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Rudolf Frisius
MUSIKSPRACHE - SPRACHMUSIK
Grenzüberschreitungen
im oeuvre von Carlfriedrich Claus
WERK UND PROZESS -
IM GRENZBEREICH ZWISCHEN VERSCHIEDENEN KÜNSTEN
Der Begriff Zeit ist untrennbar verknüpft mit dem Begriff Bewegung.
Ein Punkt setzt sich in Bewegung: die Linie entsteht.
Übergang von der unbeweglichen, raum- und zeitlosen Nulldimensionalität
in die bewegungserfüllte Eindimensionalität der Zeit. (...)
Mit diesen Worten beginnt ein 1952 entstandener theoretischer Text von Carlfriedrich Claus.Sein Titel: Das Wesen der Zeit und die bildende Kunst. Die Vorstellung des Bildwerkes als fixiertes Objekt löst sich hier auf in der Perspektive des Prozesses der Entstehung des Bildes. Der Zeitbegriff, der dadurch ins Spiel kommt, bedarf allerdings genauerer Differenzierung:
Zeit als Qualität ist subjektiv bedingt, Zeit als Quantität objektiv erfaßbar.
Für Claus hat der qualitative Aspekt (Erlebniszeit) Vorrang vor dem quantitativen (gemessene Zeit) -
und zwar sowohl in der (abstrakten) bildenden Kunst als auch (generell) in der Musik:
Es gibt (...) zwei große Gebiete, in denen qualitative Zeit
bei geöffneten Sinnesorganen primär wirksam wird.
Da ist erstens die Musik, die ja im Eindimensionalen, in der wesenhaften Zeit sich bewegt. (...) -
Und zweitens ist es die bildende Kunst des 20. Jahrhunderts.
Die Distanzierung vom Werk als (quasi-)räumlichem Objekt führt auch zu einem veränderten Verständnis von Sprache und Literatur.
Carlfriedrich Claus ist ein Künstler zwischen den Fronten.
Seine künstlerischen Ideen tendieren zum Versuch,
die Grenzen zwischen traditionell etablierten Künsten
in Frage zu stellen und womöglich zu überwinden.
Dies tangiert unterschiedliche Disziplinen
in den Bereichen der Bildenden Kunst, der Sprache und der Musik.
In allen diesen Bereichen hat Claus mit Grenzerfahrungen experimentiert -
an Grenzen stoßend;
Grenzen erkennend oder negierend, respektierend oder überwindend.
Z: Nonverbale Artikulation (z. B. WDR, BR oder Kass. 1: 32´´-1´42))
Musik und Akustische Kunst entstehen im oeuvre von Claus als Phänomene der Grenzüberschreitung.
Der erste Schritt ergab sich dabei als Erweiterung der Literatur,
als Verlagerung des künstlerischen Interesses vom Text auf die klingende Sprache.
Spuren hiervor finden sich noch in der Kollektion der 1959 aufgenommenen Sprechexerzitien.
Einige der hier aufgenommene Stücke präsentieren sich als Text-Rezitationen:
Sprachlaute und Silben, Wörter, Satzteile und Sätze werden erkennbar
als Bestandteile einer vorgegebenen Sprache: des Deutschen.
Z: Verbale Artikulation (Zusammenschnitt aus Sprechexerzitien) z. B. Kass 1: 8´44-10´08 Studie I
Rezitierte Sprache unterscheidet sich in wesentlichen Aspekten von der gelesenen Sprache.
In ihr finden sich konkret hörbare Charakteristika, von denen die Schriftzeichen abstrahieren.
Beim Lesen liegt es meistens nahe, vor allem darauf zu achten, was gesagt wird.
Beim Hören ist es möglich, genauer zu erfassen, wie es gesagt wird -
vor allem, wie das Gesprochene klingt:
Wer es in welcher Weise ausspricht;
wie eine sprechende Stimme klingt
und wie sich gegebenenfalls der Stimmklang während des Sprechens verändert;
wie Sprachlaute und Silben, Wörter und Wortgruppen
als stimmliche Artikulation hörbar werden.
Es gibt verschiedene Kriterien, nach denen sich klingende Sprache analysieren läßt -
unabhängig davon, ob es sich dabei um alltägliche Sprache handelt
(sei es, daß sie direkt gehört wird;
sei es, daß sie in technischer Übermittlung oder Konservierung zu hören ist)
oder ob es sich um die Rezitation eines zuvor aufgeschriebenen Textes handelt
(sei es eine Live-Rezitation,
sei es ihre technische Live-Übertragung,
sei es technisch verbreitete oder konservierte,
natürliche oder technische konservierte klingende Sprache).
Der aufgeschriebene Text kann sich an Grammatik und Syntax einer bekannten Sprache anlehnen,
aber auch sich loslösen von grammatischen, syntaktischen und semantischen Vorgaben -
beispielsweise als autonome Lautstruktur.
evtl. Z: Autonome Lautstruktur: rasche Einzelsilben oder Gruppen mit (teils repetierten) Vokalen
Kass. 1: 32´´ -1´42, evtl. 5´05-5´58
Akzentverlagerungen vom Text zur klingenden Sprache
können sich bereits dann abzeichnen,
wenn Sprache so rezitiert wird,
daß die Aufmerksamkeit nicht allein auf Bedeutungszusammenhänge,
sondern auch auf das klangliche Eigenleben
bestimmter Laute, Wörter oder Wortgruppen gelenkt wird -
wenn im Klang der Sprache sich eine Musik der Laute und Lautkonstellationen abzeichnet.
Z: Rezitation mit hervorgehobenen Lauten, z. B. m Kass 1 25´25-26´35, i 11´13-11´50
Einfache Möglichkeiten der klanglichen Emanzipation von Sprachlauten
können sich schon dann ergeben,
wenn ein Textzusammenhang aus Verfahren entwickelt wird,
wie sie sich ansatzweise bereits im traditionellen Stabreim finden,
der ja schon bei Richard Wagner gelegentlich
zu ersten Andeutungen nonverbaler Lautstrukturen fortentwickelt worden ist.
evtl. Z: Rheingold, Anfang des Gesanges der Rheintöchter
(u. U. zuvor Rezitation des zunächst asemantischen Textes)
Die Emanzipation des Lautlichen kann damit beginnen,
daß in gesprochener Sprache lautliche Zusammenhänge erkennbar werden.
Z: Rezitation mit hervorgehobenen Lauten, z. B. o
Kassette 1: 24´01-25´25 domende Tropfen
Wenn Laute oder Lautkonstellationen, Wörter oder Wortgruppen
exakt oder variierend wiederholt werden,
können sich Zusammenhänge ergeben,
die sowohl beim Lesen des Textes als auch beim Anhören seiner Rezitation
relativ leicht herauszufinden sind.
Z: Struktur mit rasch wiederholten e-Lauten, 1. Teil (bis zur längeren Pause)
Kassette 1: 11´50-12´56
Der einfachste Fall der Bildung autonomer Lautstrukturen ist die Bildung von Lautgruppen,
in denen ein einzelner Laut fortwährend wiederholt wird.
