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7.29 Charles Ives


Rudolf Frisius

Über einige Werke von Charles Ives

Z: Ich grolle nicht... ich grolle nicht (Ives)

"Ich grolle nicht, und wenn das Herz auch bricht.

Ewig verlornes Lieb! Ich grolle nicht."

Mit diesen beiden Versen beginnt Heinrich Heine ein Gedicht, das sich in seinem Zyklus "Lyrisches Intgermezzo" (einer Arbeit aus den Jahren 1822 und 1823) am 18. Stelle findet. Der amerikanische Komponist Charles Ives (1874-1954) hat 1899 ein Klavierlied geschrieben, in dem diese Textvorlage durch Wiederholungen auf drei Verse erweitert wird:

"Ich grolle nicht, und wenn das Herz auch bricht.

Ewig verlor´nes Lieb, ewig verlor´nes Lieb!

Ich grolle nicht, ich grolle nicht."

Wer den Text in dieser Form liest, kann erkennen, daß es Ives hier weniger um den Text von Heine geht als um ein aus der Tradition bekanntes, auch als Musikstück berühmt gewordenes Lied, dem dieser Text zu Grunde liegt: Charles Ives teilt 1899 Heinrich Heines Text fast genau so auf, wie es - fast 60 Jahre vor ihm - schon Robert Sc humann getan hat.

Z: Schumann, Ich grolle nicht, Fischer-Dieskau

Das Lied von Charles Ives ist Musik über Musik - die Vertonung eines Textes, von dem der Komponist wußte, daß seine Vertonung sich am Vorbild eines älteren Komponisten zu messen hatte. Wie wichtig dies für Ives war, läßt sich am leichtesten an seiner Textbehandlung ablesen. Hier folgt er in allen wichtigen Einzelheiten dem Vorbild Schumanns. Robert Schumann hat, abweichend von Heines Vorflage, das Lied in zwei Strophen gegliedert, die sich an Anfang und Ende genau entsprechen. Beide Strophen bebginnen mit dem Vers:

"Ich grolle nicht, und wenn das Herz auch bricht."

Beide Strophen enden damit, daß zwei Mal nacheinander die ersten Textworte wiederkehren:

"Ic h grolle nicht, ich grolle nicht."

In dieser Textanordnung gestaltet Schumann eine dramatische Textentwicklung, in der wichtige Textstellen wiederholt werden und sich dabei in der Ausdrucksintensität Schritt für Schritt steigern.

Z: Ich grolle nicht Schumann Fischer-Dieskau

Auch Charles Ives, wie Schumann, die ersten Textworte mehrmals wiederkehren - allerdings in anderem Formzusammenhang als bei Schumann: Er faßt diese zentralen Textworte weniger dramatisch auf, sondern deklamiert sie eher ruhig und resignativ. So erklärt es sich, daß jedes Mal, wenn diese Textgworte wiederkehren, die Formentwicklung sich beruhigt und schließlich, beim letzten Mal, fast im Verlöschen endet - als resignativer Abschluß nach einem heftigen Gefühlsausbruch.

Sie hören jetzt die vollständige Komposition "Ich grolle nicht" von Charles Ives. Es singt Dietrich Fischer-Dieskau, am Klavier begleitet von Michael Ponti.

Z: Ives: Ich grolle nicht vollst. Fischer-Dieskau

Sie hörten das Klavierlied von Charles Ives, gesungen von Dietgrich Fischer-Dieskau, am Klavier begleitet von Michael Ponti.

"Ich grolle nicht" ist das Schlußstück einer Gruppe von Liedern nach deutschen Texten, die Charles Ives unter dem Titel "Four German Songs" zusammengestellt und in seine große Sammlung "114 Songs" augenommen hat. Dieses Stück läßt bis in feinste Details der Textgestaltung und Textausdeutung hinein erkennen, wie intensiv Ives sich mit der Tradition des romantischen Klavierliedes auseinandergesetzt hat - in diesem Fall vor allem mit Robert Schumanns Vertonung desselben Texgtes. Nur in wicnzigen Details einiger Akkord- und Vorhaltsbildungen wird spürbar, daß hier ein Komponist tätig ist, der später als radikalster Pionier der Neuen Musik Amerikas in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bekannt werden sollte.

Z: a) Vorspiel 2. Phrase

b) Höhepunkt: ich sah die Schlange...

