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7.18 Experimentelle Musik / GRM


Rudolf Frisius

Experimentelle Musik in Frankreich:

Tendenzen und Studios der Elektroakustischen Musik

Verschiedene Konzeptionen des Experimentellen:

Unvorhersehbarkeit (Cage) - klanglicher Empirismus (Schaeffer)

Der Begriff "experimentell" wird im Zusammenhang der Musik in verschiedenen Bedeutungen gebraucht. Die wichtigsten Bedeutungsunterschiede gehen zurück auf unterschiedliche Verwendungsweisen einerseits bei John Cage, einerseits bei Pierre Schaeffer.

Während für John Cage das Experimentelle sich im Verhältnis zwischen Notation und klanglicher Realisierung bestimmen läßt, ergibt es sich in der von Pierre Schaeffer begründeten Tradition der musique concrète im Verhältnis zwischen klanglicher Erfahrung und kompositorischer Vorstellung. John Cage definiert das Experimentelle im Verhältnis zwischen unbestimmter Notation und klanglichem Resultat, Pierre Schaeffer dagegen im Verhältnis zwischen klanglicher Erfahrung und kompositorischer Gestaltung. Cage hält dabei im Regelfalle am Primat einer vorgegebenen Partitur fest (deren Zeichen allerdings unbestimmt sein können, so daß wichtige Aspekte der Interpretation unvoraussehbar bleiben), während für Schaeffer eine Partitur nicht mehr unabdingbare Voraussetzung der klanglichen Realisierung sein muß, da die im Studio entstandene Komposition als Schallaufzeichnung fixiert ist.

Experimentelle Musik im Sinne von Pierre Schaeffer basiert auf der Umkehrung des traditionellen Kompositionsverfahrens, das ausgeht von der abstrakten Vorstellung und diese in einer Notation fixiert, nach deren Maßgabe eine konkrete klangliche Realisierung entstehen kann. Schaeffer hingegen geht aus vom konkreten Klangphänomen, das als Schallaufzeichnung gespeichert ist und im Studio weiter verarbeitet werden kann, was die Bildung abstrakter musikalischer Zusammenhänge erlaubt. Die "Musik im gewohnten Sinn", die "sogenannte abstrakte" Musik, führt nach Schaeffer von der (geistigen) Konzeption über die Niederschrift zur instrumentalen Ausführung, während die von ihm begründete konkrete Musik ausgeht von der Bereitstellung von Klangmaterialien, diese im Stadium des Experimentierens und in Verbindung mit Skizzen aufarbeitet und auf dieser Grundlage eine (materielle) Komposition realisiert; die erstere Musik führt also vom Abstrakten zum Konkreten, die letztere vom Konkreten zum Abstrakten.

Das Geburtsstudio der konkreten Musik als ältestes elektroakustisches Studio der Welt -

das Studio der Forschungsgruppe GRM

Die ersten Produktionen der konkreten Musik ("musique concrète) entstanden im Jahre 1948. Pierre Schaeffer realisierte damals eine Reihe von Stücken, die er unter dem Titel "Etudes de bruits" ("Geräusch-Etüden") zusammenfaßte und in Radiosendungen der Öffentlichkeit vorstellte. In den folgenden Jahren folgten weitere Produktionen.

In den ersten Stücken Schaeffers werden unterschiedliche Klangmaterialien verwendet. Die zuerst entstandene Produktion, die "Etude aux chemins de fer" ("Eisenbahn-Etüde") verwendet Eisenbahngeräusche, die häufig in technisch produzierten Ostinati (aus "geschlossenen Rillen" von Schallplattenaufnahmen etwa von Waggongeräuschen) rhythmisch gruppiert sind, so daß sich neben realistischen, hörspielähnlichen Elementen (wie der Anfahrt des Zuges zu Beginn des Stückes) im weiteren Verlauf des Stückes auch innermusikalische Zusammenhänge bilden können. Mit Umweltgeräuschen arbeitet auch die 1950 entstandene Produktion "L´oiseau RAI" ("Der Vogel RAI"). In diesem Stück verwendet Schaeffer Fragmente aus der Aufnahme des Gesanges einer Nachtigall, die in verschiedenen Geschwindigkeiten bald vorwärts, bald rückwärts abgespielt werden. Der Name des Stückes nimmt Bezug auf den italienischen Rundfunk RAI, weil Schaeffer das Klangmaterial des Vogelgesanges damals in einem Indikativ dieses Senders gefunden hatte.

