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7.36.1 Elektronik - Live?


Rudolf Frisius

Elektronik - Live?

Paradoxien in der Musikentwicklung des 20.Jahrhunderts:

Das Problem der Live-Elektronik als "Unanswered Question"

Elektronik - Neue Medien - "Zweite Moderne": Ambivalenzen

Für ihr neues Programm hat die New Yorkerin, die... 1981 mit ihrem Song "Oh Superman" über Nacht zum Multimedia-Popstar geworden war, die Technik auf ein Minimum reduziert. Sich selbst auf der Bühne mixend, benötigt sie diesmal keine Trucks mit Equipment, genügen ihr das Mikrophon, ein Keyboard und die Geige für spannende 90 Minuten. Auf eine Bühnenvisualisierung... verzichtet Laurie Anderson diesmal.

Mit diesen Worten wird im Sommer 1997 eine gewandelte Laurie Anderson annonciert - in einem Ankündigungstext ihrer Performance "The Speed of Darkness", der die Bedeutung der Technik in ihrer Musik zugleich hoch- und herunterspielt. Die Zeiten scheinen sich jetzt gewandelt zu haben: Aufwendiges technisches Outfit, das noch 1981 maßgeblich zum Welterfolg beigetragen hatte, wird 16 Jahre später offensichtlich nicht mehr so wichtig genommen, oder es wird sogar umfunktioniert zur Medienkritik mit Medien. Dies bekräftigt Laurie Anderson selbst: Ich liebe Elektronik, weil sie fasziniert, und ich hasse sie, weil ihr ein enormes Potential innewohnt, die Menschen voneinander zu isolieren.

Noch deutlicher als in der Popularmusik zeigt sich die Trendwende in der "Neuen Musik" im engeren Sinne, in der avantgardistischen E-Musik. Während 1997 Laurie Anderson, trotz technischer Reduktion, noch unbeirrt am technisch produzierten und übermittelten Klang festhält, hat in demselben Jahr York Höller, der seit den siebziger Jahren vor allem durch die Integration elektronischer Klangmittel in seine Kompositionen bekannt geworden ist, seine Vorliebe für ein traditionelles Instrument par excellence bekräftigt: für das Klavier. In einem Ankündigungstext für seine neue "Partita für zwei Klaviere" schreibt er: Meine PARTITA... ist... meine siebte Komposition für Klavier, das Instrument, mit dem ich mich in meiner kompositorischen Existenz auch heute noch tiefer verbunden fühle als mit Synthesizer und Sampler.

In seinem Bekenntnis zum Klavier und zur neuen Klaviermusik beruft Höller sich auf die europäische Musiktradition von Bach bis Boulez. Wichtiger als selbst seine eigenen Arbeiten auf dem Gebiet von elektronischer und Computer-Musik, wichtiger als die Entdeckung neuer Klänge und Geräusche erscheint ihm die Integration des (aus der Tradition übernommenen oder neuartigen) Klangmaterials in einen musikalischen Zusammenhang, mit anderen Worten: die Form (oder Klang-Gestalt), und diese Form glaubt er offensichtlich auch mit konventionellen Klangmitteln erreichen zu können.

Die Programmankündigungen für die im Herbst 1997 in Karlsruhe annoncierte "Multimediale" machen deutlich, daß in den späten neunziger Jahren auch außerhalb der Musik, vor allem im atraktiven Bereich der visuellen Künste, neue Medien unter Perspektiven effektvoller Ambivalenz zur Diskussion gestellt werden. Der Festival-Vorprospekt verheißt dem Besucher des neuen Karlsruher Medienmuseums Beiträge zur Faszination und zu den Gefahren der Medienwelt. Die Paradoxie der museifizierten Aktualität beleuchtet ein Vortrag Zur Archäologie der Kunst durch Medien. Andererseits wird, zumindest in Frageform, eine überschwengliche Hoffnung ausgesprochen - die Hoffnung auf das Licht der Zukunft, das die gegenwärtige Finsternis erleuchten soll: Karlsruher Hochschulprofessoren und Medienkünstler diskutieren über die Frage: Kann die Medienkunst die Kunst retten? Die Zuversicht steigert sich, wiederum in Frageform, über die Grenzen der Kunst hinaus im Versuch einer allgemeineren Positionsbestimmung zur Jahrhunderwende: Angekündigt wird eine Diskussion zum Thema Ende des Jahrhunderts - Ende der Zuversicht? Der Begleittext fragt: Die Fin-de-siècle-Stimmung suggeriert, daß wir uns im allgemeinen Niedergang befinden: ökonomisch, ökologisch, kulturell - im Dämmerlicht des neuen elektronischen Zeitalters. Oder gibt es Gründe für einen neuen Aufbruch?

