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7.31.3 1999 - Jahrhundertende - Jahrtausendwende


Rudolf Frisius

1999-2000: Jahrhundertende - Jahrtausendwende

MUSIK DES 20. JAHRHUNDERTS

Das zu Ende gehende 20. Jahrhundert ist eine Zeit weltweiter Krisen und Revolutionen, Veränderungen und Neuentwicklungen. Dies zeigt sich auch in der Musik dieser Epoche: Ihre Entwicklungen führen von den letzten Ausläufern der Spätromantik bis zur Computermusik. Spuren grundlegender Veränderung zeigen sich nicht nur in der Musiksprache, deren Entwicklung über traditionelle Harmonien, Rhythmen und Klangmittel hinausgeführt hat. Auch die Strukturen des Musiklebens und der musikalischen Kommunikation erscheinen radikal verändert, nachdem im Zeitalter des Lautsprechers Musik einerseits zur weltweit verfügbaren Massenware, aber andererseits auch zum Medium völlig neuartiger technogener Klangwelten geworden ist.

ZEITGESCHICHTE UND MUSIKGESCHICHTE

(Zum gleichnamigen Vortrag am 7. 6.: VERANSTALTUNG 3)

Zeitgeschichte und Musikgeschichte sind in diesem Jahrhundert unlöslich miteinander verwoben. Wer verstehen will, warum die Musik dieses Jahrhunderts in so vielen Bereichen neue Wege gesucht hat, braucht sich nur zu vergegenwärtigen, wie stark sie vom heftigen Wechsel der politischen Zeitereignisse geprägt ist: In krisenhaften Zuspitzungen atonaler Musik vor dem ersten Weltdrieg - in der schroffen Absage an romantisches Pathos nach den desillusionierenden Kriegsjahren - in der Folgezeit als geistiger Widerstand im Schatten politischer Unterdrückung vor allem in diktatorisch regierten Ländern - nach dem Ende des zweiten Weltkrieges als Versuch eines radikalen, von kompromittierten Traditionen unbelasteten Neubeginns - nach 1968 in der Öffnung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit - seit 1989 erneut im Spannungsfeld längst überwunden geglaubter politischer Konflikte. Die Musik dieses Jahrhunderts stellt sich den Realitäten ihrer Zeit auch dann, wenn sie nicht mehr ohne weiteres als ungetrübte Harmonie darstellbar sind.

VOM WOHLTEMPERIERTEN KLAVIER ZUM WOHLTEMPERIERTEN MIKROPHON

(Zum gleichnamigen Konzert am 10. 6. mit Bernhard Wambach und Alexander Schwan: VERANSTALTUNG 4)

Wichtige Veränderungen der Musikpraxis lassen sich beschreiben unter dem Stichwort: Vom wohltemperierten Klavier zum wohltemperierten Mikrophon. Das Klavier und seine seit Johann Sebastian Bach künstlerisch durchgesetzte zwölftönig-temperierte Stimmung hat sich auch im 20. Jahrhundert noch als Gradmesser musikalischer Innovation behauptet - als Referenzpunkt für Musik diesseits und jenseits des Klaviers: Bela Bartok hat dieses Instrument 1911 gleichsam neu entdeckt in den hämmernden Rhythmen seines Allegro barbaro, die sich im Laufe des Stückes nach streng mathematischen Prinzipien verändern. Fast gleichzeitig begaben Arnold Schönberg und seine Schüler sich auf andere Wege der musikalischen Innovation: Schönberg sprengte 1909 in seinen Drei Klavierstücken op. 11, vor allem im dritten dieser Stücke, erstmals alle Fesseln der überlieferten Tonalität. Vier Jahre später, in seinen Klavierstücken op. 19, hat sich die systemsprengende Eruptivität vollständig verwandelt in äußerst sublimierte Ausdruckskunst, die sich entwickelt in feinsten Valeurs der Klänge: Hier erklingt Musik, die den Konflikt mit dem Tradierten überwunden und sich neue Farb- und Ausdruckswerte erschlossen hat. In den frühen zwanziger Jahren ist es wiederum das Klavier, das Schönberg den Weg zu neuen kompositorischen Ideen finden läßt: Seine Klavierstücke op. 23 markieren den Übergang von der freien Atonalität zu zwölftönigen Strukturen, besonders sinnfällig in dem abschließenden fünften Stück mit seinen fein stilisierten Walzerrhythmen und seinen originellen, die Melodie ebenso wie die Harmonie in ihren Sog ziehenden Klangkaskaden. Im folgenden Jahrzehnt hat Anton Webern Schönbergs neue Strukturprinzipien noch weiter entwickelt: in neuen Tonkonstellationen, die sich lösen von tradierten Mustern der Melodie und der Harmonie, in denen einzelne Töne und Klänge zu Elementen einer neuen, feinsinnig konstruierten Musiksprache werden.