In seiner Sammlung der "114 Songs" hat Charles Ives die Gruppe der "Four German Songs" mit einer Nachbemerkung versehen, die ausdrücklich darauf eingeht, daß die hier vertonten Texte schon früher von berühmten Komponisten vertont worden sind. Ives schreibt dazu:

"Der Verfasser ist heftig kritisiert worden, weil er versucht, Musik zu Texten von Liedern zu setzen, die Meisterwerke großer Komponisten sind. Das oben abgedruckte Lied und einige andere wurden ursprünglich als Studien geschrieben. Es sollte unnötig sein zu sagen, daß diese Lieder nicht im Geist des Wettbewerbs komponiert wurden; weder Schumann noch Brohms oder Franz müßten unter einem Vergleich leiden - das ist eine weitere überflüssige Feststellung. Überdies wären diese Komponisten wahrscheinlich die letzten, die irgendeinen Monopolanspruch erheben würden - besonders auf das Recht eines Mensxchen, sich das Vergnügen zu machen, in Musik auszudrücken, was er will. Diese wurden nicht so sehr trotz der Kritik in diese Sammlung eingefügt als gerade deswegen."

Z: Ich ruhe still Fischer-Dieskau (Ives) evtl. nur 1. Strophe

Aus einer Notiz des Komponisten geht hervor, daß er bei der Vorbereitung seiner Liedersammlung sich ausdrücklich vorgenommen hat, für die deutschsprachigen Lieder auch engliche Textfassungen herzustellen; diese Fassungen sind also spätger entstanden als die deutsch textierten. Trotzdem läßt sich feststellen, daß gerade diese Fassungen in der Muttersprache des Komponisten sich durch besondere deklamatorische Sorgfalgt auszeichnen, während die deutschen Ausgaben in einigen Details der Deklamation und des Textes erkennen lassen, daß Ives mit der deutschen Sprache weniger vertraut war. Dies gibt den englischen Neufassungen einen eigenen Wert.

Z: Ich ruhe still - engl. Fassung In Summer Fields

Sie hörten "In Summer Field" von Charles Ives, die englische Fassung des Liedes "Feldeinsamkeit" nach einem Text von Hermann Almers. Es sang Henry Herford, Bariton, am Klavier begleitet von Robin Bowman.

In den "114 Songs" hat Charles Ives vorf der Gruppe der vier deutschen Lieder vier französische Lieder placiert: "Four French Songs". Auch in diesen Liedern konzentriert sich Ives auf große melodische Bögen in der Singstimme und einen akkordisch sorgfältig ausgefeilten Klaviersatz, auf Musik im Geiste einer ungebrochenen romantischen Tradition - zum Beispiel in der 1901 entstandenen "Elégie" nach einem Text von Louis Gallet.

Z: Elégie

Sie hörten das Klavierlied "Elégie" von Charles Ives. Es sang Henry Herford, Bariton, am Klavier begleitet von Robin Bowman.

In der Sammlung der "114 Songs" sind besonders die deutsch- und französischsprachigen Lieder den Traditionen des romantischen Kunstliedes verbunden und insofern stilistisch relativ ent miteinander verwandt. Beim Studium der englischsprachigen Lieder a ber ergibt sich ein weniger einheitliches Bild: Ein einheitlich durchgehalgtenes traditionelles Satzbild findet sich relativ selten, selbst in der großen Gruppe der geistlichen Liedert. Zu den wenigen Ausnahmen gehört das einfache "Chrismas Carol", dessen englischer Text in einen lateinsichen Gesang der Engel mündet.

Z: A Christmas Carol Fischer-Dieskau , evtl. Herford

Unter den geistlichen Liedern finden sich Beispiele bemerkenswerter satztechnischer Kühnheiten, die die Konventionen der tonalen Musik wirkungsvoll in Frage stellen. Oft geschieht dies mit durchaus einfachen kompositionstechnischen Mitteln - z. B. in der 1919 entstandenen Komposition "Werenity": hier verbindet sich eine schlichte Melodie in einfachen Sek8undfortschreitungen mit einer einfac hen, aber atonalen Begleitung: Man hört zwei ruhig hin- und herpendelnde Akkorde in ständigem Wechsel. Nur an wenigen Stellen ergeben in der Überlagerung von Melodie und Harmonie Annäherungen an tonale Fortschreitungen. Diese sind aber ganz anders behandelt als in traditioneller Musik: Tonale Akkorde und Akordfortschreitungen hört man nur in Passagen des Überganges, während in den Hauptteilen stets die tonal schwebenden (bzw. unbestimmten) Akkorde dominieren. Dies zeigt sich auch in der Behandlung des Textes: Die tonalen Passagen werden auf Textabschnitten gesungen, die zu einem zentralen Begriff hinführen, der dann wieder mit atonaler Musik verbunden ist. So heißt es beispielsweise im Zentrum des Liedes:

"The silence of eternity interpreted by love" (Das Schweigen der Ewigkeit, gedeutet durch Liebe)

Auf den Worten "interpreted by" erklingen tonale Akkorde; auf dem zentralen Begriff "love" aber kehren die atonalen Zentralakkorde wieder.