Thomas Assheuer hat in der Wochenzeitschrift DIE ZEIT Kritik an dem von Heinrich Klotz kreierten (und für sein Engagement im Bereich neuer Medienkunst maßgeblichen) Begriff der "zweiten Moderne" angemeldet unter dem Titel "Im Prinzip ohne Hoffnung": Die zweite Moderne: das ist eine ruhelose Übergangsgesellschaft, ein Wechselbad aus Zerstörung und Innovation, aus Anfängen ohne Ende... Ein Sturm der Individualisierung hat vertraute Lebenswelten zerstört: die Biographien der Menschen zerbröckeln in traurige Episoden und farbidentische Einzelheiten. Machtlose Politik und Herrschaft des Geldes, zerbrochene Traditionen und ökologischer Selbstmord: das sind die kümmerlichen Wahrzeichen einer Weltgesellschaft am Ende eines kurzen Jahrhunderts.

Politik und Gesellschaft, die Künste und insbesondere die Musik entwickeln sich auch unabhängig von kontroversen Bilanzen am Ende eines Jahrhunderts oder Jahrtausends. Dies relativiert gerade heute den Wert nostalgischer oder zukunftsfroher Manifeste. In verschiedenen Erfahrungsbereichen der aktuellen Musik, die in der allgemeinen kulturellen und gesellschaftskritischen Diskussion nicht immer angemessen berücksichtigt werden, spricht gleichwohl vieles für die Notwendigkeit einer Zwischenbilanz, die auch weiter zurückliegende Entwicklungen nochmals unter aktualisierten Perspektiven reflektiert.

Musik und Technik:

Im Spannungsfeld zwischen Kommunikation und Isolation -

Diesseits und jenseits der Live-Erfahrung

Schlagworte wie "Elektronik" und "Live-Elektronik" werfen ein Schlaglicht auf Probleme in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts, die diese in der zweiten Jahrhunderthälfte nicht weniger nachdrücklich geprägt haben als vorher, in der ersten Jahrhunderthälfte, die Suche nach Alternativen zur überlieferten Tonalität. Neue Musik verstörte anfangs als Absage an eine überlieferte Musiksprache; später stellte sie darüber hinaus in Jahrhunderten und Jahrtausenden gewachsene Konventionen der Musikübermittlung, des Musikmachens und Musikhörens in Frage.

Die Veränderungen der musikalischen Erfahrung in der ersten Jahrhunderthälfte lassen sich am leichtesten aus der Perspektive des Komponisten beschreiben; in der zweiten Jahrhunderthälfte ergeben sich darüber hinaus entscheidende Veränderungen aus der Perspektive des Hörers. Die mit Charles Ives und Arnold Schönberg einsetzende Revolutionierung des kompositorischen Denkens stellte zunächst die überlieferten Klangmittel nicht grundsätzlich in Frage. Erst die musiktheoretisch-ästhetischen Spekulationen von Feruccio Busoni und die nachhaltigen Spuren, die sie später in der Arbeit von Edgard Varèse hinterließen, zeigten in ersten Ansätzen, daß radikale musiksprachliche Veränderungen die Situation nicht nur des Komponisten und des Interpreten, sondern auch des Hörers radikal verändern können - daß, zugespitzt gesagt, neue technische Bedingungen, vor allem die Elektrizität, die Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts weitreichender verändert haben als etwa die Erfindung der Tonreihe oder der seriellen Struktur.