Eine weitere Klangkategorie in Schaeffers ersten Produktionen bilden präparierte oder technisch manipulierte Instrumentalklänge. Schaeffer verwendete solche Klänge erstmals 1948, als er zwei Stücke mit Klavierklängen realisierte: Die "Etude violette" und die "Etude noire". Schaeffer arbeitete im Studio damals mit Klavierklängen, die ihm der junge Pierre Boulez eingespielt hatte. Bei der Arbeit mit Klavierklängen kam er erstmals zu dem Entschluß, in seiner Komposition auch rückwärts wiedergegebene Klänge zu verwenden.

In seinem Interesse für präparierte Instrumentalklänge traf sich Schaeffer mit einem jungen Musiker, der bei Olivier Messiaen Komposition studiert hatte, außerdem aber auch gelernter Pianist und Schlagzeuger war: Pierre Henry. Henry hat später über sein erstes Zusammentreffen mit Schaeffer anschaulich berichtet im Text eines Hörspiels, das in den achtziger Jahren (als 24-Stunden-Sendung) für den französischen Rundfunk und (in zwei kürzeren Fassungen von drei bzw. eineinhalb Stunden) für das Hörspielstudio des Westdeutschen Rundfunks produziert wurde:

"Eines Tages im Jahre 1948 erhalte ich vom Fernsehen den Auftrag, eine Filmmusik zu machen - Musik zu einem Film über Verlangsamung und Vergrößerung: Das Unsichtbare sehen. Warum soll ich da nicht mit meinen präparierten Instrumenten improvisieren?

Im Studio packe ich meine Siebensachen aus und improvisiere zum Film wie zur Zeit des Stummfilms. Das Ganze wird für eine Schallplatte aufgenommen.

Kurz danach treffe ich Schaeffer. Er regt mich dazu an, diese Musik in verschiedenen Geschwindigkeiten abzuspielen und auf einem großen Flügel zu improvisieren, der nach meiner Weise präpariert ist. Schaeffer fand das noch verführerischer als die Schlagzeuggeräusche des Films.

Das war meine Prüfung in konkreter Musik. Anscheinend habe ich sie bestanden."

Die Präparationen, von denen hier die Rede ist, hatte Pierre Henry vorgenommen, ohne damals schon zu wissen, daß John Cage einige Jahre zuvor das präparierte Klavier erfunden hatte. Wahrscheinlich klangen auch seine ersten Präparationsversuche schon ähnlich wie die Klangergebnisse aus den Jahren 1949 und 1950, die uns in seinen Realisationen erhalten geblieben sind - nämlich grundverschieden von den gamelanartigen Präparationen des jungen Cage, statt dessen viel wilder und geräuschhafter.

Schaeffer war von Anfang an lebhaft daran interessiert, nicht nur isolierte Einzelklänge zu verarbeiten, sondern auch komplexere, musikalisch stärker vorgeformte Klanggebilde. Ein erster Versuch in dieser Richtung war die 1948 entstandene "Etude aux tourniquets", in der Fragmente instrumentaler Passagen verarbeitet wurden. Dieses Stück war übrigens die letzte Komposition, in der Schaeffer noch zumindest im ersten Arbeitsschritt versucht hat, nach einer vorgegebenen Partitur zu arbeiten. Bei der klanglichen Realisierung wurde ihm dann aber deutlich, daß bessere Resultate erreicht werden konnten, wenn das partiturgetreu Aufgenommene gründlich ummontiert und weiter verarbeitet wurde in einer Weise, die den Notentext letzlich fast verschwinden ließ.

Einen Schritt weiter ging Schaeffer 1949 in seiner größer angelegten, mehrsätzigen "Suite 14". Auch diesem Werk liegen Klangfragmente aufgenommener Instrumentalmusik zu Grunde: Schaeffer hatte zunächst einfache Musik für ein Ensemble mit 14 Instrumenten notiert, nach dieser Notation spielen lassen und aufgenommen. Aus dieser Aufnahme wurden bestimmte Fragmente ausgewählt, die im Studio weiter verarbeitet und in neue Zusammenhänge einmontiert wurden. Auch in diesem Werk machte Schaeffer Gebrauch von den Techniken der Rückwärtswiedergabe und der absoluten Transposition (Zeitlupe oder Zeitraffer), sowie überdies von unterschiedlichen Techniken der klanglichen Verfremdung. Das Spannungsverhältnis zwischen im voraus notierten und nach der technischen Manipulation im Studio radikal veränderten musikalischen Strukturen befriedigte ihn aber letztlich nicht. Deswegen kam ihm die Zusammenarbeit mit Pierre Henry durchaus gelegen.