Z: Serenity: the silence of eternity ingterpreted by love (ausblenden auf 4. Pendelakkord unter "love")

Ähnlich ist es am Schluß des Liedes: Die letzten Worte lauten:

"the beauty of thy peace".

Diese Textpassage beginnt mit tonalen Akkorden, kehrt aber b ei dem Schlüsselwort "peace" wieder zur Atonalität (bzw. zur schwebenden Tonalität) zurück.

Z: Serenity: the beauty of thy piace

"Serenity" ist geistliche Musik jenseits der Versuchungen einer religiös geprägten Traditionspflege.

Z: Serenity vollständig. (von Osten, evtl. Herford)

Sie hörten "Serenity" von Charles Ives. Es sang Sigune von Osten, begleitet von Armin Fuchs.

Der Text des Liedes "Like a sick eagle" spricht von der Schwachheit des Geistes und von der Erwartung des Todes - im Bild des kranken Adlers, der aufblickt zum Himmel. Dieses Stück wird vollständig von atonalen Tonstrukturen beherrscht: Von langsam sich hin- und her bewegenden, meist in Ganztonschritten aufeinanderfolgenden Tönen der Begleitung - von langsamen chfromatischen Fortschreitungen in der Singstimme, die sehr langsam, mit schwacher und schleppender Stimme gesungen werden sollen.

Der Text des Liedes "Where the Eagle" spricht von der Hoffnung auf ewige Ruhe nach dem Tode. Die Musik beginnt mit schwebenden, tonal unbestimmten Akkorden, und sie löst sich schließlich in tonale Harmmonien auf.

Z: Where the Eagle. Nr. 94, S. 215

Von einigen geistlichen Liedern der "114 Songs" aus ergeben sich Brücken zur Instrumentalmusik von Charles Ives - beispielsweise zur 4. und 3. Violinsonate und zur 3. Sinfonie. In diesen sind die vokalen Fassungen als Arrangements der instrumenalen entstanden - z. B. "His Exaltation" nach der 4. Violinsonate oder "Watchman" nach der 2. Violinsonate.

Z (evtl.): Zusammenschnitte Lied - Kammermusik: a)His Exaltation

b) Watchman

In den weltlichen Liedern finden sich, den höchst unterschiedlichen Textinhalten entsprechend, durchaus Verschiedene Techniken und Stile, oft sogar innerhalb desselben Stückes. Die Kombinagtion des Heterogenen oder Gegensäthzlichen kann auch zu Effekten ironischer Verfremdung führen - zum Beispiel in den zweiteiligen "Memories", bei denen auf paradoxe Weise ein überaus lustiges und ein kitschig-sentimentales Lied aneinandergekoppelt sind: Das erste Lied schildert die Vorfreude der Kinder im Opernhaus, bevor der Vorhang aufgeht und anschließend die traurige Melodie erklingt.

Z: Memories a, b

In den weltlichen Liedern finden sich auch zahlreiche Beispiele dafür, daß Charles Ives sich in amüsanter Polemik mit verbrauchgten Klischees populärer Musik auseinandergesetzt hat. Es der witzigsten Beispiele ist ein Lied, dessen Text ausschließlich aneinandergereihte gereimte Klischeeworte enthält, verbunden, mit er sentimentalen Melodie und mit kitschigen Begleitakkorden. Das Stück heißt "Romanzo (die Central Park).

Z: Romanzo di Central Park. Nr. 96, S. 219, CD Songs 2 Herford/Bowman

"Romanzo di Cntgral Park" ist das letzte in einer Reihee von 8 Liedeern, denen Ives in seiner Liedersammlung eine kuriose Anmerkung gewidmet hat. Er schreibt:

"Die Nummern 28, 53, 85, 86, 87, 89, 90, 96 haben geringen oder überhaupt keinen musikalischen Wert - (das ist eine Feststellung, die nicht besagen soll, daß die anderen Nummern allzu großen Wert haben). Sie sind vor allem deswegen eingefügt worden, weil sie nach Meinung des Verfassers gute Beispiele für Lieder sind, bei denen es um so besser für den Fortschritt der Musik insgesamt ist, je weniger sie komponiert, veröffentlicht, verkauft oder gesungen werden. Es wird - vielleicht überflüssiger Weise - darum gebeten, daß sie nicht gesungen werden, zumindest in der Öffentlichkeit, oder daß man sie Studenten gibt als Beispiel dafür, was man nicht singen soll.