In den theoretischen Spekulationen von Feruccio Busoni und in den von ihnen inspirierten Theorien und Kompositionsverfahren von Edgard Varèse geht es in erster Linie um die Befreiung der schöpferischen Phantasie von aus der Tradition übernommenen Materialien und Materialstrukturen. In Frage gestellt werden nicht nur die traditionellen Tonbeziehungen, die überlieferten Intervalle und Tonleitern, sondern auch die überlieferten Klangfarben, die traditionellen Instrumente. Der elektrisch erzeugte, in verschiedenen Eigenschaften technisch exakt regulierbare und daher vom Komponisten frei gestaltbare Klang erschien als ideales Ausgangsmaterial künftiger musikalischer Gestaltung. Dies eilt den realen Möglichkeiten so weit voraus, daß es über Jahrzehnte hinaus, bis in die späten vierziger Jahre, offen bleiben muß, ob die neuen klanglichen Möglichkeiten allein mit neuen Instrumenten, mit elektronischen Spielinstrumenten voll ausgeschöpft werden können. Von Instrumenten gespielte elektronische Klänge, wie sie seit den dreißiger Jahren in Kompositionen etwa von Edgard Varèse und Olivier Messiaen verwendet werden, verweisen eher auf eine Erweiterung als auf eine grundsätzliche Veränderung der tradierten instrumentalen Praxis. Sie änderten aber zunächst noch nichts an der Situation, daß eine Musik, die der Komponist im voraus schriftlich fixiert hatte, nur durch die Mitwirkung von Interpreten zum realen Erklingen gebracht werden konnte, daß also die Möglichkeit des Hörens an die Aktionen eines oderer mehrerer musikalischer Interpreten gebunden blieb. Erst später sollte deutlich werden, daß die neuen Möglichkeiten der technischen Klanggestaltung viel deutlicher hervortraten, wenn sie nicht nur an live gespielten, also gleichzeitig produzierten und gehörten Klängen erprobt wurden, sondern auch an technisch konservierten und reproduzierbaren Klängen.

Gerade in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts ist deutlich geworden, daß sich musikalische Neuerungen nicht allein aus der theoretischen, über Vorgegebenes verallgemeinernd hinausdenkenden Spekulation ergeben können, sondern daß sie intensiver experimenteller Erfahrungen bedürfen. Dies wurde deutlich, wenn schon seit den zwanziger Jahren nicht nur nach neuen Möglichkeiten der Klangproduktion gesucht wurde, sondern auch nach Alternativen zur üblichen Live-Musikpraxis. Ansätze hierfür gab es schon in Erfindungen früherer Jahrhunderte: Klang- und Musik-Automaten stehen in einer reichen Tradition von Klangerzeugern, deren Klänge der Mensch nicht mehr im Moment des Erklingens selbst hervorbringen muß, sondern die er, als fertig vorgegebene, abrufen kann. Von ihnen ist eine Entwicklung ausgegangen, deren Spuren sich bis in neue automatisierte Musik und bis in die Entwicklung moderner Klanginstallationen verfolgen lassen.

So ergaben sich neue Möglichkeiten auch für die Komponisten: Sie konnten Werke auch im konkreten Klangbild fixieren - nicht nur im geschriebenen Notentext, der auf die live-Aufführung und auf die Unbestimmtheiten musikalischer Interpretation angewiesen blieb. Hier zeigen sich Spuren alternativer musikgeschichtlicher Entwicklungen im 20. Jahrhunderts, die ausgehen von den zwanziger Jahren und bis in die neunziger Jahre führen (etwa in den frühen zwanziger Jahren mit Versuchen von Igor Strawinsky für seine Komposition "Les Noces"; 1926 in einer Uraufführungsserie auf den Donaueschinger Musiktagen mit Originalkompositionen für mechanische Instrumente von Ernst Toch, Gerhart Münch und Paul Hindemith; 1994 am gleichen Ort mit historischen und aktuellen Präsentationen der "Musica mechanica" mit Arbeiten u. a. von Conlon Nancarrow, Peter Vogel, Tom Johnson und Werner Heisig, im folgenden Jahr am gleichen Ort noch weiter geführt mit der Integration von Computerflügel und lichtinszenierter Raumklanginstallation in Sabine Schäfers "Topophonicplateaus").