In Alltagssituationen können sich solche Lautstrukturen ergeben,
wenn jemand stottert oder vergeblich zu sprechen versucht.
evtl. Z: Zauberflöte Papageno (mit geschlossenem Mund)
evtl. Die verkaufte Braut
evtl. Henry Quesquidi
Strukturen mit mehrfach wiederholten Lauten unterscheiden sich von gesprochener Sprache -
sei es deswegen, weil jemand vergeblich versucht, zusammenhängend zu sprechen;
sei es deswegen, weil jemand mit Lauten anderes ausdrücken will als sprachlich fixierte Information.
Z: Struktur mit wiederholten e-Lauten, 2. Teil: Kassette 1, 12´56-14´17
Der einzelne Laut kann sich aus den Bindungen einer vorgegebenen Sprache lösen,
wenn er sich gleichsam unter dem Mikroskop verselbständigt -
d. h. wenn er nicht rasch, nach lexikalischen Regeln, von anderen Sprachlauten abgelöst wird,
sondern wenn er Zeit bekommt, sich zu entfalten.
Wenn es sich um kurze Sprachlaute handelt,
können sich solche Zeitlupeneffekte daraus ergeben,
daß ein einzelner Laut mehrfach wiederholt wird.
Solche Wiederholungsstrukturen ergeben sich in einfachen Fällen
aus Wiederholungen desselben Lautes;
möglich sind aber auch Strukturen mit Lauten,
die nicht genau identisch sind, sondern ähnlich,
nach bestimmten morphologischen Kriterien miteinander verwandt.
Z: s-Laute, Zischlaute
Kassette 2 Nr. 1: 8 einschichtige Lautprozesse Nr. 1: Explosivlaute, dann Zischlaute
Viele Stimmlaute lassen sich aus vorgegebenen sprachlichen Zusammenhängen
auch dadurch herauslösen, daß sie extrem lange ausgehalten werden.
Dabei kann sich die Lautstruktur in Musik, in eine Gesangsstruktur verwandeln -
z. B. dann, wenn ein Vokal lange ausgehalten wird in einer Vokalise -
oder auch im Glissandogesang.
Z: Glissandogesang (z. B. Kassette 1b, B-Seite ab 1´14)
Verbale und nonverbale Stimmäußerungen sind grundsätzlich gleichberechtigt,
wenn sie primär
als Phänomene des Stimmklanges und des stimmlichen Ausdruckes wahrgenommen werden,
losgelöst von möglichen Bindungen
an sprachlich gebundene, schriftlich fixierbare und weitgehend auch übersetzbare Bedeutungen.
Wenn Claus beide Möglichkeiten miteinander kombiniert,
verfremden Verbales und Nonverbales sich gegenseitig.
Z: Turmdohlen, Vokale (Kassette 1: 15´47-17´03) (oder Kassette I b, A-Seite 16´22)
Verbale ebenso wie nonverbale Stimmäußerungen
interessieren Claus vor allem im Kontext der Kontinuität von Lautprozessen.
Die Wurzeln dieser Auffassung sind schon in frühen Texten erkennbar,
die vom prozeßhaften Erscheinungsbild klingender Sprache sprechen.
Z: Kass 1 ab 20´06:
jedes Wort strömt wächst ist organ des folgenden wortes
(jedes wort strömt
wächst
ist organ des folgenden wortes)
Die Rezitation dieser Worte hört man im Zusammenhang eines Zyklus von Sprechexerzitien, die Carlfriedrich Claus 1959 aufgenommen hat. Sie beschreiben eine ästhetische Position, die sich nicht auf die Objektstruktur eines abgeschlossenen Textes, sondern auf den Prozeß der Materialerzeugung konzentriert. Claus bilanziert sie in dem 1964 entstandenen theoretischen Text Notizen der experimentellen Arbeit - zu ihr, wo auch der Satz energetisch paralysiert wird:
Man versucht, mit allen Gliedern einzugehen in den Satz;
dabei wird man, indem man sich in ihn hineinbewegt, von ihm bewegt,
bewegt bis in die feinsten und gröbsten Leib-Endigungen und -Beginne;
durch und durch, bis ins Skelett endlich,
ist man von ihm, den man durch sich erregt, erregt.
Dieses Exerzitium, eine antikontemplative Meditation,
eine Meditation aus und in raumsprengenden und -bildenden Tanz aller Glieder, Knochen im Wort,
leitet das eigentliche Experiment ein:
den Start, dann Austritt des leibhaftigen Informationsvehikels aus dem semantischen Schwerefeld
(...)
Versuche der asemantischen Erweiterung von Stimm- und Sprachäußerungen
können von der kodifizierten Sprache ausgehen -
beispielsweise dadurch, daß Claus um 1956 den hauch
(also auch den in sprachlichen Äußerungen und darüber hinaus wirksamen Prozeß des Atmens) literarisch thematisiert:
ein hauch
gewann
genau gegliederten umriss
(...)
Der Text beschreibt, daß die organische Äußerung sich der sprachlichen Artikulation annähert.
Dies wird präzisiert im Zentrum des Textes:
genau gegliedert
in inriss ausriss inriss
(...)
Die dritte Textzeile wird hier durchführungsartig erweitert und verarbeitet.
Beschrieben wird Atmen als artikulierte Äußerung.
In den letzten Zeilen kehrt der Text reprisenartig zum Ausgangsgedanken zurück.
Er beschreibt den Atem als organische Äußerung,
der nun wieder
hauch ist
verschwimmt
Der Atemlaut als literarisches sujet erscheint im verbalen Verweis auf nonverbale Dimensionen der stimmlichen Mitteilung. Der Text von Claus entstand fast gleichzeitig mit einem der ersten Musikstücke, das nonverbale Stimmäußerungen nicht nur benennt, sondern auch direkt als Klangmaterial einbezieht: Haut Voltage (1956) von Pierre Henry.
evtl. Z: Haut Voltage nonverbale Stimmäußerungen
Später, in Le Voyage (1962), ging Henry noch einen Schritt weiter, indem er artikulierte Atemlaute (wie sie Claus in seinem Text anspricht) zum dominierenden Klangmaterial machte.
evtl. Z: Henry Le voyage Atemlaute
Die musikalische Verarbeitung von Atemlauten hat Pierre Henry in einer fiktiven Tagebuchnotiz zugleich biographisch und ästhetisch legitimiert.
Im Text seines Hörspiels Journal de mes sons beruft er sich auf eine Kindheits-Erfahrung:
Auf Atmen als Therapie.
Er sagt:
Ich machte viel Gymnastik. Bewegungen, Übungen, Atemzüge.
Seitdem interessiere ich mich für Atemlaute.
Atemlaute sind wichtig für meine Arbeit... All diese unentbehrlichen Atemlaute...