Mehrere der hier erwähnten Lieder gehören zu einer Gruppe der "Sentimental Ballads". In diesen Stücken ergeben sich komische Wirkungen oft dufrch karikierende Verfrfemdungen oder durch paradoxe Kombinationen von Text und Musik.

Z: evt. Charlie Rutlage Herford oder evtl. Osten

In der Liedersammlung lassen sich mehrere Stücke finden, in denen Komik sich aus bestimmten musikalischen Konstellationen ergibt.

Z. The Circus Band Nr. 56, S. 128

In dem 1894 entstandenen Lied "The Circus Band" gibt es eine Stelle, an der scheinbar Unvereinbares im Klaviersatz bewußt nebeneindergestellt wird: Eine scharfe Dissonanz, die mehrmals wiederholt wird - eine C-Dur-Kadenz. Die Dissonanzen stehen für den Ärger des jungen Verehrers, der die heiß verehrte Zirkusreiterin nicht gleich findet. Die Kadenz hingegen stellt den routinemäßien Ablaf der Dinge dar: The show must go on. - Dieser Kontrast steht im Zentrum eines Liedes voller Anspielungen an populäre Musik.

Z: The Circus Band vollständig Herford oder evtl. v. Osten

Nicht nur in "The Circus Band", sondern auch in anderen Werken von Charles Ives findet man Beispiele dafür, daß Tonales und Atonales sich wirkungsvoll kombinieren und konfrontieren lassen - zum Beispiel im ersten Satz des 2. Streichquartetts, der den Titel "Discussions" führt. An einer Stelle dieses Satzes hört man eine Folge kräftiger Kontraste: Zunächst atonale Akkorde, die sich Schritt für Schritt im Tonraum erweitern - dann mehrmals nacheinander engste Tonabstände in Clustern - schließlich Wechsel zwischen tonalen und atonalen Akkorden mit paradoxen Konfrontationen und Auflösungen.

Z: 2. Quartet I T. 15-19: Ambituserweiterung - Cluster - Tonale und atonale Akkorde

Diese Stelle ist der Abschluß eines Anfangsteiles, in dem die Instrumente ihre Discussions beginnen: Zunächst einzelnen nacheinander sich äußernd, dann mehr und mehr auch in verschiedenen Instrumenten gleichzeitig agierend. Die akkordische Bewegung, die erst nach einiger Zeit klare KOnturen bekommt, ergibt sich daraus, daß die Insgtrumente erst nach und nach dazu kommen, beim Wechsel von einem Ton zum anderen synchron zu spielen. So ergeben sich verschiedene Arten des Zusammenspiels, der Diskussion aller vier Instrumente.

Z: 2. Quartet I 1-19

Im weiteren VErlauf des Stückes verschärfen sich die Kontraste: Die Abwechslung zwischen tonalen und atonalen Passagen wird differenziert dadurch, daß als zusätliche Gestaltelemente Zitate populärer Melodien eingeführt werden.

Z: 2. Quartet I 55-70 oder 106 (nach Aufstieg, bis 2 Akkkordschläge 70 oder 106)

Der gesamte erste Satz präsentiert sich als ein buntes Kaleidoskop unterschiedlicher Abfolgen und Überlagerungen, Kongtraste und Entwicklungen. Schließlich kommt die melodische Bewegung ins Stocken, und man hört ein hört ein hartnäckiges Spiel mit wenigen Tönen des Cellisten, beovr die Musik letztlich wieder zurückfindet zu den Tonkonstellationen des Anfangs.

Z: 2. Quartet I, T. 120 bis Schluß

Der 2. Satz des 2. Quartetts heißt "Arguments" Dieser Satz beginnt mit schroffen dissonanten Einwürfen der vier einzelnen Instrumente. Schritt für Schritt entwickelt sich daraus ein Zusammenspiel aller vier Insgtrumente - aber alle spielen Verschiedenes, was so weit geht, daß sich sogar verschiedene Takteinteilungen überlagern. Im Ensemble führt zunächst die Violine mit schroff atonalen Phrasen. Später drängt sich die 2. Violine mit einer tonalen Melodie in den Vordergrund, brind die anderen zweimal um Verstummen und feiert dies mit jeweils mit grotesk-sentimentalen Kadenzen, die von drei anderen Instrumenten jeweils mit hjeftigen Ausbrüchen zum Schweigen gebracht wedrden.