Die Zusammenarbeit zwischen Henry und Schaeffer begann damit, daß Henry im Studio mit seinen präparierten Instrumenten Klänge produzierte, die Schaeffer im Aufnahmeraum aufnahm und nach Möglichkeit schon während der Aufnahme technisch manipulierte. Diese Arbeitsteilung wurde in der Folgezeit bald differenziert, da auch Henry sich mehr und mehr in die technischen Prozeduren einarbeitete; dennoch sind Spuren der ursprünglichen Rollenaufteilung noch in den ersten Gemeinschaftsproduktionen von Schaeffer und Henry deutlich zu erkennen: In "Bidule en ut" (1950) im Kontext einer kurzen Studie, in der ein kurzes Thema des präparierten Klaviers mehrmals nacheinander in verschiedenen Geschwindigkeiten abgespielt wird, bis eine Stretta das Stück zum Abschluß bringt; in der "Sinfonie pour un homme seul" (1949-1950) im Wechsel von menschlichen Lauten (z. B. Schritte, Klopfen, Atemgeräusche, Stimmlaute) mit quasi-instrumentalen Passagen präparierter Instrumente (meistens des präparierten Klaviers).

Die einfachen technischen Bedingungen, unter denen in den Anfangsjahren gearbeitet werden mußte, hat Pierre Henry ebenfalls im Text seines "Journal de mes sons" beschrieben:

"Damals waren die klanglichen Manipulationen noch ziemlich unentwickelt. Sie ermöglichten aber sehr merkwürdige Techniken, die man niemals mehr wiederfinden wird. Mit Hilfe von Schaltersystemen hatte man die Möglichkeit, Klänge aller Art einzusetzen, den Einschwingvorgang abzuschneiden oder ihm ein Crescendo zu geben, eine Sequenz zu zerhacken oder herauszunehmen.

Jeder Plattenteller war mit Hebeln versehen, die Glissandi und Transpositionen ermöglichten. Die Modulationen ergaben sich durch einfachen Fingertip, was eine genau dosierte Armbewegung und ein geschmeidiges Handgelenk verlangte. In gewisser Weise eine Rückkehr zum Instrument...

Das Magnettonband gab es damals noch nicht. Sprünge von einem Klang zum anderen, von einer Schallplatte zur anderen - das war ein sehr unsicheres Unternehmen. Trotzdem waren die Zufälle der Nadel auf der Schallplattenrille und die Zwischenfälle beim Abspielen manchmal eine echte Bereicherung, ein Anteil von Unvorhergesehenem und Phantasie.

Wir hatten acht Plattenteller zur Verfügung. Es ging darum sich mit ganzer Kraft auf die Klänge zu stürzen. Ich hüpfte den ganzen Tag lang herum. Ich sprang von einem Plattenteller zum anderen. Ich war ein Meister im Rillenspringen geworden."

Nach dem Abschluß der ersten größeren Gemeinschaftsproduktion war Henry mit allen technischen Details der Studioarbeit so vertraut, daß er auch Musik in alleiniger Verantwortung realisieren konnte. In den ersten Werken, die in dieser Weise entstanden, ist teilweise eine quasi-instrumentale Faktur, etwa in Passagen des präparierten Klaviers, noch deutlich zu erkennen - vor allem im "Concerto des Ambiguités" (1950) und in den meisten Stücken des Zyklus "Le Microphone bien tempéré" (1951-1952). Erste Ansätze einer von diesen Anfängen weitgehend gelösten Kompositionsweise finden sich in der mehrsätzigen Komposition "Musique sans titre" (1950).

Das letzte größere Projekt, das Schaeffer und Henry gemeinsam realisierte, ist ein Projekt, in dem konkrete Klänge sich mit einem Text, mit live-Partien und szenischer Darstellung verbinden - ein erster Ansatz einer Oper: "Orphée" (1951-1953). Das Werk existiert in mehreren Fassungen. Die erste Fassung wurde 1951 unter dem Titel "Toute la Lyre" uraufgeführt. Die französisch-deutsche Fassung "Orphée 53" wurde bekannt durch den spektakulären Skandal, den sie bei der Uraufführung auf den Donaueschinger Musiktagen provozierte. Henry, der der von Schaeffer gewünschten Annäherung an Instrumentalmusik und traditionelle Opernästhetik schon damals skeptisch gegenüberstand, versuchte einen Ausbruch aus den bisher erreichten ästhetischen Positionen in einem Schlußsatz, den er allein realisierte. "Le Voile d´Orphée" verbindet den aufgenommen, technisch auf verschiedene Weisen verarbeiteten Rezitationstext (einen Hymnus an Zeus) mit Klängen präparierter und technisch manipulierter Instrumente sowie, zu Beginn des Stückes, mit weit ausgreifenden kontinuierlichen Glissandostrukturen, wie es sie bis dahin weder in der konkreten noch in der um einige Jahre jüngeren elektronischen Musik gegeben hatte. Das hier Begonnene hat in den folgenden Jahren Iannis Xenakis weiter entwickelt - zunächst mit instrumentalen Mitteln, in den ausgedehnten Glissandobündeln seines 1955 ebenfalls in Donaueschingen uraufgeführten Orchesterstückes "Metastaseis"; drei Jahre später in komplexen Glissandobündeln seiner ersten Tonbandmusik, die in Schaeffers Studio entstand: "Diamorphoses".