Henry, der produktivste Pionier der konkreten Musik, hat in seine universellen Klangkunst schon frühzeitig auch nonverbale Stimmäußerungen einbezogen. Schon seit den späten vierziger Jahren standen ihm hierfür die Ressourcen professioneller Studiotechnik zu Gebote, während Carlfriedrich Claus, der experimentelle Literat, sich in nahezu völliger ästhetischer Isolation mit denkbar einfachen technischen Hilfsmitteln begnügen mußte: Seine ersten Produktionen akustischer Kunst realisierte er auf einem Heim-Tonbandgerät mit einer einfachen (Playback-)Trickschaltung.
Claus hat mitgeteilt, daß die ersten Ansätze seiner experimentellen Literatur bis in das Jahr 1951 zurückreichen. Wie weit der Weg von den ersten literarischen Versuchen bis zur von konventioneller Sprache emanzipierten experimentellen Stimmkunst war, läßt sich an verschiedenen Produktionen aus den fünfziger Jahren belegen. Als charakteristisches Beispiel einer Orientierung auf das (umgangssprachlich fixierte) Wort bietet sich eine Textprobe aus dem Jahre 1955 an,
die einige Jahre später auch in dem Zyklus der SPRECHEXERZITIEN verwendet worden ist:
muscheln strömen meere strömen muscheln
Z: meer muscheln ströme... Kassette 1 25´25 - 26´35
Dieser kurze Text mit seinen symmetrisch angeordneten, im Lautmaterial eng miteinander verwandten Zeilen findet sich auch in dem 1959 zusammengestellten Tonbandzyklus der Sprechexerzitien - allerdings nicht als einfache Rezitation, sondern im Playback vervielfacht: Der polyphone Klangstrom erscheint als akustische Konkretisierung des Textinhaltes. Hier zeigen sich erste Ansätze einer Konzeption alternativer Polyphonie - eines dialektischen Umschlags des Geordneten ins Chaotische, vergleichbar der (allerdings ästhetisch durchaus andersartigen) hystérie sonore bei Pierre Henry, deren extremste Konsequenzen Claus später am Beispiel seiner 1993 entstandenen Produktion Lautaggregat beschrieben hat:
Zum Beispiel der Beginn, der scheinbar ein totales Durcheinander, Tohuwabohu darstellt, besteht aus Einzelelementen, die in sich eine ganz klare Struktur haben. Die Unklarheit entsteht aus Klarheit.
Z: Lautaggregat Anfang
Der dialektische Umschlag verbaler in nonverbale Kommunikation läßt sich dann relativ einfach beschreiben, wenn (scheinbar) abstrakte Lautstrukturen aus konventionellen Sprachstrukturen gleichsam herausgefiltert werden. Hans Grüß hat an einem plausiblen Beispiel beschrieben, wie Claus einen Schreibmaschinentext semantisch destruierend weiter verarbeitet:
Z: Kassette 1 11´15-11´30
glitzern/ist/antlitz/spiegel//denken/glitzert//schnee
i e i a i i e e e i e e
Wenn einzelne Vokale aus diesem Text ausgefiltert werden,
können ähnlich atomistische Stimmäußerungen sich ergeben wie in manchen Lautgedichten,
wie sie Josef Anton Riedl seit den frühen fünfziger Jahren geschrieben hat.
evtl. Riedl: Lautgedicht. CD Lautpoesie, GSV LC 4794 take 2: 11 Sek
Die Laut-Ausfilterung bei Claus führt zur vollständigen semantischen Destruktion
(übrigens wiederum so, wie sie sich auch in manchen Lautgedichten Riedls ergibt).
Wer den Ausgangstext nicht kennt,
wird ihn in der Regel aus den daraus abgeleiteten Lautstrukturen nicht mehr rekonstruieren können - zumal nicht in diesem Beispiel von Claus, in dem,
wie Hans Grüß mit Recht hervorgehoben hat,
zwischen Lautstruktur und Buchstabenstruktur nicht hinreichend deutlich unterschieden wird (insbesondere zwischen langen und kurzen Vokalen und entsprechenden orthographischen Varianten; differenzierende Schriftzeichen, die die Länge oder sogar die Akzentuierung eines Vokals festlegen, finden sich bei Claus nur ausnahmsweise bzw. erst im Kontext nachträglicher Text-Überarbeitung).
Im zyklischen Zusammenhang der Sprechexerzitien können allerdings solche Ableitungszusammenhänge dann deutlich werden, wenn bestimmte Textpassagen sowohl ungefiltert als auch gefiltert in hinreichender zeitlicher Nachbarschaft identifizierbar sind.
Der von Grüß geführte Nachweis, daß die Filtrierungen - als Buchstaben-Filtrierungen -
auch zu abstrakten Schreibmaschinen-Texten führen können,
macht aber immerhin auch deutlich, daß Hör- und Sehtexte
trotz ihrer unterschiedlichen Materialbedingungen analog strukturiert sein können
(daß Claus also insofern ähnlich denkt wie J. A. Riedl
mit seiner Parallelisierung akustischer und optischer Lautgedichte).
Konkretion und Abstraktion sind Stichworte für verschiedene Richtungen,
in denen sich experimentelle Literatur von der Sprache entfernen kann.
Die Abstraktion kann in die Richtung einer exakt notierbaren Musikalisierung führen,
die Konkretion in die Richtung einer Differenzierung stimmlicher Artikulation,
die die Möglichkeiten einer konventionellen Standard-Notation sprengt.
Die erstgenannte Möglichkeit,
die Möglichkeit von der Sprache abstrahierender experimenteller Literatur,
nutzt Claus in einem 1954-1956 entstandenen Schreibmaschinentext,
der nach gründlicher Überarbeitung schließlich eine schriftliche Gestalt angenommen hat,
die nicht nur das Lautmaterial fixiert,
sondern auch Längen und gegebenenfalls Akzentuierungen von Vokalen.
So entsteht ein Text, der sich von der Sprache abstrahierend entfernt,
für den aber trotzdem durch Zusatzzeichen die Aussprache ziemlich genau festgelegt wird:
TONGTONG
TONG
ÖISILIRI
ÖISILIRI
SILIRI
RI
TONG
TONGTONG
TONG
ÖI
ÖI
TONG
SILIRI
ÖISILIRI
I
ÖII
TONGTONGTONGTONGTONG
In dem 1959 entstandenen theoretischen Text Klangtexte Schriftbilder
hat Claus Stichworte gegeben, die sich bei der Analyse
dieses Buchstabentextes und analog strukturierter Lauttexte anwenden lassen:
DIE RINDENGESTEUERTE LETTERN-PUNKTIK
das ist:
Mathematik. Konstruktion. Konstellation.
Etwa:
seriell komponierte Felder;
x-phasige Durchgänge gleicher oder anderer Systeme;
Bewegung; Gegenbewegung.
Also: punktige, optische Musik mit akustischen Zeichen, Maschinenlettern vorwiegend.