Musikautomaten und Klanginstallationen ermöglichen vielfältige, an traditionelle Vorbilder anknüpfende Alternativen zur traditionellen, an die Live-Interpretation gebundenen Musikpraxis. Dabei kann deutlich werden, daß musikalische Live-Erfahrung auch auf anderen Wegen zustande kommen kann als in der konventionellen Live-Interpretation. Darauf hat Bill Fontana hingewiesen, als er 1995 seine für die Donaueschinger Musiktage bestimmte Klangskulptur "Returning Landscapes" realisierte: Am schwersten für die Hörer ist es, zu begreifen, daß meine Arbeit immer live ist. Sie denken meistens, daß ich mit zuvor aufgenommenen Klängen arbeite. Aufnahmen verwende ich nur zu Dokumentationszwecken und Studium, und obwohl gelegentlich aufgezeichnete Klänge in meinen Installationen zu finden sind, ist die Arbeit mit live übertragenen Klängen von zentraler Bedeutung. Fontanas Ansatz ist die radikale Gegenposition zur Arbeit mit technisch reproduzierbaren Klängen. Obwohl er mit modernen Techniken arbeitet, interessiert ihn nicht das beliebig Reproduzierbare, sondern das Hier und Jetzt der Klänge: In den letzten 25 Jahren bestand meine Arbeit aus einer ständigen Erforschung der ästhetischen Bedeutung von Klängen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt passieren... Dies erreiche ich durch das Installieren von Mikrophonen, die simultan von bestimmten Standorten auf der ganzen Welt an eine Empfangs-/Hörzentrale senden: den Ort der Klangskulptur und der Radioübertragung. Fontana setzt moderne Technik ein, um Klänge zugänglich zu machen, die auch ohne Mitwirkung menschlicher Interpreten, ohne kompositorisch oder improvisatorisch inszenierte Klangaktionen zustande kommen. Sein Ideal ist nicht die künstliche, sondern die natürliche Live-Erfahrung: Technik öffnet den Weg zur Natur. In seinen Auffassungen vom Wesen des Klanges und von der musikalischen Funktion der Technik stimmt er offensichtlich mit seinem großen Landsmann John Cage überein, obwohl er (da er sich dessen Ästhetik des abstrakt zu organisierenden Zufalls nicht zu eigen macht) zu ganz anderen kompositorischen Konsequenzen gelangt: Er verzichtet darauf, die auf technischem Wege übermittelten Klänge abstrahierend zu isolieren; statt dessen potenziert er die Möglichkeiten integrativer Erfahrung in Klangmischungen, die das hier und jetzt Erfahrbare potenzieren - in "Ohrbrücken" zwischen verschiedenen Kontinenten, zwischen verschiedenen Stationen eines großen Flusses (von der Quelle bis zur Mündung) oder zwischen variabel eingespielten transatlantischen Verkehrsgeräuschen, die sich mit dem Alltagslärm einer Kölner U-Bahn-Station mischen.

Bill Fontana hat technische Möglichkeiten der künstlerischen Gestaltung zugänglich gemacht, an die zuvor nur wenige Komponisten gedacht hatten: In erster Linie geht es ihm nicht um die klangliche Konservierung, auch nicht um die klangliche Verfremdung, sondern um die möglichst "naturgetreue" Aufnahme und Mischung von räumlich getrennten Hörereignissen. Seine Produktionen kombinieren die Überwindung des "Hier" mit der Konzentration auf das "Jetzt". So entsteht eine Live-Erfahrung neuer Art, die deutlich kontrastiert zum traditionellen Live-Erlebnis mit seiner unauflöslichen Integration von Hier und Jetzt.