Z: 2. Quartet II T. 1-39

Nur für kurze Zeit spielen alle friedlich zusammen. Nach einem heftigen Ausbruch aller vier Instrumente ist dieser Versuch der Einigung jedoch schon nach kurzer Zeit wieder zu Ende.

Z. 2. Quartet II 40-41: leise, tonal - 2 laute Akkordschläge

Nachdem die Einigung im akkodischen Zusammenspiel gescheitert ist, kommt es zum Versuch einer polyphonen Einigung: Alle vier Instrumente spielen nacheinander dasselbe, es entsteht ein vierstimmiger Kanon. Ein erster Höhepunkt wird in dieser Entwicklung erreicht, wenn die raschen gezacktgen Melodiebewegungen nach und nach übergehen in langsamer absteigende Tonfolgen. Sobald dieses Stadium erreicht ist, steigt eine Stimme aus der polyphonen Satzstruktur aus und pausiert: Die 2.Violine.

Z: 2. Quartett II T. 42. mit Auftakt (Kadenz 2. Vl.) - T. 48 (Aussetzen 2. Vl. nach raschem Abwärtslauf)

Aus Aufzeichnungen von Charles Ives wissen wir, was er sich bei der Ausarbeitung dieser Formentwicklung vorgesgtellt hat: Die 2. Violine steigt aus, weil ihr das rasche, polyphon zerfaserte Zusammenspiel zu schwierig und unbequem eworden ist. Später steigt die 2. Violine wieder ein - mit kontrastierenden Begleitfiguren.

Z: 2. Qu. II T. 52 (langsamer absteigende Töne) - T. 73 (ausblenden auf Tremolo 1. Vl.)

Im weiteren Verlauf versuchen die vier Spieler, sich darauf zu einigen, daß alle dieselbe Tonleiter spielen. Ab er auch das mißlingt: Jeder fängt auf einem anderen Ton an, und auch die Synchronität wird zerstört. So kommt es wieder dazu, daß das Zusammenspiel scheitert und jeder einzhelne einige heftige, wütende "Argumente" spielt - ähnlich wie zu Anfang.

Z: 2. Qu II T. 73 (Tremolo 1. Vl.) - T. 79 Vl. 2 Gliss

Nach mehreren vergeblichen Anläufen, ein harmonisches Zusammenspiel zhu erreichen, ist die Musik wieder auf ihr chaotisches Anfangsstadium zurückgefallen. Es gibt eine Fassung des Quartettts, die daraus die Konsequenz zieht, den Satz im Anschluß daran wieder von vorn beginnen zu lassen, also alles bisher Gespielte zu wiederholen. In einer anderen, heute bevorzugten Fassung hat Ives sich dafür entschieden, diese Wiederholung zu streichen. - Auch im weiteren Verlauf des zweiten Satzes belebt sich die Entwicklung durch die Einführung von Zitaten. Diesmal sind es "kulturelle Argumente" - nämlich Zitate von populären klassischen oder romantischen Themen: Tschaikowkys Sechste - Beethovens Neunte. Ives fügt überdies Zitate populärer amerikanischer Melodien hinzu. Danach geht die konfliktgeladene Entwicklng ähnlich weiter wie zuvofr im ersten Teil dieses Satzes: Mit Einigungsversuchen, asynchronen Tonleitern und brüsk unterbrechenden Akkordstrukturen.

Z: 2. Qu. II T. 80-110 (Anf. Akkorde nach Vc-Gliss - bis Schluß des Satzes)

Der 3. Satz des Quartetts heißt: "The Call of the Mountains", Der Ruf der Berge. Die vier Protagonisten, die in den beiden vorangegangenen Sätzen heftig miteinander gestritten haben, treffen sich jetzt in gemeinsamer, religiös gefärbtger Bewunderung der Natur. So ergibt sich schon zu Beginn dieses abschließenden Satzes ein deutlich kontrastierendes Klangbild: Ruhig, leise, akkordisch, mit behutsam ausmodellierten melodischen Bewegungen.

Z: 2. Qu. II T. 1-10 (bis ausgehaltener G-Dur-Dreiklang mit fis)

Auch im dritten und letzten Satz seines 2. Streichquartetts arbeitet Charles Ives mit Zitaten. Im Schlußteil, der sich in ruhigen, regelmäßigen Ganzton-Fortschreitungen des Cellos ankündigt, verwendet Ives die Melodie des geistlichen LIedes "Nearer my god to thee" - eine Melodie, die auch sonst in der Musik von Ives eine wichtige Rlle spielt - sogar mit dem originalen Text, wie er gegen Ende des Lieder gesungen wird: am Schluß des Liedes "Down east"

Z: Down East ab T. 56 "nearer my god to thee" bis Schluß des Liedes.