1951 war das erste Jahr, in dem im französischen Rundfunk Magnetophone zur Verfügung standen. Josef Anton Riedl, der damals in Kontakt mit Pierre Schaeffer gekommen war und sich von ihm zu eigenen Produktionen konkreter Musik hatte anregen lassen, konnte damals in Deutschland sogleich mit solchen Geräten beginnen - in einem Lande, in dem Tonbandgeräte schon seit 1935 zur Verfügung standen. Bemerkenswert ist, daß Riedl damals in voller Eigenständigkeit zu Lösungen gelangt ist, die etwa gleichzeitig auch im Pariser Studio von jungen Komponisten seiner Generation favorisiert wurden: Pierre Henry ebenso wie Pierre Boulez, der damals mit eigenen Studioproduktionen begann, nutzten die Möglichkeiten des minutiös genauen Bandschnittes aus, um extrem komplizierte rhythmische Beziehungen zu realisieren. Da neben der exakten rhythmischen Kontrolle auch eine genaue Tonhöhenregulierung der aufgenommenen Klänge möglich war (mit Hilfe einer kontinuierlich oder in chromatischen Abstufungen arbeitenden Transpositionsmaschine), lag es nahe, die damals von mehreren radikalen jungen (von ihrem Lehrer Olivier Messiaen beeinflußten) Komponisten bevorzugte serielle Technik auch in den Bereich der Tonbandkomposition zu übertragen und so weiter zu entwickeln. Dies geschah in Werken von Pierre Boulez (Etudes 1 et 2, 1951), Pierre Henry (Antiphonie, 1951; Vocalises, 1952) und Karlheinz Stockhausen (Etude, 1952). Schaeffer brachte diesen Versuchen nur wenig Sympathie entgegen, da deren abstrakte Konstruktionen seinem empirischen Klangverständnis widersprachen. Er trennte sich von Stockhausen, der daraufhin seit 1953 als führender Komponist des am Kölner Rundfunk neu gegründeten Studios für Elektronische Musik in Erscheinung trat. Boulez vollzog einige Jahre später von sich aus eine rigorose Trennung von Realisationspraxis und Ästhetik der konkreten Musik. Nachdem er noch 1955 im Studio Schaeffers eine Filmmusik (Symphonie mécanique) realisiert hatte, zog er sich in der Folgezeit weitgehend auf reine Instrumentalmusik zurück. Auch zu den damals neu entstehenden Studios elektronischer Musik (Köln, Mailand, Warschau) hielt er weitgehend Distanz. Sein Versuch, elektronische Klänge mit der Rezitation eines literarischen Textes und mit Orchestermusik zu kombinieren ("Poésie pour pouvoir") überzeugte ihn selbst so wenig, daß er sein Werk nach der Donaueschinger Aufführung im Jahre 1958 wieder zurückzog. Erst seit den siebziger Jahren ist Boulez auf dem Gebiet der elektronischen Musik wieder verstärkt in Erscheinung getreten - als Leiter des Forschungs- und Realisationszentrums IRCAM, das sich in seiner praktischen Arbeit weitgehend auf live-elektronische Verfahren und auf die Verbindung elektronischer und instrumentaler Klänge konzentrierte, sowie in seiner Komposition "Répons" für Instrumentalensemble mit live-elektronisch modulierten Solopartien.

Schaeffer hat sich in den frühen fünfziger Jahren darum bemüht, neben jüngeren Komponisten auch Vertreter der damals mittleren Komponistengeneration in sein Studio einzuladen. So entstanden Produktionen von Olivier Messiaen (Timbres - Durées, 1952 - eine Rhythmus-Klangfarben-Partitur, die Pierre Henry klanglich realisierte), Darius Milhaud (La rivière endormie, 1954; Realisation: J. E. Marie) und Henri Sauguet (die Theatermusik "Une voix sans personne" zu einem Text von Jean Tardieu, 1956; Aspect sentimental, 1957). Von besonderer Bedeutung war eine Einladung an Edgard Varèse, der 1954 gemeinsam mit Pierre Henry die drei Tonband-Interpolationen zum Orchesterwerk "Déserts" realisierte. Die Uraufführung des Werkes fand im französischen Rundfunk statt (dirigiert von Hermann Scherchen, mit Pierre Henry als Klangregisseur). Das Werk war kombiniert mit einer Symphonie von Tschaikowsky im Rahmen des ersten Konzertes des französischen Rundfunks, das stereophon übertragen wurde. Die Aufführung wurde zu einem der spektakulärsten Skandale der Musik des 20. Jahrhunderts.