Fast gleichzeitig ging ein anderer Schüler Schönbergs ganz andere Wege: John Cage übertrug Schönbergs streng strukturelles Denken von den Tönen auf die Geräusche. Seine 1940 entstandene Komposition Bacchanale war ursprünglich dazu bestimmt, den Tanz einer schwarzen Sängerin zu begleiten. Cage fand schnell heraus, daß hierfür nicht irgendeine afrikanisch getönte Zwölftonmusik paßte, sondern besser eine Geräuschmusik ganz neuer Art. Da der Raum für sein damaliges Schlagzeug-Orchester zu klein war, kam er auf die Idee, ein Klavier zum Schlagzeug umzufunktionieren, indem er alle möglichen Materialien zwischen die Saiten steckte und so den Klavierklang geräuschhaft verfremdete. So erfand Cage das präparierte Klavier und bahnte damit den Weg für viele interessante Entdeckungen in der experimentellen Klangkust späterer Jahrzehnte. -

Die Polarität zwischen Rhythmen und Tonreihen, zwischen konventionellen Klaviertönen und experimentellen Klavierklängen hat die musikalische Entwicklung auch nach dem zweiten Weltkrieg bestimmt: Den Spuren Schönbergs und Weberns folgte 1946 Pierre Boulez mit der rhythmisch kühnen und polyphon verschlungenen Komposition Variations-Rondo, die zwei Jahre später als dritter Satz in seine zweite Klaviersonate übernommen wurde. Derselbe Pierre Boulez war es auch, den 1948 der französische Radiopionier Pierre Schaeffer zu Klavier-Improvisationen in sein Studio bat, aus denen er dann später mit Collagen und Verfremdungen eines der ersten Beispiele reiner Lautsprechermusik machte: Die Etude violette - ein geheimnisumwittertes Stück der Verwandlung bekannter Klavierklänge in surrealistisch verfremdete "konkrete Musik".

Immer wieder ergaben sich in der Musik nach 1945 extrem unterschiedliche Ansatzmöglichkeiten einer "Musik diesseits und jenseits des Klaviers". Olivier Messiaen beispielsweise blieb, anders als Cage und Schaeffer, dem konventionellen Klavierklang treu, aber er verband ihn mit kühnen rhythmischen Neuerungen, in denen sich die Kühnheiten des jungen Bartok fortsetzen: In Ile de feu I (1950) entwickelte er neue Farb- und Rhythmuswirkungen aus der Verarbeitung exotischer Musik. - Mit seinen rhythmischen Innovationen beeindruckte Messiaen nicht nur seinen französischen Schüler Pierre Boulez, sondern seit 1951auch einen jungen deutschen Komponisten: Karlheinz Stockhausen. Auch Stockhausen hat, ebenso wie Pierre Boulez, versucht, neue, von Messiaen inspirierte rhythmische Ideen mit einer Weiterentwicklung der Zwölftonmusik Schönbergs und Weberns zu verbinden, auch in "Musik diesseits und jenseits des Klaviers": 1952 komponierte er zunächst drei rhythmisch hochkomplizierte zwölftönige Klavierstücke, unter denen vor allem Klavierstück I mit seinen rasanten Läufen und dichten Akkord-Aggregaten berühmt geworden ist, und dann später eine aus präparierten Klavierklängen abgeleitete Tonbandmusik mit dem Titel Etude. Beide Stücke klingen vollkommen unterschiedlich, sind aber aus sehr ähnlichen, weitgehend abstrakten Reihenstrukturen abgeleitet - gleichsam als Pendants zu streng abstrakter Malerei der frühen fünfziger Jahre.