DIE ISOLIERENDE ARTIKULATION:
das ist:
Herausstellung der jedem Laut eigentümlichen Gestalt;
GEGEN das allgemeine Sinn-Timbre;
Zerlegung der Worte;
Kreisung IN SICH jedes Lautes
Der Verweis auf serielle Strukturierungen
zielt auf Annäherungen experimenteller Literatur an experimentelle Musik,
wie sie in den fünfziger Jahren
beispielsweise in Hörstücken von Gerhard Rühm initiiert worden sind.
Das ästhetische Kontrastmodell zur quasi sprachstrukturell organisierten seriellen Musik,
nämlich die transgrammatische und transsyntaktische konkrete Musik
(für die sich Beispiele u. a. einerseits bei Pierre Henry,
andererseits bei Iannis Xenakis finden lassen),
hat Claus in diesem theoretischen Text ebenfalls beschrieben -
beispielsweise im Falle visueller Texte als
DIE WUCHERNDE, VEGETATIV-ORIENTIERTE
ZEICHEN-VERSCHLINGUNG, -AUFLÖSUNG, -SCHICHTUNG.
gleich:
(...)
Überschwemmung des Blatts mit psychoenergetischen Strömen, Seen;
(...)
Charakteristisch für diese Beschreibung visueller Texte ist wiederum
die Auflösung des Werkes in den Prozeß seiner Hervorbringung.
Analog generierte auditive Texte spielen im oeuvre von Carlfriedrich Claus eine wesentliche Rolle,
und ihre kompromißlose Expressivität und klangliche Radikalität
haben sich für die Akustische Kunst von Carlfriedrich Claus
als durchaus charakteristisch erwiesen.
Was Claus im Falle der Bildenden Kunst bilder- und metaphernreich zu konkretisieren vermag,
kennzeichnet er in seiner Hörkunst allerdings eher indirekt, in der Abgrenzung vom Bekannten:
Kein einzelner Laut mehr erkennbar.
(...)
alle Laute (...) in Fluß (...)
evtl. Z: (Jedes Wort... Kassette 1 b, A-Seite Anfang (15´´ Neuaufn., 1´17-2´20 alt, wohl 1959))
Der Aushauch... Kassette 1 b A-Seite (5´28 Neuaufn., 5´58-6´35 Altaufn.)
Hörtexte werden anders rezipiert als Sehtexte.
Nur in Ausnahmefällen ist es möglich,
einen Hörtext in einen Sehtext oder umgekehrt einen Sehtext in einen Hörtext zu übersetzen.
Je mehr ein solcher Text
von spezifischen materialen Gegebenheiten und Möglichkeiten Gebrauch macht,
desto schwieriger ist es, ihn in einen anderen Sinnesbereich zu übersetzen.
Gehörtes und Gelesenes werden unterschiedlich wahrgenommen -
und dies schon deswegen, weil die Modalitäten des Lesens subjektiv variabel sind
in Bereichen, die beim Hören des Textes in der Regel unveränderlich festgelegt sind.
Dann, wenn ein Texte vorgelesen -
aber auch dann, wenn die Lesung des Textes
über ein Massenmedium übertragen oder über einen Tonträger wiedergegeben wird -,
werden alle Hörer mit derselben akustischen Interpretation konfrontiert -
mit denselben Akzentuierungen, mit denselben vokalen Timbres,
mit denselben Differenzierungen der Sprechmelodie und des Sprechrhythmus.
Der Hörvorgang wird reglementiert.
Im Moment des Hörens wird die Illusion erweckt,
der Text ließe sich nur so und nicht anders sprechen.
Z: Jedes Wort..., ältere Aufnahme. Kassette Ib, Seite A, 15´´ - 1´47
evtl. anschließend auch: Der Aushauch..., ältere Aufnahme. Kass. IbA, 5´58-6´35
Erst im Vergleich verschiedener Rezitationen oder Aufnahmen läßt sich erkennen,
daß das scheinbar eindeutig Festgelegte in Wirklichkeit unterschiedlich klingen kann.
Z: Jedes Wort..., evtl. auch Der Aushauch..., neuere Aufnahmen
IbA 0´15-1´47, evtl. auch 5´28-5´58
Das Anhören einer Text-Rezitation ist ein zeitlich und qualitativ normierter Vorgang.
Erst im Vergleich verschiedener Rezitationen läßt sich erkennen,
daß derselbe Text auf verschiedene Weisen in klingende Sprache übersetzt werden kann.
Dies ist nicht zuletzt deswegen bedeutsam,
weil das Schriftbild in der Regel den Sprechvorgang nicht genauer differenziert -
es sei denn, es handelt sich um spezielle Texte,
in denen dies etwa durch Besonderheiten der Typographie reguliert wird.
Das Hier und Jetzt des Höreindruckes einer bestimmten Text-Rezitation
kann unter diesen Umständen eine stark prägende Kraft gewinnen. -
Ganz anders ist die Situation in der Regel dann, wenn ein Text gelesen wird.
Der Leser selbst kann bestimmen, wie schnell er liest,
an welchen Stellen er innehält oder rascher weitergeht,
ob er sich an eine bestimmte Abfolge hält oder im Text hin und her springt und so weiter.
Geschriebene Texte können nicht nur als Anweisungen zum lauten Vorlesen verstanden werden,
sondern auch als Schriftbilder.
Dieser Aspekt hat Claus nicht nur in seiner literarischen Arbeit interessiert,
sondern auch in seiner Arbeit als bildender Künstler.
In vielen seiner Bilder erscheinen Schriftzeichen
in der Ambivalenz grafischer und semantischer Symbole -
gleichsam als Gegenbilder zu seinen Sprachklängen,
die sich häufig im Niemandsland zwischen Musik und Literatur bewegen.
evtl. Z: Dynamische Koartikulation 1959
Das Verhältnis zwischen Text und klingender Sprache
differenziert Claus im Rekurs auf Zeit und Raum,
und er schafft damit erste Grundlagen für die ästhetische Legitimation
einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen hörbarer und lesbarer Sprache.
In diesem Sinne hat sich Claus bereits 1954 in einer Notiz an Will Grohmann geäußert.
Er schreibt:
Die Sprache, die tönende Sprache ist in der Zeit. (...)
Erst im gedruckten Wort tritt die Sprache in lose Beziehung zum Räumlichen.
Nur in "lose Bezhiehung" deshalb,
weil im Nacheinander (des Lesens) auch die Zeit mitspielt.