1954 war das erste Jahr, in dem Pierre Schaeffer wegen eines längeren Auslandsaufenthaltes selbst kein Werk mehr in dem von ihm begründeten Studio realisieren konnte. Damals begann eine Arbeitsperiode, die vor allem durch Produktionen seiner Mitarbeiter Pierre Henry und Philippe Arthuys geprägt war, darunter viele Werke angewandter Musik (vor allem für Theater, Film und Ballett).

Eine neue Arbeitsphase des Studios begann 1957, nach der Rückkehr Schaeffers. Er setzte sich intensiv für eine erneute Intensivierung der Klangforschung ein (für die er sich schon früher interessiert hatte, als er - als Bilanz ausführlicher Arbeitsberichte über seine ersten konkreten Produktionen und ihrer technisch-ästhetischen Reflexion - 1952 zusammen mit Abraham einen ersten Versuch der phänomenologischen Systematisierung von Klängen unternommen hatte).

Schaeffer entwarf ein Arbeitsprogramm, das von der sinnlichen Erfassung der Hörwelt (aller Klänge, nicht nur der auf synthetischem Wege erzeugten elektronischen Klänge) zur Erforschung neuer musiksprachlicher Zusammenhänge und Verbindungen zwischen Komponist und Hörer führen sollte. In diesem Zusammenhang erschien ihm die gemeinsame Arbeit in einer Forschungsgruppe als wesentlich. Sie sollte ausgehen von einer neuartigen Gehörbildung nach den Maßgaben einer modernen Systematisierung der Klänge. Auf dieser Basis sollten zunächst Klangobjekte, dann musikalische Objekte und schließlich, darauf aufbauend, musikalische Studien (Etudes) geschaffen werden. Schaeffer hielt sich konsequent an dieses Arbeitsprogramm, indem er in den folgenden Jahren ausschließlich Studien komponierte, in denen unterschiedliche Kriterien seiner Klanglehre thematisiert werden: 1958 die "Etudes aux allures" und die "Etudes aux sons animés", 1959 die fünfsätzige "Etude aux objets".

1958 verließ Pierre Henry das von Pierre Schaeffer geleitete Versuchsstudio des französischen Rundfunks. Wenig später gründete er ein eigenes privates Studio unter dem Namen APSOME. Die ersten Produktionen, bei denen Henry sich mit eigenen Geräten begnügen mußte, entstanden unter stark eingeschränkten technischen Bedingungen. Henry trug dem Rechnung, indem er in Produktionen wie "Entité" oder "La noire à soixante" eine völlig neuartige, klanglich stark reduzierte und abstrahierte, bis in das rein Elektronische hereinführende Klangsprache entwickelte. Danach entstanden im weiteren Verlauf der sechziger Jahre, in denen die klangliche und semantische Abstraktion mehr und mehr aufgegeben wird - beginnend mit "La Reine verte", "Variations pour une porte et un soupir" und "Le Voyage" (Musik zum tibetanischen Totenbuch), später sich fortsetzend mit der "Messe pour le temps présent", die mit vielen an Popmusik erinnernden Klangstrukturen überaus populär wurde, sowie mit dem monumentalen elektroakustischen Oratorium "L´Apocalypse de Jean" (1968). - Viele Werke Henrys sind als Musik zu Choreographien von Maurice Béjart bekannt geworden - beginnend mit der 1955 realisierten Ballettversion der "Sinfonie pour un homme seul", die zur Popularisierung dieses Werkes wesentlich beigetragen hat; sich fortsetzend in zahlreichen ausdrücklich für Béjart bestimmten Ballettmusiken.

Mit Beginn der siebziger Jahre wandte Henry sich dann wieder verstärkt abstrakteren Klanggestaltungen zu, z.B. in der Ballettmusik "Mouvement - Rythme - Etude". Seit 1976 konzentriert sich seine Arbeit auf monumentale Klangfresken, in denen die Vielfalt seiner in mehreren Jahrzehnten gesammelten Klangmaterialien präsentiert und verarbeitet wird. In diesen Zusammenhang gehören auch die meisten der für das Hörspielstudio und das "Studio für Akustische Kunst" produzierten Arbeiten, z. B. "Journal de mes sons", "La Ville/Die Stadt" und "Une maison des sons."

