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7.32 KATZER: Mon 1789


Rudolf Frisius

Georg Katzer: "Mon 1789" - "Mein 1989" (und "Aide-Mémoire")

1. Mon 1789 vollständig 9´35

"Woher die Dinge ihre Entstehung haben, dahin müssen sie auch zu Grunde gehen nach der Notwendigkeit; denn sie müssen Buße zahlen und für ihre Ungerechtigkeit gerichtet werden gemäß der Ordnung der Zeit."

2. Mon 1789 Anf. (evtl. Forts. dem flg. Text unterlegen) (sonst bis "Entstehung haben")

Dies sind Worte des vorsokratischen Philosophen Anaximander in der Übersetzung von Friedricht Nietzsche. Der Komponist Georg Katzer, Jahrgang 1935, hat im Frühjahr 1989 in Ostberlin ein Tonbandstück komponiert, das an den 200. Jahrestag der französischen Revolution erinnern soll und mit diesem Zitat beginnt: Nachdrücklich deklamierend, rituell-archaisch verfremdet und mystifiziert durch Echo, Hall und hinzugemischte Glissandi. Schon dieser Anfang macht deutlich, daß die Musik in einer historischedn Krisensituation entstanden ist: 1989 ging eine politische Entwicklung zu Ende, die sich in der Berufung auf Revolutionsjahre hatte legitimieren wollen, nämlich auf 1789, 1871 und 1917. Die Krise des Weltkommunismus, die 1989 (zunächst in Peking, später in Osteuropa) offen ausgebrochen ist, hat auch die Einschätzung historischer Ereignisse verändert - die Einschätzung der russischen Revolution von 1917, des Pariser Kommune-Aufstandes von 1871 und der französischen Revolution von 1789. Dies hat auch Georg Katzer erkannt. Das philosophische Zitat vom Werden und Vergehen ist für ihn der Schlüssel zum Verständnis revolutionärer Entwicklungen. Am 11. Juni 1989 eröffnete dieses Zitat die Uraufführung der Komposition "Mein 1789", die auf einem Festival elektroakustischer Musik in Bourges stattfand. Katzer war damals einer von 34 Komponisten aus 25 Ländern, die Beiträge zu einer internationalen Suite über die französische Revolution geliefert hatten. Sein Stück entstand noch vor der "Wende" in Ostdeutschland und in verschiedenen osteuropäischen Ländern. Um so bemerkenswerter ist, wie genau sein Stück die Atmosphäre bevorstehender Veränderungen einfängt - die Atmosphäre bisheriger, fragwürdig gewordener politischer Entwicklkungen; die Atmosphäre der Polemik gegen trügerisches Pathos und hohle Deklamationen (ganz im Geiste von Hanns Eisler, der Katzers Kompositionslehrer war). - Katzers skeptischer, philosophisch paraphrasierender Vorspruch konnte 1989 fast prophetisch erscheinen; 1990, im Jahr nach der "Wende", konnte Katzer diesen Vorspruch fast unverändert wieder aufnehmen - jetzt aber im Blick zurück auf das jüngst Vergangene.

3. Mein 1989 Anfang: Schläge - Woher... ... zu Grunde gehen (evtl. z. T. dem flg. Text unterlegt)

1990 wurde auf dem Festival in Bourges ein neues intgernationales Gemeinschaftsprojekt uraufgeführt, das der Rückerinnerung an das Revolutionsjahr 1989 gewidmet war. Georg Katzers Beitrag zu diesem Projekt hat den Titel "Mein 1989". Auch dieses Stück beginnt mit Anaximanders Spruch vom Werden und Vergehen - allerdings mit einer bezeichnenden Veränderung: Bevor der Text beginnt, sind heftige Schläge zu hören - Klänge, die den Fall der Mauer symbolisieren.

4. Mein 1989 Anfang wie 3.

Georg Katzer ist der Komponist des illusionslosen Rückblickes auf revolutionäre Ereignisse. Dies zeigt sich schon 1989, zu Beginn seines Gedenkstückes zum 200. Revolutions-Jubiläum - in der respektlosen Präsentation von sonst oft glorizierten musikalischen Symbolen.

5. Mon 1789 nach Zitat: Marseillaise - alle Menschen - la révolution est finie - commence

Der Anfang der Marseillaise, des wohl berühmtesten revolutionären Kriegsliedes, präsentiert sich in Katzers Stück durchaus unprätentiös: nicht im prunkvollen Orchestersatz, sondern im einstimmigen, textlosen Gesang des Komponisten. Dieser energisch aufstrebende melodische Anfang wird zusammenmontiert mit einem melodischen Abschluß: mit Beethovens Vertonung von Schillers "Ode an die Freude". Dieser Text, dessen Vertonung sich schon der junge, mit der französischen Revolution sympathisierende Beethoven vorgenommen hatte, wurde in Deutschland schon frühzeitig als Bekenntnis zu den Idealen der französischen Revolution vedrstanden. Dies macht Katzer deutlich, indem er den Anfang der Marseillaise und Beethovens Schiller-Vertonung zusammenmontiert - allerdings ohne trügerischen Pomp: Der Musikmontage folgt ein ernüchternder, auch in seiner Widersprüchlichkeit provozierender Text, der das Ende der Revolution ankündigt - aber zugleich auch wieder in Frage stellt.