Wie vielfältig sich die Neue Musik nach 1945 entwickelte, zeigt sich deutlich im Vergleich europäischer mit amerikanischer Musik: Fast gleichzeitig mit Stockhausens ersten Klavierstücken und seiner ersten Tonbandetüde entstanden das Klavierstück Intermission VI des mit John Cage befreundeten Morton Feldman und die Tonbandmusik Williams Mix von John Cage. Beide Werke unterscheiden sich von traditioneller europäischer Musik dadurch, daß ihre Partituren die Musik nicht exakt fixieren, sondern Elemente der Unbestimmbarkeit enthalten: Feldmans Stück besteht aus einzelnen Klangzellen, deren Reihenfolge den Entscheidungen des Interpreten überlassen bleibt. Das Tonbandstück von Cage ist eine Montageanweisung, die dem Realisator nur die Art der Klänge und bestimmte Anweisungen der Klangtransformation vorgibt. (Bis heute liegt diese hochkomplizierte, klanglich überaus bunte und abwechslungsreiche Collage allerdings nur in einer einzigen, vom Komponisten selbst besorgten Version vor.) Diese beiden Werke sind frühe Beispiele der Loslösung von eindeutig fixierten Notentexten, wie sie später auch von europäischen Komponisten unter Stichworten wie "Aleatorische Musik" oder "Offene Form" weitergeführt wurden.

Wie stark sich damals, in den frühen fünfziger Jahren, in kurzer Zeit schon die Musik desselben Komponisten verändern konnte, läßt sich eindrucksvoll belegen an Klaviermusik von Karlheinz Stockhausen: Sein Klavierstück VII ist nur zwei Jahre jünger als Klavierstück I und dennoch in der kompositorischen Gestaltung grundverschieden: Hier arbeitet der Komponist nicht mehr mit dicht gehäuften Tonkaskaden und Akkord-Agglomeraten, sondern er hört in das Innere der Klangkonstellationen und sogar einzelner Töne hinein: Mit vielfältigen Nachhallwirkungen einzelner Töne ("Klavier-Flageolett"), mit feinsten Umfärbungen kleiner Tongruppen.

In den sechziger Jahren entwickelten sich noch stärkere Divergenzen in der "Musik diesseits und jenseits des Klaviers": Beziehungsreiche Kontraste zwischen Instrumentalmusik und Lautsprechermusik ergaben sich nicht nur in verschiedenen Werken desselben Komponisten, sondern auch zwischen verschiedenen Komponisten, wobei sich nach und nach auch Tendenzen der Spezialisierung und der Abtrennung beider Bereiche durchsetzten. In dem 1961 entstandenen kurzen Tonbandstück Reflets des kroatischen Komponisten Ivo Malec erscheinen aufgenommene und technisch verfremdete Klavierklänge nicht als exklusives Klangmaterial, sondern verbunden mit Klangmaterialien und Klangobjekten anderer Herkunft, wobei sich klangliche und assoziative Verwandtschaften neuer Art ergeben. Hier werden Klavierklänge zu Sonderfällen in der unübersehbaren Vielfalt aufgenommener Klänge. Ganz anders präsentieren sie sich in einem sechs Jahre später entstandenen frühen Klavierstück von Wolfgang Rihm: Das vierte seiner 6 Preludes mit der Überschrift Schwungvoll, im Walzertempo ist ein charakteristisches Beispiel wieder auferstandener genuiner Klaviermusik: Entstanden aus vom eigenen Spiel inspirierter, witzig-origineller kompositorischer Phantasie - als frühes Beispiel einer Reihe von bedeutsamen Klavierwerken, zu deren markantesten Beispielen das 1980 entstandene Klavierstück VII mit seinen scharf gemeißelten Rhythmen und seinen heftigen, an Beethoven gemahnenden Ausbrüchen gehört. Auch dieses Werk läßt sich im beziehungsreichen Kontrast hören: Fast gleichzeitig entstand Bilude, ein nostalgisch-satirisches Spätwerk von Pierre Schaeffer, das den Konflikt zwischen Klaviermusik und Lautsprechermusik thematisiert in der Konfrontation seiner eigenen Musik mit derjenigen Bachs. Die Koexistenz von wohltemperiertem Klavier und wohltemperiertem Mikrophon erscheint hier als unaufgelöste Paradoxie. Die Spannung zwischen Altem und Neuem, die hier noch unaufgelöst bleibt, versucht später in den neunziger Jahren Daniel Teruggi aufzulösen, wenn er in Crystal-Mirages Klavier und Tonband Klavier und Tonband in neuer Harmonie wieder zusammenführt, im Einklang von bunter, der live-Musik verbundener Klangsinnlichkeit und moderner Computertechnologie.