An Henrys Stelle als (einstmals) engster Mitarbeiter Schaeffers trat 1958 und in einigen folgenden Jahren Luc Ferrari. Auch Ferrari orientierte sich an Schaeffers Arbeitsprogramm und schuf mehrere Etüden zu verschiedenen Kriterien seiner Klanglehre: 1958 entstanden die Etude floue, die Etude aux accidents, die Etude aux sons tendus sowie, als Gemeinschaftsarbeit zusammen Pierre Schaeffer, die Komposition "Continuo". 1959 konzentrierte Ferrari sich auf morphologisch komplexere Strukturen und Formprozesse in seiner mehrsätzigen Komposition "Visage V". In den sechziger Jahren begann Ferrari, sich allmählich von den rigorosen Prämissen Schaeffers, der inzwischen selbst das Komponieren aufgegeben hatte, zu entfernen. 1964 entstand seine groß angelegte Komposition "Héterozygote" - das erste Werk, in dem sich das neue Konzept seiner "anekdotischen Musik" ankündigt. In diesem Werk sowie in späteren Kompositionen geht es Ferrari darum, die Reduktion aufgenommener Klänge auf klassifizierbare Klangobjekte zu überwinden. In vielen Fällen sieht er davon ab, die Klänge aus ihrem ursprünglichen situativen Kontext herauszulösen, so daß sich neue Möglichkeiten eines gleichsam bildlich-assoziativen Hörens ergeben. Im Zuge dieser Entwicklung hat sich Ferrari schließlich von Schaeffer getrennt und ein eigenes privates Studio gegründet. Auch er hat verschiedene Hörspiele produziert, beispielsweise 1972 für den Südwestfunk das "Portraitspiel".

Zu den Komponisten, die in späten fünfziger Jahren in Schaeffers Studio kamen und es einige Jahre später wieder verließen, gehört auch Francois Bernard Mache. Er interessiert sich in besonderem Maße für die Verbindung aufgenommener und instrumentaler Klänge. Typisch für ihn ist, daß er - wie in anderer Weise auch Ferrari - seine Klangmaterialien nicht in minutiösen Montagen abstrahierend verfremdet, sondern daß in seinen Aufnahmen die ursprüngliche Atmosphäre möglichst weitgehend erhalten bleibt (z. B. in Aufnahmen von Vogelgesang oder einer Sprechstimme im südafrikanischen Xhosa-Dialekt).

Auch Iannis Xenakis hat einige Jahre lang in Schaeffers Studio gearbeitet. Seine ersten beiden Realisationen stehen gleichsam im antithetischen Verhältnis zueinander: Die weiträumigen, vom Konkreten ins Abstrakte führenden Verwandlungsprozesse und die dicht geschichteten Glissandi der "Diamorphoses" kontrastieren deutlich zu den in vielen Schichten überlagerten Knistergeräuschen des kurzen Stückes "Concret PH", das als Eingangsstück für den Pavillon der Brüsseler Weltausstellung im Jahre 1958 realisiert wurde. Auch in den folgenden Jahren realisierte Xenakis wiederum durchaus gegensätzliche Stücke. 1959 entstand "Analogique B", ein lakonisch strenges elektronisches Zuspielband zu dem Streicher-Ensemblestück "Analogique A". 1960 folgte "Orient Occident" - eine poetische, formal weit gespannte konkrete Begleitmusik zum gleichnamigen Film von Enrico Fulchignoni, der das Bild des Menschen in der bildenden Kunst verschiedener Kulturen beschreibt. Die wohl extremste Komposition ist die 1962 entstandene monumentale Musik "Bohor" - ein Pierre Schaeffer gewidmetes Werk, das im exzessiven Klangrausch dessen ausgewogenen Klangobjekten opponiert. Auch an den Vorbereitungen des von Pierre Schaeffer angeregten "Concert collectif", das verschiedene Mitglieder der Forschungsgruppe gemeinsam durchführen wollten, war Xenakis maßgeblich beteiligt. Mit seinen strengen, mathematisch formalisierten Vorstellungen konnte er sich aber nicht durchsetzen. Xenakis hat sich anschließend von der Forschungsgruppe getrennt und später sein eigenes Studio CeMaMu gegründet, dessen Computersystem UPIC von der Verwandlung graphischer Notation in Klänge ausgeht (aber auch die Transformation eingegebener Klangmaterialien erlaubt, wovon Xenakis selbst allerdings in Produktionen wie "Mycènes Alpha" oder in den elektronischen Klangstrukturen zum Hörspiel "Pour la Paix" keinen Gebrauch machte).