In dieser Unterscheidung kündigt sich eine ästhetische Bipolarität an, die dann später, seit Ende der fünfziger Jahre, für die künstlerische Arbeit von Carlfriedrich Claus wesentliche Bedeutung gewonnen hat: Claus distanziert sich von Positionen, die man aus der Ästhetik des traditionellen literarischen Hörspiels der fünfziger Jahre kennt - von der Konzentration auf das schriftlich fixierte Wort (bzw. auf den schriftlich fixierten literarischen Text), der einer klanglichen (oder sogar klanglich-szenischen) Realisation in ähnlicher Weise übergeordnet ist wie die Partitur eines traditionellen Musikstückes seiner Aufführung. Claus zieht Konsequenzen daraus, daß diese hierarchische Abstufung zwischen Text und klanglicher Realisation im Zeitalter der technischen (Re-)Produzierbarkeit keine Allgemeingültigkeit mehr beanspruchen kann. Denn einerseits ist es durch Techniken der Klang-Aufzeichnung und Klang-Verarbeitung möglich geworden, Klänge auch unabhängig von einer im voraus fixierenden Notation zu realisieren und kompositorisch zu fixieren: Der Klang hat sich emanzipiert von den Möglichkeiten und Grenzen einer standardisierten Notation. Andererseits hat die Autonomisierung des Klanges den Weg bereitet auch für die Autonomisierung der Schrift. Bei Carlfriedrich Claus zeigt sich dies daran, daß in seiner experimentellen Literatur - ähnlich wie in graphischen Notationen experimenteller Musik - Schriftzeichen zu Bildelementen werden können. Die ästhetische Verselbständigung der visualisierten Sprache, der Schrift-Text, ergibt sich als Komplement zu dem vom Primant der konventionellen Schrift emanzipierten Klang-Text (bzw. Laut-Text, wenn man sich auf die von Claus favorisierte vokale Klang-Produktion konzentriert - auf die Stimme des Klangpoeten als Äquivalent zu den Händen des bildenden Künstlers).
Die Komplementarität beider Lösungsansätze verdeutlicht Claus dadurch, daß er sowohl Klänge (bzw. Laute) als auch Bildelemente (z. B. Schriftzeichen) vergleichbaren Arbeitstechniken unterwirft - z. B. Fragmentierung, polyphone Schichtung und Verfremdung. So lassen sich beispielsweise übereinandergelagerte transparente Blätter mit Schriftelementen (vielschichtige Sehtexte) interpretieren als visuelle Korrelate zu im Playback (in Trickschaltung) übereinander geschichteten Stimmaufnahmen (d. h. vielschichtigen Hörtexten). Die Verlagerung des ästhetischen Interesses vom literarischen Text auf die klingende Sprache wird zum Sonderfall einer ästhetischen Emanzipation verschiedener Sinnesbereiche, in deren Zusammenhang sich die Verselbständigung einerseits des Hörtextes, andererseits des Sehtextes ergeben kann. Die Trennung der Sinnesbereiche macht andererseits den Weg frei für neuartige Synthesen verschiedener Sinnesbereiche. Hierzu heißt es in den Notizen an Will Grohmann:
Eine Linie, einen Laut nicht nur sehen, hören,
sondern auch riechen, schmecken, voll empfinden.
Und umgekehrt:
Linien und Farben, oder Konsonanten und Vokale soweit durchsichtig machen,
daß z. B. eine Duftwesenheit darin wohnen kann.
So ergibt sich ästhetische Vielschichtigkeit
gleichsam als polyästhetische Verallgemeinerung des musikalischen Begriffs der Polyphonie.
Z: Vielschichtigkeit (z. B. Bewußtseinstätigkeit oder Lautaggregat oder BR)
In vielen Produktionen der Akustischen Kunst von Carlfriedrich Claus
verbinden sich technische und ästhetische Möglichkeiten,
wie sie einerseits Live-Stimmen, andererseits technisch produzierte Stimmen bieten.
Der Aspekt der lebendigen Stimmäußerung, der Rezitation
ist in seiner Arbeit stets als Ausgangsimpuls erkennbar geblieben.
Wichtige Erfahrungen hat Claus dadurch sammeln können,
daß er selbst fremde und eigene Texte rezitierte.
Z: Textrezitation Kass. 1, B-Seite
z. B. 2´19 Mon: Entfernung wiegt nichts, 3´15 Mon Reflexe eindringend,
4´33 Eluard: Meine Landschaft, 6´33 Eluard Letztes, 7´48 Einstein Lisbeth,
8´56 oder 10´36 Arp Aus der Wolkenpumpe, 11´51 Kandinsky Blaues,
11´39 Einstein (... Gehirnschale...)
evtl. auch eigene sprachliche Texte aus Kassette 1 Seite A
Erste Anregungen, über die Bedeutung der Rezitation
im Sinne der Verklanglichung von Sprache nachzudenken,
bekam Claus 1954, als er in seiner Heimatstadt Annaberg hörte,
wie die Sprecherin Antonia Dietrich einen Vortragstext über Goethe rezitierte.
Wie diese Rezitation auf Claus gewirkt hat, wissen wir,
weil er anschließend im Kulturteil der Annaberger Lokalzeitung darüber berichtet hat.
Bemerkenswert ist, was ihm an der Rezitation vor allem auffiel:
... Diese Empfindsamkeit für die Schwingungen innerhalb des Wortes -
diese Sensibilität für die Vokale und Konsonanten.
Was ihm hier gefiel, versuchte er fünf Jahre später
auch in Aufnahmen eigener Rezitationen zu erreichen.
Z: Textrezitation aus Kassette 1 B (lang gedehnte Laute)
z. B. 3´53 Tropfen... spiegeln... schweben...15´06 ... Wind..., 24´01 ... domende Tropfen,
26´35 Wind
Schon in der Feuilleton-Rezension des Jahres 1954 wird erkennbar,
was Claus in der Live-Rezitation vorrangig interessiert hat:
Nicht der Text des Vorgetragenen, sondern die klingende Sprache -
die klanglichen Details im Vortrag der Rezitatorin.
Claus schreibt:
Sie verwob die Stille und den Laut zu einer Ganzheit.
Sie brachte das Wort in unlösliche Beziehung zum Schweigen
und gestaltete dadurch eine überzeugende Sprachplastik.
Die Konzentration auf einzelne Wörter,
die durch Kunstpausen und Wiederholungen in verschiedenen Zusammenhängen
besonders hervorgehoben werden,
spielt bei Claus schon frühzeitig eine Rolle.
In seinen 1959 aufgenommenen SPRECHEXERZITIEN
finden sich Texte, die sich auf einzelne Wörter konzentrieren,
die immer wieder in wechselnden Konstellationen in den Vordergrund rücken.
Z: Kass. 1 a Nr. 2 1´42 - 3´53 ... schreitet schreit...
Nr. 3 3´53 - 5´05: Tropfen... spiegeln... schweben
Nr. 5 (Anfang 5´26) Ende (kurz vor 7´58 Anfang Melos): in ihm in...
Nr. 10 11´12 Glitzern... Antlitz... Spiegel
27´01 Schweben...
Bemerkenswert ist, wie Claus schon in seinem frühen Feuilleton
das Verhältnis zwischen Klang und Stille
als plastischen Aspekt der klingenden Sprache hervorhebt -
ein Verhältnis, das (allerdings unter anderen ästhetischen Prämissen)
auch in der Musik des 20. Jahrhunderts wesentliche Bedeutung erlangt hat,
vor allem bei Satie, Webern und Cage.