Die Frage stellt sich, ob und inwieweit Bill Fontana mit seinen Hyper-Live-Techniken Auswege aus bestimmten Paradoxien zu finden vermag, die sich in von moderner Technik geprägten Hörsituationen häufig ergeben: Die Konfrontation von Faszination und Isolation, die Laurie Anderson dem Hörer im Zeitalter der Neuen Medien attestiert, versucht Bill Fontana zu überwinden, indem er den Hörer weltweit vernetzt. Vielleicht hofft er, den vor den Lautsprechern isolierten Hörer aus seiner Isolation zu befreien durch die Demonstration, daß zu jedem Zeitpunkt etwas Bedeutungsvolles zu hören ist. Mit diesem dokumentarischen Optimismus bezieht Fontana eine unzweideutige Position im Meinungsstreit über Nutzen und Nachteile moderner Medien für das Leben im zu Ende gehenden 20.Jahrhundert - einem Jahrhundert, dessen Entwicklung auch Anlaß zu anderen Positionen gegeben hat.

Moderne Medienkunst: Utopie oder Apokalypse?

Live-Klänge contra technisch vorproduzierte Klänge:

Eine skandalumwitterte "Szenische Nachtaufführung"

Mit solcher "Musik" könnte einer eines Tages einen Krieg entfesseln. (Oder doch ein Pogrom...)

Als Walter Dirks 1953 voller Entsetzen diesen Satz schrieb, hatte er sicherlich noch in präziser Erinnerung, welche Musik in jüngster Verganhenheit noch in seinem eigenen Lande, in einer Zeit des Pogroms, des Krieges und des Massenmordes, erklungen war. Sein Entsetzen richtete sich gleichwohl nicht gegen Militärmärsche und rassistische Hetzlieder, sondern gegen eine Uraufführung auf einem Festival Neuer Musik: Die "Donaueschinger Musiktage für zeitgenössische Tonkunst" hatten am 10. Oktober 1953 eine "Szenische Nachtaufführung" unter dem Titel "Orphée" präsentiert. Damit kam auf diesem Festival erstmals eine neuartige Musikart zum Zuge, die Pierre Schaeffer, der Hauptverantwortliche dieses Projektes, 1948 erfunden hatte: Eine Musik, die ausschließlich mit aufgenommenen Klängen arbeitetet und deswegen nicht mit Interpreten aufgeführt, sondern nur über Lautsprecher wiedergegeben werden kann. So erklärt sich, daß die ersten öffentlichen Präsentationen nicht in Konzerten, sondern in Radiosendungen stattfanden.

Pierre Schaeffer hatte diese Musik erfinden und am Pariser Rundfunk institutionell etablieren können, weil er sich zuvor in den Jahren der deutschen Okkupation als Mitglied der Resistance mit experimenteller Hörspiel- und oppositioneller Radioarbeit verdient gemacht und anschließend im Radio des befreiten Frankreich wichtige Funktionen übernommen hatte. Ausgerechnet er, in dessen Hörspiel- und Kompositionsarbeit traumatische Erinnerungen an die Kriegsjahre starke Spuren hinterlassen haben, mußte es sich gefallen lassen, daß ein deutscher Kritiker seine Arbeit in die Nähe des Faschismus rückte.

Wenn man die heftige polemische Wut, die Pierre Schaeffer in Donaueschingen provozierte, verstehen will, muß man sich klar machen, wie radikal seine konkrete Musik schon in den Anfangsjahren mit allen Ritualen des Konzert- und Festivalbetriebes gebrochen hatte. Die öffentliche Aufführung dieser technisch produzierten Musik war von Anfang an ein Skandalon und ist es weithin auch bis heute geblieben. Dies läßt sich schon an den Worten beschreiben, mit denen Schaeffer später, in der Einleitung eines Buches über die "Musique concrète", das erste Konzert mit dieser Musik beschreibt:

Am 18. März 1950 war das Stammpublikum des "Triptyque" zu einem "Ersten Konzert mit Musique concrète" in den ehrwürdigen Saal der Ecole Normale de Musique eingeladen. Die Gäste dieses Abends waren die ersten, denen etwas für Konzertbesucher Wesentliches vorenthalten wurden: es saßen keine Musiker auf dem Podium. Diese Gäste erlebten auch als erste eine Probe des noch Ungehörten: nicht nur bislang niegehörte Klänge, sondern auch Klangverbindungen, von denen sich nicht sagen ließ, ob sie vorherbestimmten Gesetzen von Komponisten folgten, oder ob sie einfach dem Zufall entsprungen waren.Und wenn von dieser neuen Sprache ein Bann ausging, so war sie doch auch befremdlich, um nicht zu sagen ungehörig. Handelte es sich überhaupt noch um eine Sprache?