6. Mon 1789. Forts. von 5. La révolution est finie, finie, commence

Georg Katzer ist ein Komponist des produktiven Widerspruchs: Er spricht vom Ende der Revolution - d. h. einer revolutionären Tradition, die angeblich von 1789 über 1917 bis in die Diktaturen des sogenannten real existierenden Sozialismus geführt hat; gleich im nächsten Satz verrät Katzer flüsternd, daß die Revolution erst anfängt. Das klingt fast wie eine prophetische Ankündigung der damals, 1989, noch bevorstehenden Ereignisse. Die neue Revolution kündigt sich an, weil die alte gescheitert ist - gescheitert an einer blinden Geschäftigkeit des Terrors, bei der schließlich die proklamierte Gleichheit aller Menschen pervertierte zur Gleichheit - oder auch Ungleichheit - vor der Guillotine.

7. Mon 1789 vor Schluß: Alle Menschen sind gleich - vor der Guillotine oder/und some are more equal, einige sind gleicher - devant la guillotine

Die Fragwürdigkeit der Revolution spiegelt sich in der Fragwürdigkeit ihrer Symbole: Am Schluß des Stückes erstarrt die Musik auf dem Anfangston von Beethovens Melodie und wird schließlich zum hämmernden Geräusch.

8. Mon 1789 Schluß ab fis: Alle Menschen werden Brüder - alle - Verwandlung in Geräusch

In vielen Details wird deutlich, wie wichtig für Georg Katzer gerade im Jahre 1989 die Skepsis gegenüber hochtönendem Pathos gewesen ist - so wichtig, daß er darauf verzichtete, marktkonforme Musikaufnahmen oder Text-Rezitationen von Vorlagen aus der Revolutionszeit zu verwenden (obwohl die Veranstalter ihm und den anderen Mitwirkenden solche Aufnahmen zur Verfügung gestellt hatten). Statt dessen sang und rezitierte Katzer selbst so unmißverständlich, daß niemand seine Skepsis überhören kann - seine Skepsis gegen die Ambivalenz nicht nur der Revolution selbst, sondern auch ihrer Beurteilungen.

9. Alle Menschen sind gleich - zusammen mit Schillers Glocke (und hm-hmmm...)

Nachdem Georg Katzer 1989 einen Rückblick auf das Revolutionsjahr 1789 komponiert hatte, produzierte er ein Jahr später ein Stück über das vergangene Revolutionsjahr 1989: Musik der Dokumentation und der kritischen Reflexion des jüngst Vergangenen:

10. Mein 1989. Honecker: Die Mauer... ... Zusammenbruch

Georg Katzer hatte zunächst gezögert, ein Tonbandstück über 1989 zu komponieren. Erst als die Veranstalter in Bourges ihn an sein Stück über 1789 erinnerten, änderte Katzer seine Meinung: Er entschloß sich, das aktuelle zeitgeschichtliche Thema in einen größeren geschichtlichen Zusammenhang zu stellen. Dabei ging er so weit, daß er im Stück über 1989 das ältere Stück über 1789 ausgiebig zigtierte - und zwar nicht nur in der philosophischen Einleitung, sondern auch in einer längeren Passage über die Menschenrechte.

11. Mein 1989: Tous les hommes...

1989, ein auch für Deutschland wichtiges Geschichtsjahr, bringt Georg Katzer in Zusammenhang nicht nur mit 1789, sondern auch mit der wohl finstersten Epoche der deutschen Geschichgte - mit der NS-Zeit. Dabei besinnt er sich auf ein anderes zeitgeschichtliches Stück, das er bereits 1983 realiert hatte, zum Gedenken an den 50. Jahrestag des sogenannten nationalsozialistischen Machtergreifung - ein Stück der Erinnerung an Diktatur, Terror und Krieg unter dem Titel "Aide-Mémoire".

12. Aide-Mémoire. Kurzdarstellung 2. Weltkrieg: ... die letzte territoriale Forderung - Kriegslieder - Les Préludes

Die Komposition "Aide-Mémoire", das Gedenkstück über 1933 (bzw. über die Zeit von 1933 bis 1945), zitiert Georg Katzer in seiner Musik über das Revolutionsjahr 1989: Man hört Fragmente der berüchtigten Goebbels-Rede im Berliner Sportpalast, in der 1943 der totale Krieg proklamiert wurde; dazwischen geschnitten ist das Gebrüll sogenanter "Volksgenossen", und anschließend ist das Thema von Liszts "Les Préludes" zu hören, die von Goebbels als Angriffs-Fanal gegen die Sowjetunion mißbrauchte Musik des Lebenskampfes - eine Musik, die Katzer allerdings entlarvt als Vorboten des Zusammenbruches.

13, Mein 1989. Akzent - Goebbels - Kriegsgeräusche - Les Préludes - Zusammenbruch

Georg Katzers Komposition "Mein 1989" ist kein patriotisches Jubelstück. Im Kontext der Jahreszahlen 1789, 1933 und 1989 macht dieses Stück deutlich, daß deutsche Zeitgeschichte nicht herausgelöst werden kann aus ihren nationalen und internationalen Entwicklungszusammenhängen. Nur so wird es möglich, eine falsche und dröhnende Selbstgewißheit zu überwinden: Wer die jubelnden deutschen Volksmassen des Jahres 1989 hört, sollte nicht vergessen, daß Deutsche früher auch bei fragwürdigeren Anlässen gejubelt haben - zum Beispiel 1943 im Sportpalast. Wer es vermeiden will, Begriffe wie Gleichheit und Freiheit in markigem Pathos zu entwerten, der sollte darauf achten, wie behutsam und kritisch Georg Katzer sie anspricht und besingt. Seine Komposition "Mein 1989" artikuliert sich, im Grenzbereich zwischen Musik und Hörspiel, als Modell der schwierigen Suche nach der Freiheit.

14. Mein 1989 vollständig. 11´10
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