräch von Carlfriedrich Claus mit Klaus Schöning)



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