Zu den wichtigsten Komponisten, die in den späten fünfziger Jahren in Pierre Schaeffers Studio kamen und ihm anschließend jahrzehntelang verbunden blieben, gehören Ivo Malec, Bernard Parmegiani und Francois Bayle. Während Malec hauptsächlich als Instrumentalkomponist in Erscheinung getreten ist und nur relativ wenige Tonbandkompositionen realisiert hat (sowie einige Kompositionen für Tonband in Verbindung mit Instrumentalensembles oder live-Solisten), haben Parmegiani und Bayle sich auf die reine Lautsprechermusik konzentriert. Seit den siebziger Jahren realisieren sie große Werkzyklen, in denen mit neuen Studiotechniken (auf der Basis der sogenannten Spannungssteuerung) neuartige großangelegte Formprozesse gestaltet werden. Einen dieser Werkzyklen haben Bayle und Parmegiani gemeinsam gestaltet: In einem 1972 vollendeten Dante-Triptychon "La Divine Comédie" hat Bayle den ersten Teil übernommen (Purgatoire), Parmegiani den zweiten (Enfer, Die Hölle); im dritten Teil (Paradis) überlagern sich zwei Klangschichten, wobei die eine von Bayle, die andere von Parmegiani realisiert wurde.

Als Angehörige einer jüngeren Generation sind im Pariser Studio seit den siebziger Jahren vor allem Jacques Lejeune, Jean Schwarz und Michel Chion hervorgetreten, die inzwischen zur mittleren Generation gehören. Diese Komponisten haben, auf jeweils individuell verschiedene Weisen, versucht, die abstrakte Montageästhetik zu überwinden und spontan verständliche Formprozesse zu gestalten. Zu den bekanntesten Exponenten dieser Generation, die gegen Ende der sechziger Jahre ins Pariser Studio gekommen sind, um es nach relativ kurzer Zeit wieder zu verlassen, gehören Francoise Barrière und Christian Clozier. Sie haben 1972 ein eigenes Studio ein Bourges gegründet, das sich internationales Ansehen erworben hat durch eine intensive Produktionspraxis (an der sich häufig auch eingeladene ausländische Gäste beteiligen können), durch die Organisation internationaler Festivals und Wettbewerbe. Seit den achtziger Jahren sind noch jüngere Komponisten wie Philippe Mion, Denis Dufour und Christian Zanesi hinzugekommen - jüngere Komponisten, unter denen besonders Zanesi hervorsticht mit subtilen, an Francois Bayle geschulten Klanggestaltungen. Alle diese Komponisten sind den praktischen Erfahrungen und der Produktionspraxis ihres Studio verpflichtet. Ihre Position im Wechsel der Generationen macht deutlich, in wie hohem Maße es gelungen ist, eine Musikart, die ursprünglich nur von einem einzigen Musiker erfunden worden ist, über Jahrzehnte hinweg weiter zu entwickeln.

Seit den achtziger Jahren haben sich auch digitale Verfahren in der Produktionstechnik im GRM-Studio durchgesetzt. Daß auch in dieser neuen Technologie die experimentellen Prinzipien der konkreten Musik aufrecht erhalten werden konnten, zeigt das 1985 realisierte Gemeinschaftsprojekt "Germinal" mit Einzelbeiträgen zahlreicher Komponisten, die nicht mit synthetisch erzeugten Klängen arbeiten, sondern mit vielfältigen digitalen Transformationen eines einzigen, für ein bestimmtes Stück jeweils verbindlichen Klanges. (Es beteiligten sich u. a. die Komponisten Mailliard, Geslin, Teruggi - mit der Verarbeitung einiger Stimmlauten seines kleinen Sohnes, Savouret - mit virtuosen Klangmanipulationen des gesprochenen Namens "Don Quixote", Mion, Dufour und Zanesi.) In diesem Projekt bezogen die konkreten Musik eine dezidierte Gegenposition zu der auf synthetische Klänge oder auf live-Elektronik ausgerichteten Produktionsarbeit des IRCAM.

Das Studio IRCAM -

eine konstruktivistische und live-elektronische Alternative zur experimentellen Musik

1969 beschloß der französische Staatspräsident die Gründung des französischen Kulturzentrums, das heute seinen Namen trägt. Im November 1970 erklärte Pierre Boulez sich bereit, in diesem Kulturzentrum die Leitung eines musikalischen Forschungsinstituts zu übernehmen. In den folgenden Jahren bereitete er, in Zusammenarbeit mit den Komponisten Luciano Berio, Vinko Globokar, Jean-Claude Risset, Gerald Bennett und Michel Decoust die Institutsgründung vor, dessen Aufgaben von akustischer Grundlagenforschung über die Studioarbeit bis zur modernen Aufführungspraxis reichen sollten. Die Akzente im letzteren Bereich wurden dadurch bestimmt, daß 1976, ebenfalls unter der Leitung von Boulez, das instrumentale "Ensemble Intercontemporain" gegründet wurde, das nicht nur rein instrumentale Neue Musik spielen, sondern auch zur Aufführung von Werken zur Verfügung stehen sollte, in denen instrumentale und elektroakustische Klangmittel kombiniert sind. Nach mehreren Jahren der kooperativen Leitung in weitgehend gleichberechtigten Sektionen wurde das Institut 1980 unter verstärkter Verantwortlichkeit seines Leiters zentralisiert.