Hauptwerk des Abends war die "Symphonie pour un homme seul" ("Symphonie für einen einsamen Menschen"), eine Gemeinschaftsarbeit von Pierre Schaeffer und dem jungen Pianisten, Schlagzeuger und Komponisten Pierre Henry, der bei Olivier Messiaen studiert hatte. Den Titel seines Werkes hat Schaeffer nicht nur auf das verwendete Klangmaterial bezogen, sondern auch auf die Situation des Hörers. Er schreibt:

Die Bezeichnung "homme seul" hat ihre Berechtigung sowohl vom Rückgriff auf das vom Menschen imitierte Geräusch als einziger Quelle wie von der Einsamkeit der Autoren her, die ein Widerhall der Einsamkeit des heutigen Menschen ist, der sich in der Masse verloren sieht.

Als 1953 "Orphée", das zweite große Gemeinschaftswerk von Pierre Schaeffer und Pierre Henry, in Donaueschingen zur Aufführung anstand, deutete Pierre Schaeffer in einer Programmnotiz dieses Werk ähnlich wie zuvor die Symphonie. Er schrieb:

Die Tragödie der Einsamkeit wird in unserem "Orpheus 53" mit stärkeren, heftigeren Mitteln dargestellt,

als sie selbst das große klassisch-romantische Symphonieorchester bietet.

Dieser selbstbewußten Charakterisierung der Ausdruckskraft konkreter Klänge folgte allerdings eine Einschränkung, die vielleicht im voraus die zwiespältigen und widersprüchlichen Eindrücke zu erklären vermag, die die damalige Uraufführung später provozieren sollte:

Aber auch auch diesen gesteigerten Ausdrucksmöglichkeiten gebietet die souverände Herrschaft der menschlichen Stimme, die auch ihnen gegenüber ein neues und überraschendes Gleichgewicht schafft.

Schaeffer wollte sich also nicht mit neuartigen, über Lautsprecher wiedergegebenen Klängen begnügen, sondern sie verbinden mit konventionellen Gesangs- und Instrumentalpartien. Dies führte zu problematischen ästhetischen Kompromissen, mit denen der jüngere, radikalere Pierre Henry durchaus nicht einverstanden war. Der spektakuläre Skandal, den das Werk auslöste und von dem sich die Musique Concrète, zumindest in Donaueschingen oder sogar in ganz Deutschland, bis heute nicht erholt hat, läßt sich so auf zwei gegensätzliche Gründe zurückführen: Schaeffers Rückkehr zu traditionellen Gesangs- und Instrumentalpartieren wurde als reaktionär oder gar dilettantisch kritisiert, während die konkreten Klänge, vor allem das von Pierre Henry allein verantwortete, gigantisch kühne und furiose Finale, wegen ihrer radikalen Neuheit heftigste Reaktionen bei Publikum und Kritikern provozierten. Wie gründlich es dieser Musik gelungen war, sich von den bei konservativer Kulturkritik beliebten Idealen des Wahren, Guten und Schönen zu distanzieren, belegt die moralisierende Kritik von Walter Dirks am konkreten Musiker der Zukunft:

Ob er mit den gleichen Mitteln auch ein Herz zu trösten (oder eine Wahrheit aussagen) könnte,

ist recht fraglich.

Ich wage nicht zu sagen, ob die Möglichkeiten, die sich hier auftun,

für die eigentliche Kunst irgendwie bedeutsam werden können; ...

für die Anwendung kunstähnlicher Mittel... bietet das Verfahren ganz gewiß

geradezu ungeheuerliche Möglichkeiten.