Im Zusammenhang mit der Textrezitation ist für Claus der plastische Aspekt
der Relation zwischen Klang und Stille
gleichwertig mit dem farblichen Aspekt der Lautgestaltung
(bzw., wie Claus es metaphorisch nennt,
der Gestaltung von Licht und Farbe).
Auch dies wird schon 1954 in seinem Lob der Rezitatorin deutlich.
Claus schreibt:
Wie sie z. B. das wellende, gleitende L
oder das große Fernen umrundende N sprach
und die Konsonanten durchglitzerte mit dem lichten i,
oder aus dem dunklen Balkenwerk der Konsonanten ein weites a erstrahlen ließ -
diese Durchleuchtung und Farbgebung des Plastischen war ein Erlebnis.
Hier lobt Claus eine exaltierte Rezitationsweise,
die die einzelnen Sprachlaute prononciert hervorhebt -
eine Sprechweise, die wir auch aus seinen ersten Rezitations-Aufnahmen kennen.
Z: Kass. 1A Nr. 2, 1´42 - 3´53 ... in uns bewegt...
Beim vergleichenden Hören verschiedener Rezitationen von Claus kann man erkennen,
daß der plastische Aspekt (Klang und Stille) und der farbliche Aspekt
in seinen eigenen Texten auch in Konflikt miteinander geraten können.
Wenn einzelne Wörter langsam, in erhabener Rezitation gesprochen werden
und wenn Raum für Pausen zwischen ihnen bleibt,
dann kann es geschehen,
daß die Aufmerksamkeit vom Klang der Worte abgelenkt wird
und sich stärker den Bedeutungen zuwendet.
Z: Kass. 1 A Nr. 3, 3´53 - 5´05: Tropfen am Flechtengestein
Tropfen... spiegeln... schweben im All... spiegeln das All
Das dritte Stück der Sprechexerzitien aus dem Jahre 1959
präsentiert sich in der Konzentration auf einzelne, bedeutungsschwere Worte,
die den Hörer der Rezitation nicht nur zum Nachlauschen,
sondern auch zum Nachdenken über Bedeutungszusammenhänge einladen können.
Der plastische Aspekt der Rezitation fördert hier möglicherweise
eine traditionelle, vom Sprachklang zu konventionellen Bedeutungen zurückführende Rezeption.
An späterer Stelle des Zyklus findet sich, als Nummer 5, ein kurzes Stück,
das sich als Variante des dritten Stückes beschreiben läßt,
die dessen Wortmaterial einerseits aufgreift und ergänzt, andererseits komprimiert.
Spuren der erhaben gravitätischen traditionellen Rezitation sind hier verschwunden
im lebendigen und rhythmisch straffen Sprechvortrag,
in dem jetzt auch der farbliche Aspekt der Lautgestaltung wesentlich deutlich hervortritt.
Z: Kass. 1 A Nr. 5, 5´58 - 6´26 Regen... tropfen... Spiegel...
Claus hat schon früh erkannt, daß qualifizierte Rezitation
den Hörer aktivieren, zu eigenen Versuchen der Textgestaltung anregen kann.
Dies läßt sich schon 1954 in seinem Feuilleton-Artikel nachlesen.
Dort heißt es:
Übrigens kann sich jeder für derartige Erlebnisse aufnahmefähig machen,
wenn er nur versucht, sich auf das Dargebotene zu konzentrieren,
das heißt, nichts anderes in sein Bewußtsein eindringen zu lassen.
Man wird dann bald empfinden, wie sich der Erlebniskreis, der Erfahrungsbereich
in ungeahnter Weise ausdehnt, vergrößert.
In Notizen an Will Grohmann, die ebenfalls 1954 entstanden sind,
hat Claus deutlich gemacht, daß seine Vorstellungen über Laut- und Sprachgestaltung
über die literarische Rezeption hinausweisen in Richtung der literarischen Produktion.
Claus schreibt:
Die Worte steigen wie märchenhafte Wolken aus dem dunklen Schweigen
und tropfen langsam zurück in das Wesen der Stille.
Der Dichter verwebt in seinen Gebilden das Wort mit der Stille -
er versucht, aus dem Schweigen und dem Laut eine Ganzheit zu gestalten,
die Ganzheit des Kunstwerkes. Das Verhältnis zwischen Klang und Stille hat Claus grundsätzlich anders bestimmt als Cage.
Einerseits löst er sich nicht aus der Vorstellung eines kontinuierlichen Zeitflusses,
in den Klang und Stille eingebunden sein sollen;
diese traditionsverhaftete Vorstellung
paßt besser zu den Leitvorstellungen anthroposophisch inspirierter Text-Gestaltung
als etwa zum Vortrag der lecture on nothing von Cage.
Andererseits legt Claus großen Wert darauf,
seine Vorstellungen nicht nur auf ästhetische Traditionen zu beziehen,
sondern auch auf die ästhetisch aktualisierende Reflexion politischer Erfahrung.
In diesem Sinne notiert Claus für Will Grohmann:
Wortlärm zerreißt die Stille und färbt die Fetzen grell - wie Krieg und Mord.
Das zielt auf ein anderes Erscheinungsbild klingender Sprache:
Die Sprache als Machtinstrument für bestimmte Zielsetzungen
im Raum wirtschaftlicher, politischer o. ä. Bestrebungen.
Resultat = sich überstürzende "Wort"-Ungeheuer.
Auf die Lautstärke kommt es an.
Und auf den pausenlosen Einsatz der Wörterwaffen-Einheiten.
Die heftige Expressivität, die Claus in diesem frühen Text für den Umgang mit Wörtern vorschlägt,
hat er später in den Bereich der nonverbalen Stimmartikulation hineingetrieben.
Explosive Laut-Artikulationen werden zu Klangsymbolen einer politisch-gesellschaftlichen Realität,
die nicht mehr verdoppelnd mit Worten benannt werden muß.
Z: Kassette I Seite A Nr. 1: Dynamische Koartikulation 0´32 - 1´42
Im Zeichen der nonverbalen Stimmäußerung
hat sich die Akustische Kunst von Carlfriedrich Claus unverkennbar radikalisiert.
Was in verschiedenen Stücken der 1959 produzierten SPRECHEXERZITIEN begann,
hat sich auch in späteren Arbeiten fortgesetzt.
Ein plastisches Beispiel hierfür ist eine am 17. und 18. Juli 1982 entstandene Produktion:
ACHT EINSCHICHTIGE LAUTPROZESSE.
Der Titel verweist darauf, daß Claus hier ausschließlich mit Aufnahmen der eigenen Stimme arbeitet,
ohne Playback-Überlagerungen und auch ohne elektroakustische Verfremdungen des Aufgenommenen.
Die einzelnen Aufnahmen präsentieren sich als Dokumente spontaner Stimmartikulationen
im Niemandsland zwischen Lautaggregaten und experimentellem Gesang.