Arbeitsschwerpunkte des Instituts waren einerseits im Bereich der Klangforschung, unter Anknüpfung an die neuesten amerikanischen Forschungen, computergenerierte Klänge, andererseits im Bereich der musikalischen Praxis die Förderung der Entstehung neuer Werke durch Erteilung von Kompositionsaufträgen, durch Produktionshilfen und durch Aufführungen (etwa unter Beteiligung des Ensemble Intercontemporain). Unter den Klangforschungen, deren wichtigste Resultate - in Verbindung mit repräsentativen Musikbeispielen - in Demonstrationsbeispielen auf einer Porträt-Schallplatte des IRCAM veröffentlicht wurden, wurden vor allem die synthetischen Nachbildungen instrumentaler Klänge und die synthetischen Transformationen einer bekannten Klangfarbe in eine andere bekannt; unter den Beispielen synthetischer Vokalklänge wurde der synthetische Gesang von Mozarts "Königin der Nacht" populär (der, zumal in der Maskierung einer unterlegten "echten" Klavierbegleitung, weitgehend naturgetreu klingt). Im Bereich der klanglichen Realisation von Kompositionen ergibt sich ein international vielseitiges Repertoire u. a. mit Jean Claude Risset (Inharmonique 1977, Songes 1979), York Höller (Arcus 1978, Résonance 1982), Tod Machover (Light 1978, Soft morning city 1980, Fusione Fugace 1982, Electric Etudes 1983), Klarenz Barlow (Cogluotobusisletmesi 1980), John Cage (Roaratorio 1981), Morton Subotnick (The double life of amphibians 1982), Pierre Boulez (Répons 1981 ff.), Horatiu Radulescu (Geyond´s aura op. 44 1982, Incandescent Serene 1982), Kaija Saariaho (Verle blanc 1982, Jardin secret II 1986), Philippe Manoury (Zeitlauf 1983, Pluton 1988, La partition du ciel et de l´enfer 1989), Tristan Musail (Désintegrations 1983), Francois Bayle (Aéroformes 1984), Gérard Grisey (Les chants d´amour 1984), Karlheinz Stockhausen (Kathinkas Gesang als Luzifers Requiem 1985), Michael Obst (Kristallwelt 1985/1986), Magnus Lindberg (Ur 1986) und anderen.

Die Arbeitskonzeptionen des GRM (und vieler anderer ihnen verbundener Studios, vor allem in Frankreich, und Franco-Canada) und des IRCAM unterscheiden sich vor allem im Stellenwert, der der reinen Lautsprechermusik zuerkannt wird (im GRM ist die Verbindung der Tonbandwiedergabe mit live-Partien und die live-Elektronik keineswegs ausgeschlossen, spielt aber in Relation zu den reinen Tonbandproduktionen eine weitaus geringere Rolle als im IRCAM) und in der Einschätzung rein synthetisch erzeugter Klänge (die in Klangforschung und Produktionspraxis des IRCAM eine wichtige Rolle spielen, während im GRM, auch im Kontext neuer digitaler Techniker, die Verwendung und Verarbeitung konkreter Klänge nach wie vor eine wichtige Rolle spielt). Vor allem unter dem letzteren Aspekt erschienen GRM und IRCAM zeitweilig in ähnlicher Weise als Antipoden wie das von Pierre Schaeffer geleitete Pariser konkrete Studio und das von Herbert Eimert geleitete Kölner elektronische Studio in den frühen fünfziger Jahren. In der konkreten Produktionspraxis hat sich allerdings bald herausgestellt, daß in den klanglichen Produktionen selbst diese Unterschiede sich häufig verwischten (nicht zuletzt deswegen, weil in beiden Studios "musique mixte" für gespeicherte und live gespielte Klänge entstand und weil einige Komponisten, z. B. Francois Bayle oder Jean Claude Risset, in beiden Studios gearbeitet haben); auch dies läßt sich vergleichen mit Entwicklungen in den späteren fünfziger Jahren, in denen die anfangs extremen Unterschiede zwischen konkreter und elektronischer Musik mehr und mehr an Bedeutung verloren hatten. Damals wie heute hat sich herausgestellt, daß solche und ähnliche Differenzen weniger bedeutsam sind als die Frage, welchen Stellenwert die technisch produzierte Musik jetzt und künftig in der Konkurrenz mit den nach wie vor mächtigen Traditionen der Vokal- und Instrumentalmusik haben kann.

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