WANDLUNGEN DER INSTRUMENTALMUSIK

(Zum Orgelkonzert am 18. 6., zu den Ensemble-Konzerten am 20. 6. und 22. 6., zum Streichquartett-Konzert am 24. 6. und zum Kammerorchester-Konzert am 26. 6.)

ORGELMUSIK

(Zum Orgelkonzert am 18. 6. mit Gerd Zacher: VERANSTALTUNG 8)

Wandlungen in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts lassen sich darstellen nicht nur am Beispiel der Klaviermusik (und seiner beziehungsreichen Kontrastierung mit technisch produzierter Musik), sondern auch an Beispielen anderer Besetzungen und Instrumental-Konstellationen.

Wie unterschiedlich die Entwicklungen in verschiedenen Bereichen ausfallen können, zeigt sich schon im Vergleich der Klaviermusik mit der Orgelmusik. Arnold Schönberg hat die Skepsis gegen die seiner Meinung nach begrenzten klanglichen Möglichkeiten der Orgel erst relativ spät, in der Zeit seines amerikanischen Exils aufgegeben. Seine 1941 entstandenen Variationen über ein Rezitativ für Orgel op. 40 dokumentieren gleichzeitig die Hinwendung zu einem bis dahin als allzu traditionell gemiedenen Instrument und die Rückwendung zu traditionellen Kompositionsprinzipien der Tonalität. Noch 1949 hat Schönberg betont, daß ihm das Klangfarbenreservoir der Orgel, das später seit den fünfziger Jahren wieder interessant für jüngere Komponisten werden sollte, noch als kompositorisch irrelevant erschien: Ich betrachte die Orgel als ein Instrument mit Klaviatur, in erster Linie, und schreibe für die Hände so, wie man sie auf einer Klaviatur betätigen kann. Ich bin wenig interessiert an ihren Farben -- für mich haben die Farben überhaupt nur den einen Sinn, die Idee deutlich zu machen - die motivische und thematische Idee und eventuell ihren Ausdruck und Charakter. Die 1941 vollendeten Variationen und das ihnen in demselben Jahr vorausgegangene Fragment einer Sonate für Orgel sind Ausnahmewerke geblieben, in denen sich Möglichkeiten und Grenzen der Kombination älterer und neuerer Kompositionstechniken artikulieren. - Einen ganz anderen Stellenwert hat die Orgel im oeuvre von Olivier Messiaen. Seine großen Orgelzyklen, unter denen dem radikalen, der seriellen Musik den Weg bereitenden Livre d´Orgue für die Musikentwicklung der zweiten Jahrhunderhälfte die größte Bedeutung zukommt, haben durchweg den Charakter avancierter Hauptwerke. Karlheinz Stockhausen hat 1952 in einem Brief an seinen Komponistenfreund Karel Goeyvaerts beschrieben, welch starken Eindruck sein damaliger Kompositionslehrer Messiaen mit diesem Werk, vor allem wohl als völlig neuartige geistliche Musik mit kühnen, in die Zukunft weisenden permutatorischen Kompositionstechniken, auf ihn gemacht hat. Die Komposition steht am Anfang einer zweiten Epoche Neuer Musik des 20. Jahrhunderts im Zeichen mehrdimensionalen konstruktiven Komponierens, in dem vor allem Tonordnungen und Zeitordnungen sich in neuartigen Konfigurationen und Synthesen miteinander verbinden. Messiaens frühere Orgelwerke lassen sich beschreiben als Stationen auf dem Weg zu diesem Ziel, das einen Höhepunkt in seiner schöpferischen Entwicklung markiert.