Z: Kassette 2 Acht einschichtige Lautprozesse
z. B.: Nr. 1 - 1´52 Explosivl.-Zischl.-Expl., -2´52 Fragmente,-4´02 Atem-imag.Wörter-Laute
-5´23 Zischl., Singen, -5´23 s, Obertongliss, hoher Ton, - 7´57 brück. Gliss.,s - 9´34Gliss, Vokale
Im Spannungsfeld politisch geprägter Sprach-Erfahrung
haben sich bei Carlfriedrich Claus
Tonfall und Sprechduktus auch er ästhetischen Reflexion radikalisiert.
Auf Verinnerlichung und metaphysische Überhöhung zielende
Beschwörungen von Klang und Stille,
wie sie in den fünfziger und sechziger Jahren
beispielsweise auch im Bereich des traditionellen literarischen Hörspiels beliebt waren,
werden schon 1959 in den SPRECHEXERZITIEN von explosiven Lautstrukturen konterkariert.
Z: Band 1b, Anfang B-Seite mit Ansage: Dynamische Koartikulation 1959 (0´12, 1´13-2´02)
1980/81 entstand eine Produktion, die damals - in ihrer exzessiv bruitistischen Lautproduktion -
offensichtlich an die Grenzen dessen stieß, was der damals in der DDR weitgehend isoliert lebende Claus seinerzeit technisch adäquat realisieren konnte: BEWUSSTSEINSTÄTIGKEIT IM SCHLAF.
Die nonverbale Expression radikalisiert sich hier dadurch,
daß aufgenommene Stimmäußerungen auch multiplikativ überlagert
und dabei durch Transpositionen klanglich verfremdet werden.
Z: Band 1b, Auswahl aus B-Seite: Bewußtseinstätigkeit im Schlaf
2´02-6´22, 12´21-24´48: mit Überlagerungen transponierter Stimmlaute
Im oeuvre von Claus bilden sich Konturen einer undomestizierten,
dabei womöglich sogar
vom konventionellen Sprach- und Stimmklang
sich lösenden experimentellen Stimmkunst -
einer Stimmkunst, deren Entwicklung bei ihm bereits in den frühen fünfziger Jahren einsetzt,
die sich bei ihm dann jahrzehntelang abseits des offiziellen Kunstbetriebes vollzogen hat
und die erst in den neunziger Jahren einer breiteren Öffentlichkeit konfrontiert worden ist -
etwa in der skandalumwitterten Donaueschinger Vorführung der WDR-Produktion LAUTAGGREGAT.
Aufnahmen spontaner Live-Stimmaktionen
finden sich hier in so komplexen Formen der technischen Vervielfältigung und Verarbeitung,
daß die Charakteristika von Live-Klängen und technisch produzierten Klängen
auf neuartige und prägnante Weise unlöslich miteinander verbunden erscheinen.
Z: Lautaggregat (WDR-CD oder Donaueschinger CD-Dokumentation)
Inoffizielle und offizielle Studioarbeit
erscheinen im oeuvre von Claus in originellen Konstellationen.
Im Kulturbetrieb der DDR hatte er sich jahrzehntelang
mit der Rolle des geduldeten Außenseiters abzufinden,
dem professionelle Produktionsmöglichkeiten etwa in einer Rundfunkanstalt
nicht zur Verfügung standen.
Deswegen mußte er sich bei seinen Produktionen meistens
mit mehr oder weniger unprofessionellen technischen Bedingungen zufrieden geben -
in einer Zeit, in der selbst ein hochprofessioneller Studiokomponist wie Pierre Henry
zunächst mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte,
als er 1958 den Pariser Rundfunk verlassen mußte
und mit den (zunächst äußerst bescheidenen) Möglichkeiten eines privaten Studios
auskommen mußte.
Allerdings gelang es Henry schon nach relativ kurzer Zeit,
auch mit den Produktionen seines Privatstudios
Zugang zum offiziellen Musikleben zu finden,
während Carlfriedrich Claus auf entsprechende Möglichkeiten sehr lange warten mußte.
Erst nach der Wiedervereinigung kam es dazu,
daß westdeutsche Rundfunkanstalten ihm neue Möglichkeiten boten.
So konnten in den neunziger Jahren verschiedene Produktionen entstehen,
in denen aufgenommene Stimmlaute
differenzierten klanglichen Transformationen unterworfen wurden,
für deren Realisierung Claus zuvor die technischen Möglichkeiten gefehlt hatten.
Dennoch hat Claus auch in den neunziger Jahren nicht vergessen,
welches von Anfang an die Kraftquellen seiner Akustischen Kunst gewesen sind:
Seine hochentwickelten Fähigkeiten zur spontanen und zugleich differenzierten
stimmlichen Artikulation.
Auf ihnen basiert beispielsweise die Produktion POSITION 2 aus dem Jahre 1992
Z: Position 2 1992, Kassette 4, längerer Ausschnitt von Anfang
1992, in demselben Jahr wie POSITION 2, entstand die SPECHOPERATION 23,
in der auf knappstem Raum höchst unterschiedliche Extremformen stimmlicher Artikulation einander konfrontiert sind.
Z: Ausschnitt aus Sprechoperation 1992, GSV/WDR LC 4794, 1´01
Nur in seltenen Ausnahmefällen ist Claus bei der Auswahl seiner Klangmaterialien
über die Möglichkeiten spontaner Stimmartikulationen hinausgegangen.
Zu den seltenen Ausnahmen zählt das 1992 realisierte Stück POSITION 7,
in dem Claus mit Wasserklängen
und mit Klängen einer quietschenden, gelegentlich auch klappenden Tür arbeitet.
Z: Position 7 1992, längerer Ausschnitt von Anfang, Kassette 5 (1. Stück, Dauer 20´27)
Die 1994 entstandene Produktion POSITION 3
präsentiert in vorzüglicher Klangqualität aufgenommene Stimmaktionen -
in einem vielfarbigen Panorama der Lautkonstellationen und stimmlichen Aktionen.
Z: Position 3 1994, auf Kassette 5 (2. Stück 11´21, nach 1. Stück 20´27)
(Anfang: Stimmäußerungen - Kontrast zu Wasser und Türquietgeräuschen des 1. Stückes)
Die neuen Arbeitsmöglichkeiten, die Carlfriedrich Claus nach der Wiedervereinigung gefunden hat,
ergaben sich im Kontext einer vollkommen veränderten
gesellschaftlichen und kulturpolitischen Situation,
die nicht nur ihn selbst tangierte, sondern auch die gesamte Lautpoesie der DDR,
als deren Pionier und führender Exponent sich Claus seit den fünfziger Jahren exponiert hat.
Christian Scholz und Bernhard Jugel haben maßgeblich dazu beigetragen,
daß Arbeiten von Carlfriedrich Claus und anderen Lautpoeten der DDR
durch Rundfunksendungen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden sind.
Im Frühjahr 1990 haben beide die DDR bereist, Autoren interviewt und Tonzeugnisse gesammelt.
Auf dieser Basis realisierten sie
im Bayerischen Rundfunk unter der redaktionellen Verantwortung von Herbert Kapfer
eine zweiteilige Sendereihe mit dem Titel
"Lautpoesie der DDR".