Die Melodie "nearer my god to thee" kommt auch im 2. Streichquartett vor. Im Zentrum des letzten Satzes erscheint sie, überlagert mit ruhig absteigenden Ganztonschritten im Cello und mit leisen, rhythmisch unruhigen Gegenstimmen, als Signal der Beruhigung, die gleichwohl nach einiger Zeit doch wieder in eine sehr rasche, knappe Steigerung übergeht und dann abreißt.

Z: 2. Qu. III ab T. 56 (Einsatz "nearer...") bis T. 80 Höhepunkt Aufstieg, Pause

Die drei Sätze des 2. Streichquartetts sind experimentelle Musik, die sich aus Vorstellungen strukturell verschlüsselter Programmusik entwickelt. Zwei lebhafte Sätze und ein abschließender ruhigerer Satz präsentieren in dieser zwischen 1907 und 1913 entstandenen Musik eine immer wieder überraschende Vielfalt von Gestaltungsideen und Formprozessen. Dieses Quartett, das Ives noch lange nach seiner Entstehungszeit als besonders gelungen angesehen hat, ist einer der wichtigsten Beiträge der amerikanischen Musik zur avancierten kompositorischen Entwicklung des 20. Jahrhunderts.

Z: 2. Qu. vollständig oder längerer Ausschnitt

Charles Ives spielt in der Musikentwicklng des 20. Jahrhunderts auch deswegen eine besondere Rolle, weil er eine vollkommen eigenständige kompositorische Position bezogen hat, in der die Auseinandersetzung mit vorgefundenen Materialien und die musikalische Innovation sich wechselseitig anregen und intensivieren. Immer wieder lassen sich in seiner Musik Einzelheiten entdecken, die dem Hörer bekannt sein könnten, die er aber in dieser Form zuvor noch nicht gehört hat. Manchmal kommt es so weit, daß eine bekannte Melodie aus neuartigen Konstellationen erst allmählich, Schritt für Schritt, entstehet. So geschieht es besonders sinnfällig im Lied "Down East" - mit der Melodie des bekannten geistlichen Liedes "Nearer my god to thee". Alle Details und Zusammenhänge in dieser Musik sind erfunden als Hinführungen zur Botschaft dieses Liedes.

Z: Down East vollständig

Die allmähliche Überführung des Unbekannten ins Bekannte verändert auch den Kontext des scheinbar Wohlbekannten, in der Erfahrung bereits Vorfindbaren. Beispiele hierfür finden sich schon in einem bemerkenswerten Frühwert: Die "Variations on America" für Orgel hat Charles Ives wahrscheinlich im Jahre 1891 komponiert, in seinem 18. Lebensjahr. Das patriotische Lied "America", das Ives hier vewenet, wird auf dieselbe Melodie gesungen wie der Text der britischen Nationalhymne. Bei der Vorstellung des Themas ist diese Melodie in originaler Gestalt zu hörer, in ziemlich konventioneller Harmonisierung.

Z: Var. on America, Thema

Interessant ist, daß dieses originale Thema nicht gleich zu Beginn des Stückes erscheint. Ihm vorfaus geht eine Einleitung, in der das Thema bald verschleiert, bald originalgetreu zu hören ist: Ives verwandelt die vorgegebene Melodie in etwas Eigenes - und umgekehrt erfindet er auch sein eigenes Einleitungstehma so, daß es zu einer allgemein bekannten Melodie hinführen kann.

Z: America Einleitung

In den "Variations on America" hat Ives sein Thema so verändert, daß auch der musiksoziologische Konext dieses Liedes davon nicht unberührt bleiben kann - z. B. dann, wenn diese ursprünglich feierliche Melodie durch eine frech-ornamentale Gegenstimme den sound einer Leierkasten-Melodie erhält.

Z: America Var. 1 (Leierkasten)

Später, in einer rhythmisch prägnanten Moll-Variatin, vewandelt sich die ursprünglich patriotische Musik in eine Tanzmusik: in eine Polonaise.