KAMMERMUSIK FÜR EIN MELODIEINSTRUMENT UND KLAVIER

(Zu den Kammermusikwerken im Konzert vom 22. 6. mit dem Ensemble Aventure: VERANSTALTUNG 11, Teil 1)

Zu den wichtigsten Stationen früher Neuer Musik gehören einige Werke der Solo-Kammermusik mit Klavier, die, als kompositorisch komplexe und konzentrierte Miniaturen, Schönbergs Klavierstücken op. 19 nahestehen: Vier Stücke für Klarinette und Klavier op. 5 von Alban Berg, Vier Stücke für Violine und Klavier op. 7 sowie Drei Stücke für Violoncello und Klavier op. 11 von Anton Webern. Auch für diese Stücke spricht, was Arnold Schönberg 1924 im Vorwort zu Weberns Bagatellen für Streichquartett op. 9 formulierte:

So eindringlich für diese Stücke die Fürsprache ihrer Kürze, so nötig ist andrerseits solche Fürsprache eben für diese Kürze.

Man bedenke, welche Enthaltsamkeit dazu gehört, sich so kurz zu fassen. Jeder Blick läßt sich zu einem Gedicht, jeder Seufzer zu einem Roman ausdehnen. Aber: einen Roman durch eine einzige Gest, ein Glück durch ein einziges Aufatmen auszudrücken: solche Konzentration findet sich nur, wo Wehleidigkeit im entsprechendem Maße fehlt.

Diese Stücke verbinden äußerste Expressivität mit extremer Konzentration: Der Wechsel zwischen Melodieinstrument und Klavier, den man aus melodischen Dialogen der klassischen Musik kennt, erscheint in extremen Reduktionen, so daß nicht selten statt einer vollständigen Melodie nur ein einzelner Ton oder Akkord erscheint und dann in entsprechende Kürze beantwortet wird. So beginnen das erste Stück für Violine und Klavier aus op. 7 und das erste Stück für Violoncello und Klavier aus op. 11 von Webern: Ein langer Espressivo-Ton des Soloinstruments - ein farbenreicher Akkord des Klaviers als Antwort. Neben solchen sublimierten Frage-Antwort-Beziehungen finden sich auch andere, eher dramatische Gestaltungselemente: Jähe Kontraste (vor allem im zweiten Violin-Klavier-Stück aus Weberns op. 7) - dramatisch-dialogische Entwicklungen (vor allem am Schluß des letzten Klarinette-Klavier-Stückes von Berg). In allen diesen Stücken wird die expressive Differenzierung bis in die klangfarblichen Nuancen hineingetrieben: Flageolett - mit dem Bogen - mit dem Holz des Bogens - Pizzicato (Webern op. 7, Nr. 1; alles mit Dämpfer gespielt); mit geräuschhaften Verfremdungen des Tones (z. B. Flatterzunge in Bergs Klarinette-Klavier-Stücken). Diese Musik löst sich aus allen vorgegebenen Regeln und entwickelt ihre eigene, unwiederholbare Ausdruckswelt.