Diese Sendereihe entstand unter maßgeblicher Mitwirkung von Carlfriedrich Claus.
Ihr folgte drei Jahre später, ebenfalls im Bayerischen Rundfunk,
ein Radioessay von Klaus Ramm,
der sich unter dem Titel "Die Stimme ist ganz Ohr"
mit den Lautprozessen von Carlfriedrich Claus befaßte.
1996, also wiederum 3 Jahre später,
produzierte Carlfriedrich Claus zusammen mit Bernhard Jugel
ein umfangreiches Stück wiederum für den Bayerischen Rundfunk.
DEr Titel des Werkes: BASALE SPRECH-OPERATIONSRÄUME.
In dieser Produktion sind Ideen verschiedener vorausgegangener Arbeiten zusammengeführt:
Stimmartikulationen verbinden sich mit mit anderen Geräuschen -
z. B. mit Wassergeräuschen,
wie sie Claus zuvor 1992 in POSITION 7 verwendet hatte.
Z: Claus / Jugel: Basale Sprech-Operationsräume 1996, Anfang
Stimmlaute - Wassergeräusche wie in Position 7 (später auch Klopfgeräusche)
In einer kommentierenden redaktionellen Notiz zu diesem Hörspiel heißt es:
Akustische Erkundungen der eigenen Stimme und Umweltgeräusche
waren der Ausgangspunkt für dieses experimentelle Werk (...)
Verschiedene Klangstrukturen, die in dieser Rundfunkproduktionen
miteinander in Verbindung gebracht worden sind,
existierten zuvor auch in eigenständigen Produktionen.
Zu diesen Produktionen gehört eine Aufnahme, die am 4. Oktober entstanden ist
und die mit einer spektakulären, grimmigen Lachsequenz schließt.
Z: Produktion 4. X. 95 (Gesamtdauer 6´53), Kassette 6, Schluß (Lachsequenz)
Diese Lachsequenz kehrt auch in der großen Produktion BASALE SPRECH-OPERATIONSRÄUME
in verändertem Zusammenhang wieder.
Der Schluß eines knapp 7 Minuten dauernden Einzelstückes
wird wieder aufgegriffen inmitten einer größeren und komplexeren,
etwa 54 Minuten dauernden Operation.
Z: Basale Sprech-Operationsräume, Zitat Lachsequenz Schluß 4. X. 95: bei ca. 22´18
Auf der Basis des Stückes BASALE SPRECH-OPERATIONSRÄUME initiierte Herbert Kapfer
eine zweite, ebenfalls auf der Lautpoesie von Carlfriedrich Claus basierende
Produktion des Bayerischen Rundfunks,
an der außer Carlfriedrich Claus auch Ernst Horn und Bernhard Jugel beteiligt waren
und die am 5. September 1997 urgesendet wurde.
Dieses Stück hat den Titel: BASALE SPRECH-OPERATIONSRÄUME (REMIX)
Z: Basale Sprech-Operationsräume (Remix)
In einem redaktionellen Pressetext zu diesem Remix heißt es:
Ausschnitte aus den Lautprozessen von Carlfriedrich Claus wurden -
ähnlich wie bei der Herstellung eines Techno- oder Hip-Hop-Mixes -
von Ernst Horn und Bernhard Jugel in Samples und Loops umgewandelt
und so rhythmisiert, daß aus Laultpoesie Musik entsteht.
So wird das Remix zum Mittel der Grenzüberschreitung
Wenn man die Remix-Fassung dieses Stückes mit dem Original vergleicht,
könnte man zu der Auffassung gelangen,
daß die Originalfassung radikaler, kompromißloser erscheint.
Wenn Fragmente aus der Lautpoesie mehr oder weniger sporadisch
mit anderen Klangmustern verbunden sind,
die nach Ablaufsmustern populärer Musik zusammenkommen,
dann nähern sich insofern unkonventionelle Stimmäußerungen
wieder dem Konventionellen an, nämlich den Konventionen populärer Musik.
Unter dieser Perspektive unterscheidet sich die Remix-Fassung
wesentlich von der Originalfassung -
von Konstellationen heterogener Elemente also,
die nicht einfach als Addition als Mischung des Avancierten mit dem Populären erklärt werden kann,
deren gegensätzliche Elemente Divergenzen auf gleichem Niveau,
verschiedene Facetten des zerklüfteten oeuvres von Claus erkennen lassen.
Die originale Produktion BASALE SPRECH-OPERATIONSRÄUME
zeigt in dieser Hinsicht ein ähnliches Bild
wie die 1993 auf Initiative von Klaus Schöning
für den Westdeutschen Rundfunk produzierte Realisation LAUTAGGREGAT -
das erste größere Stück von Claus,
das unter professionellen radiophonen Bedingungen realisiert worden ist.
Z: Lautaggregat Ausschnitt von Anfang, Länge je nach Sendezeit
LAUTAGGREGAT ist der erste Versuch
einer großangelegten radiophonen Zusammenfassung
jahrzehntelanger experimenteller Arbeit im Bereich der Lautpoesie.
Auf dieser Erfahrungsbasis ergeben sich Konstellationen freigesetzter Stimmlaute
die wiederum in größere Zusammenhänge eingebunden werden -
in Klangschichten, Kontraste und Verwandlungsprozesse.
Z: Lautaggregat (wie vorige Zuspielung, die hier hier fortgesetzt werden kann)
Charakteristisch für die künstlerische Praxis von Carlfriedrich Claus
und für deren ästhetische Reflexion
ist eine vieldimensionale Dialektik des produktiven Widerspruchs.
Claus hat von Jugend auf immer wieder gegen den STrom schwimmen müssen:
In ästhetischer und politischer Opposition gegen die Nazi-Barbarei -
im Widerstand des idealistischen Kommunisten
gegen primitive (polit-)ästhetische Klischees des "sozialistischen Realismus" -
in radikaler Verweigerung gegen die Vermarktungsmechanismen von Kunst -
in der vorurteilslosen Auseinandersetzung mit angeblichen oder tatsächlichen Widersprüchen.
Seine grenzüberschreitende Akustische Kunst ist und bleibt aktuell
als Modell produktiv-kritischer Auseinandersetzung mit Kunst und gesellschaftlicher Wirklichkeit.
(Zu Basale Sprech-Operationsräume:
22´18 Zitat Lachen aus Schluß Kassette 6, 4. X. 95 (Gesamtdauer 6´53)
37´46 nach Pause leise Fortsetzung)
Zu Remix:
ab 6´29 leise Sprache,
ab ca. 6´40 leise, quasi schnarchend
7´46 quasi-instrumentale Klangmuster (folgt mehrschichtige Verdichtung, Steigerung)
8´49 "erstickte" Silben
11´20 würgende, stimmlich brüchige Silben, Ritardando (auch in den Techno-Mustern)
vor 12´ Hinzumischung von Schritten
ab ca. 12´28 einzelne Stimmlaute sporadisch über periodischen Schlägen
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