Z: America Var. Moll - Polonaise

Die radikalste Veränderung findet sich in einem eingeschobenen Abschnitt, dessen Faktur am deutlichsten dann herauskommt, wenn statt der ursprünglichen Orgelfassung eine Fassung für großes Orchester gespielt hat, wie sie Willian S. Schuman 1963 realisierte. In diesem eingeschobenen ad-libitum-Abschnitt läßt Ives die Hymne in zwei Tonarten gleichzeitig spielen - teils originalgetgreu, teils verändert durch Verkürzungen oder rhythmische Veränderungen.

Z: America Interlude I Orchesterfassung

In den Verfahren, die Ives hier verwendet, zeichnen sich prophetisch Verfahren der modernen Tonbandkomposition ab - z. B. Techniken der verkürzenden Montage. In der 1967 uraufgeführten Tonbandkomposition "Hymnen" von Karlheinz Stockhausen beispielsweise wird eine Aufnahme der britischen Hymne mit ähnlichen Montagetechniken verarbeitet.

Z: Hymnen 4. Region GB

Die "Variations on America" sind eines der frühesten Beispiele Neuer Musik, in der nicht nur die traditionelle Tonalität stellenweise in Frage gestellt wird, sondern auch erste Andeutungen moderner Verffahren der Medienkomosition zu erkennen sind. So wird es möglich, daß Neue Musik ihren Beitrag leistet zur Reflxion der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Z: Variations vollständig oder längerer Ausschnitt (z. B. Finale)

Die Verarbeitung bekannter Melodien, die als politische Symbole fungieren, spielt in der Musik von Charles Ives eine wichtiged Rolle. Am deutlichsten zeigt sich dies in verschiedenen Liedern, die im Weltkriegsjahr 1917 entstanden sind. Als musikalisches Symbol für sein eigenes Land, die Vereinigten Statten, verwendet Ives hierbei die Melodie "Columbia, the Gem of the Ocean. Im Lied "Tom sails away" erscheint diese Melodie dann, wenn erhält wird, daß Tom für die Freiheit seines Landes in den Krieg ziehen muß.

Z: Tom sails away Schlußteil Zitat "Columbia, the Gem of the Ocedan"

Diese Melodie hat Ives schon vor dem ersten Weltkrieg in vielen Werken verwendet. Beispielsweise erscheint sie, markant hervorgehoben, im 1. Satz des 2. Streichquartett.

Z: 2. Qu I T. 58-60 Zitat Columbia, gem of the ocean

Die Melodie "Columbia, the Gem of the Ocean" hat Ives auch in Verbindung mit anderen musikalischen Symbolen verwendet - zum Beispiel in dem Kriegslied "in Flander´s Fields". Hier verbindet sich die amerikanische Melodie mit zwei anderen Melodien, die sich überlagern: Mit dem Anfang von "God save the Queen" und mit dem Refrain-Beginn der Marseillaise. Dies symbolisiert die Einheit der drei westlichen Kriegsverbündeten, deren Soldaten auf den Schlachtfeldern Flanderns gefallen sind: Großbritannien, Frankreich und die Vereinigten Staaten.

Z: In Flandes Fields Fischer-Dieskau vollständig

Wenn Ives die Hymnen von Großbitannien und Frankreich überlagert, denn hebt er die "entente cordiale" dieser beiden langjährigen Verbündeten besonders deutlich hervor - übrigens in ähnlicher Weise, wie auch später Stockhausen in seinen "Hymnen" die Nationalhymnen dieser beiden Länder mehrfach und nachdrücklich miteinander in Verbindung gebrachtg hat.

Z. evtl. Hymnen Kopf Marseillaise-GB, z. B. Anfang 2. Region

In der Musik von Charles Ives verbindet sich die Verwendung und Verarbeitung prägnanter Klangsymbole mit der Entwicklung neuartiger Klangstrukturen. In dem Lied "The Cage" hat der Komponist gezeigt, wwie sich neue Gestaltungsprinzipien in Verbindungen mit inhaltlichen Vorstellungen entwickeln lassen.

Der Text dieses Liedes handelt von einem Jungen, der stundenlang einen gefangenen Leoparden beobachtet, der im Käfig hin- und herläuft. Der Junge fragt:

"I life anything like that?"

Die Beobachtung einer Tierszene wird zur Frage nach dem Sinn des Lebens. Musikalisch artikuliert sich diese Situatio in zwei Klangschichten: Melodie und Harmonie. Die Melodie der Singstimme bewegt sich hin und her in wechselnden Ausschnitten aus Ganztonleitern. Die Harmonie setzt ein mit Quartenakkorden, denen sich an wichtigen Zäsurstellen komplexere Abschlußakkorde anschließen. In verschiedenen Intervallkonstellationen (meistens in übereinandergeschichteten Quarten, gelegentlich auch in Quarten; an hervorgehobenen Stellen auch in dichteren und komplexeren Konstellationen) entwickeln sich harmonische Zusammenhänge - zum Beispiel dadurch, daß die einleitende Akkordfolge mehrmals wiederholt, dann transponiert und verändert wird. Am Schluß des Stückes scheint die Akkordfolge des Anfangs nochmals wiederhzukehren. Sie reißt aber nach dem dritten Akkord jäh ab: Die Frage nach dem Sinn des Lebens findet keine Antwort.