MUSIK FÜR SPRECHSTIMME UND KAMMERENSEMBLE: PIERROT LUNAIRE

(Zum Konzert am 22. 6. mit dem Ensemble Aventure: VERANSTALTUNG 11, Teil 2)

Eines der Schlüsselwerke des 20. Jahrhunderts ist der 1912 entstandene Melodramen-Zyklus Pierrot lunaire op. 21 von Arnold Schönberg. Bei der Ausarbeitung des Zyklus ergab es sich, daß Schönberg von der konventionellen Melodramen-Besetzung (Sprechstimme, Klavier) abkam und statt dessen in den verschiedenen Stücken mit wechselnden kammermusikalischen Besetzungen experimentierte. Am stärksten reduziert ist die Besetzung im 7. Melodram (Der kranke Mond), das den ersten der drei Teile abschließt: Flöte und Sprechstimme. Hier entsteht ein surrealistisches Duo, in dem für beide Ausführenden die Tonhöhen und die rhythmischen Werte genau vorgegeben sind, in dem aber die Rezitation trotzdem nicht gesungen, sondern gesprochen werden soll. So soll eine artifizielle Zwischenform zwischen Rezitation und Gesang entstehen, bei dem die vorgeschriebenen Tonhöhen nicht singend ausgehalten, sondern im sprachüblichen Glissando sogleich wieder verlassen werden. Schönbergs Partitur-Anweisungen lassen erkennen, wie schwierig dies zu realisieren ist:

Der Ausführende muß sich ... sehr davor hüten, in eine "singende" Sprechweise zu verfallen. Das ist absolut nicht gemeint. Es wird zwar keineswegs ein realistisch-natürliches Sprechen angestrebt. Im Gegenteil, der Unterschied zwischen gewöhnlichem und einem Sprechen, das in einer musikalischen Form mitwirkt, soll deutlich werden. Aber es darf auch nie an Gesang erinnern.

Diese Anweisungen könnten paradox erscheinen, wenn man bedenkt, daß die ersten Sprechstimmen-Noten des siebten Stückes später, im Nachspiel zum 13. Stück, von einem Instrument übernommen werden (von der Baßklarinette): Den Melodieabschnitt, der nicht gesungen werden darf, soll man später trotzdem wieder erkennen, wenn er von einem Melodieinstrument gespielt wird: Das Stück soll sich also, dem phantastischen Duktus seiner Texte entsprechend, in einem rätselhaften Niemandsland zwischen Sprache und Musik, zwischen Ton und Geräusch, zwischen festen und gleitenden Tönen bewegen. Wenn ausnahmsweise einmal konventionell gesungen wird, erscheint dies offensichtlich als Ausnahme: An exponierter Stelle des 8. Stückes (Nacht) singt die Rezitatorin in tiefster Lage 3 Töne auf dem Wort: "verschwiegen". Es sind genau die 3 Töne, aus denen das Stück von seinen Anfangstakten an gebaut ist und deren Konstellationen sich mit den Textworten fortwährend verwandeln: Als Nachtvisionen, als vom Himmel herabfallende "finstre schwarze Riesenfalter -

Der Zyklus ist ein exzeptionelles Beispiel zugleich tonmalerischer, konstruktiver und (in melancholischer Ironie gebrochener) expressiver Phantasie. Das 18. Stück (Der Mondfleck), in dem sich Pierrot über einen imaginären Mondfleck auf seinem Rücken ärgert, ist eine raffinierte polyphone Konstruktion, die sich in ihrem Zentrum im Krebsgang umkehrt, so daß die Komposition im Rückwärtsgang schließlich dort wieder ankommt, von wo sie ausgegangen ist. Das letzte Stück (O alter Duft) schließt mit gebrochenen Reminiszenzen an Dur und Moll, in leise verfremdeter, sich selbst in Frage stellender Nostalgie.

MUSIK DER WELT FÜR BLÄSERQUINTETT - INTERKULTURELLE MUSIK

(Zum Konzert am 20. 6. mit dem Ensemble Aventure: VERANSTALTUNG 10)

Das Bläserquintett ist eine der wichtigsten Gattungen in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts: Das Bläserquintett op. 26 ist die erste große zyklische Zwölftonkomposition von Arnold Schönberg. Die Zeitmaße von Karlheinz Stockhausen mit ihren variablen Zeitschichtungen gehören zu den wichtigsten Kammermusikwerken der fünfziger Jahre. In Werken anderer Komponisten zeigt sich die Weiterentwicklung der Musik für diese Besetzung in Komponisten verschiedener Nationalität und aus verschiedenen Kontinenten, z. B. in einem Frühwerk des amerikanischen Komponisten John Cage, später u. a. bei dem ungarischen Komponisten György Ligeti, und später bei dem japanischen Komponisten Toshio Hosokawa sowie bei dem chinesischen Komponisten ZHU Shi-Rui. Besonders in dem zuletzt genannten chinesischen Bläserquintett wird deutlich, wie mit den Klangmitteln einer klassischen europäischen Kammermusikbesetzung auch außereuropäische Klangwirkungen und Strukturprinzipien realisiert werden können: In vielfältig wechselnden Klangfärbungen und Ensemblekonstellationen ist das Stück nach dem Modell eines altchinesischen Gedichtes, seiner Laut-, Schrift- und Bedeutungsstrukturen gestaltet.

MUSIK FÜR STREICHQUARTETT

(Zum Konzert am 24. 6. mit dem Arditti-Quartett: VERANSTALTUNG 13)

Wichtige Wendepunkte in der Entwicklungsgeschichte Neuer Musik werden markiert durch Kompositionen für Streichquartett. Die 1909 entstandenen 5 Sätze für Streichquartett op. 5 von Anton Webern sind eines der frühesten Beispiele für Kammermusik, die sich von tradierten tonalen Bindungen definitiv löst. Das Werk entwickelt sich im Wechsel zwischen schnellen und langsamen Sätzen, wobei die langsamen Sätze II und IV weitgehend einheitlich gestaltet sind, während im I. Satz Kontraste und dramatische Entwicklungen vorherrschen, die noch Spuren der klassischen Sonatenhauptsatzform erkennen lassen. Der Gesamtverlauf des dritten Satzes ist eine expansive, aus kleinsten Dreitongruppen entwickelte Steigerung. Der V. Satz beginnt mit einer Cello-Kantilene "in zarter Bewegung", die sich später, in langsamerem Tempo, mit dichten, schwer lastenden Akkorden der höheren Streicher verbindet. Der Satz entwickelt sich, im mehrmaligen Wechsel mit kontrastierenden Melodielinien, weiter bis zu einem kurzen, atmosphärisch den Anfangstakten verwandten Teil, dessen Schluß melodisch und harmonisch in der Schwebe bleibt.

Die 1926 entstandene Lyrische Suite für Streichquartett von Alban Berg folgt in ihren sechs Sätzen einer dramatischen Form, die im ersten Satz weitgehend ausgeglichen beginnt und sich in den folgenden Sätzen von diesem Ausgangsstadium Schritt für Schritt entfernt bis in extreme, heftig kontrastierende expressive Regionen. Die Grundreihe des Werkes, die zu Beginn des ersten Satzes (nach einem kurzen Einleitungstakt der tieferen Streicher) von der ersten Violine vorgestellt wird, findet sich auch in Bergs zwölftöniger Vertonung des Liedes "Schließe mir die Augen beide" von Theodor Storm. Dieser Zusammenhang verweist auf ein "heimliches Programm" des Stückes, mit dem auch ein im letzten Satz exponiertes Tristan-Zitat zusammenhängt. Im Zentrum des Werkes steht ein "Allegro misterioso" mit rasend schnellen, schattenhaft leise einsetzenden und sich dann steigernden rotierenden Viertongruppen (die Töne a und b, h und f in wechselnden Abfolgen; je zwei Töne sind Namens-Initialen, z. B. a und b für den Namen des Komponisten). Nach ekstatischen Ausbrüchen und heftigen dramatischen Kontrasten vor allem im dritten und fünften Satz endet der letzte Satz resignativ im totalen Verlöschen.