Z: The Cage Schluß: Is life anything like that

Das metaphysische sujet des Liedes "The Cage" hat Charles Ives auch in größeren Dimensionen ausgestaltet, und zwar in seiner Komposition "The unanswered question" für Kammerensemble. In diesem Stück übernehmen die Streicher eine ähnliche Funktion wie die Klavierbegleitung im Lied "The Cage": Die Streicher repräsentieren die Klangschicht der stummen, rätselhaften Existezn. Die Trompetenrufe stellen die Frage nach dieser Existenz - nach Unterbrechungen immer wieder neu ansetzend, kaum verändert. 4 Flögten stteln die Jagd nach einer Antwort dar, die jeder Frage folgt - und die von Mal zu Mal immer hektischer und heftiger wird. Nach mehreren Interventionen kommt es so weit, daß die Flöten plötzlich auf einem leisen, tiefen cluster innehalten - sich gleichsam untereinander beratschlagen. Dies führt dann im Folgenden zu einem letzten Ausbruch, der mit einer Verspottung der Frage beginnt und extrem laut in höchster Tonlage endet. Danach verstummen die Flöten. Schließlich bleiben nur noch die Streicher übrig, deren langgezogene Töne und Akkorde sogar den letzten, unbeantwortet bleibenden Frageruf der Trompete überdauern.

Die Klangschicht der Streicher ist tonal komponiert, die Klangschicht der Flöten atonal. Die Trompete artikuliert eine Zwischenform: Sie stellt in chromatisch gespannten Intervallen die Harmonien der Streicher gleichsam in Frage. So verbindet sich die Darstellung eines komplexen metaphysischen sujets mit neuen musikalischen Gestaltungsideen.

Z: The unanswered question (größerer Zus. hang oder evtl. vollst.; evtgl. 2. Teil NoKo)

"The unanswered question" ist ein Schlüsselwerk der Musik des 20. Jahrhunderts. Die Frage nach dem Sinn des Lebens konkretisiert sich hier zur Frage nach dem Sinn der überlieferten musikalischenh Gestaltungsmittel und nach der Möglichkeit, Neues zu entdecken. Wie wichtig diese rein innermusikalischen Aspekte sind, hat Ives auch dadurch hervorgehoben, daß er zu diesem Werk ein Gegenstück geschaffen, das in seiner Kompositionstechnik eng verwandt ist, aber unter dem Aspekt der Bedeutung zu ihm deutlich kontrastiert. Dieses Gegenstück ist die Komposition "Central Park in the Dark" für Orchester. Was in der "Unanswered Question" als ernstes metaphysisches Problem dargestellt war, ist hier zur Klanggeschichte geworden: Die ständig hörbare Klangschicht der Streicher - ein Klangbild der Nacht im Central Park - ist hier nicht tonal, sondern atonal ausgestalltet, in Verbindung mit einfachen rhythmischen Prozessen der Beschleunigung und VErlangsamung, die die Formentwicklung ähnlich wie Vorgänge des Ein- und Ausatmens prägen. Als kontrastierende Elemente kommen nach einiger Zeit andere Orchesterinstrumente hinzu - einschließlich zweier Klavier, die damals - 1906 - moderne ragtime-music spielen. Die zu den Streichern hinzutretenden Instrumente stellen nächtliche Geräusch- und Musikereignisse dar. - Auch in diesem Stück hat Charles Ives eine großangelegte Bogenform komponiert, die bis zu einem Höhepunkt führt -- hier als Klangbild nächtlicher Turbulenzen in der belebten Großstadt - und anschließend zur ruhigen Grundstimmung des Anfangs zurückkehrt. Auch in diesem Stück wird der neuartige Ansatz von Charles Ives deutlich: Die aufmerksame Beobachtung der Hörwelt, die uns umgibt, inspiriert die hantasie zur Entwicklung neuer Klangstrukturen und Klangprozesse. Neue Musik wird hier zur tönenden Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit.

Z: Central Park in the Dark (vollst. oder Ausschnitt, z. B. Klett)

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