In den fünfziger und sechziger Jahren verlor die Gattung des Streichquartetts in der aktuellen kompositorischen Entwicklung an Bedeutung zu Gunsten experimenteller Klangmittel und Besetzungen. Erst in den siebziger und achtziger Jahren verstärkte sich wieder das Interesse an neuen Streichquartetten. Zu den bekanntesten damals entstandenen Werken der nach 1945 führenden Komponistengeneration gehören Tetras (1983) von Iannis Xenakis und Fragmente - Stille, An Diotima (1979-1980) von Luigi Nono. Beide Werke repräsentieren extrem unterschiedliche kompositorische Facetten ihrer Entstehungszeit: In plastischen Gliederungen, im vielfarbigen Wechsel zwischen Gestalten und Massenstrukturen, zwischen Tönen und Geräuschen bei Xenakis; in meditativer Konzentration als meditativ konzentriertes Spätwerk im Geiste fragmentarischer Hölderlin-Zitate bei Nono.

MUSIK UND SPRACHE - NEUE GEISTLICHE MUSIK

(Zum Liederabend am 16. 6., Veranstaltung 16, und zu den Kirchenkonzerten)

Die Janusköpfigkeit des 20. Jahrhunderts und seiner Musik wird wohl nirgends deutlicher als in Verbindungen von Musik und Sprache: In (reiner oder instrumental begleiteter) Vokalmusik - vor allem in geistlicher Musik. Nicht nur in den rein musikalischen Gestaltungsprinzipien, sondern auch in ihren Zusammenhängen mit sprachlichen Bedeutungszusammenhängen könnten sich wesentliche ästhetische Veränderungen widerspiegeln - sei es, in der Frühzeit der Neuen Musik, im Übergang von spätromantisch-tonaler zu expressionistisch-atonaler Harmonik im Zyklus der Vier Lieder op. 2 von Alban Berg sei es, fast vier Jahrzehnte später mitten im zweiten Weltkrieg, mit den lyrisches Chiffren des Lebens in Theresienstädter Lagerhaft im Liederzyklus Der Mensch und sein Tag von Viktor Ullmann sei es in der neoklassizistisch archaisierenden, kargen Monumentalität der Psalmensymphonie von Igor Strawinsky sei es, in späteren Jahrzehnten, im fragmentarischen Pathos der Hölderlin-Fragmente oder in der klanglich erfüllten Neo-Religiosität musikalisierter geistlicher Texte aus dem Mittelalter in Maximum est unum von Wolfgang Rihm. Im Miteinander von Musik und Sprache können sich auch politische und zeitgeschichtliche Zusammenhänge in ästhetischer Reflexion neu erschließen - beispielsweise in Friede auf Erden, einem der letzten affirmativ-tonalen Werke des jungen Arnold Schönberg, als Hoffnung auf irdischen Frieden, die dann später von der politischen Realität widerlegt worde; oder später in Schönbergs Kantate Kol Nidre als Dokument der Solidarität mit den Opfern religiöser und rassischer Verfolgung; schließlich, in Schönbergs letztem Werk, das unter dem Titel Moderner Psalm Fragment geblieben ist, als offene Frage nach der Kraft des Gebets nach den traumatischen Erfahrungen des Holocaust, die die Gegenwart Gottes zu verdrängen, wenn nicht auszulöschen schienen. Geistliche Musik im 20. Jahrhundert führt fort, was sich zuvor, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, etwa bei Bruckner und Mahler angebahnt hatte, was sich in der Folgezeit weiter entwickelte bei Reger, Zemlinsky und Schönberg. bei Strawinsky, Webern und Messiaen, bei Stockhausen und Schnebel, schließlich, in vielfältigen Collagierungen und Brechungen, auch bei Wolfgang Rihm: Versuche, Musik zu artikulieren als geistigen Widerstand - im Mut, über bereits Bekanntes hinauszugehen.

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