Was Walter Dirks 1953 prophezeite, hat 43 Jahre später Josef Häusler, der verdienstvolle Historiker und langjährige Hauptverantwortliche der Donaueschinger Musiktage, als apodiktisches Werturteil wiederholt, als sei das Prophezeite tatsächlich eingetreten. Häusler schreibt im Rückblick auf 1953:

Jedenfalls ist danach trotz mancher Anstrengungen kein Werk der "Musique concrète" von absolut musikalischem Rang mehr entstanden.

Mit einen einzigen Satz urteilt Josef Häusler hier nicht nur über ein einzelnes Werk, sondern über ein in knapp einem halben Jahrhundert riesig angewachsenes Repertoire (dem übrigens auch ansonsten unumstrittene Meisterwerke wie "Omaggio a Joyce" von Luciano Berio und weite Teile von Karlheinz Stockhausens "Hymnen" zuzurechnen sind). Er beruft sich dabei auf einen Skandal, in dem es eigentlich nicht nur um den Wert dieser Musik, sondern um allgemeinere Probleme der Vermittlung technisch produzierter Musik geht: "Orphée 53" ist problematisch vor allem im klanglichen Verhältnis zwischen dem traditionellen Gesang und Instrumentalspiel einerseits und den technisch produzierten Klängen andererseits. Schaeffer mußte es teuer bezahlen, daß er in Donaueschingen sich als erster an dieses Problem herangewagt hatte. Mit den Schwierigkeiten, denen er sich aussetzte, haben sich später auch viele andere auseinandersetzen müssen - freilich nicht zu einem so hohen Preis.

Live-Klänge als Mittelweg: Auf der Suche nach einer "verlebendigten" Elektronik

Sehr aufschlußreich ist es, wenn man "Orphée 53" vergleicht mit einem womöglich noch weiter ambitionierten Projekt, das 5 Jahre später in Donaueschingen vorgestellt wurde: "Poésie pour pouvoir" von Pierre Boulez. Im Kommentar zur Uraufführung dieses Stückes heißt es:

"Poésie pour pouvoir" ist der Titel des Gedichts von Henri Michaux, um das herum sich die Musik entwickelt. Der Text wird gesprochen; er wurde vorher auf Tonband aufgenommen, und er stellt die Verbindung zwischen den beiden musikalischen Elementen des Stückes her: den orchestralen und den elektroakustischen. Orchester und Lautsprecher sind in einer Spirale aufgestellt, eine Anordnung, die ebenso den inneren Aufbau des Werkes bestimmt, wie den Raum, in dem es erklingt.

Das am 19. Oktober drei Mal gespielte Werk hatte ein ähnliches Schicksal wie zuvor "Orphée 53": Als Versuch einer Synthese des live Erklingenden und des technisch Vorproduzierten - des Vokalen, Instrumentalen und Elektronischen - hat es sich nicht durchgesetzt. Pierre Boulez hat seine Komposition zurückgezogen. Josef Häusler, der diese Sperre gegen das von ihm hochgeschätzte Werk lebhaft bedauert, hat immerhin erreicht, daß Boulez 23 Jahre später in Donaueschingen den ersten Ansatz einer neuen Synthese präsentierte, der nunmehr im Verzicht auf literarische Sprache ästhetisch weniger ambitioniert erschien, aber andererseits in den Synthese von Instrument und elektronischem Klang mit viel differenzierteren Möglichkeiten der modernen Computertechnologie arbeiten konnte. In der Programmnotiz zur Donaueschinger Uraufführung am 18. Oktober 1981 heißt es:

Die elektroakustische Behandlung, die bei den Klängen der Solisten zu dreifacher Stufung führt (Normalklang, Verstärkung, Transformation), erhöht die Komplexität im Spiel der Antiphonien zwischen den reinen Instrumentalklängen des Kammerensembles und den künstlichen Klängen der Tonbänder.

"Poésie pour pouvoir" und "Répons" sind wichtige Stationen in der kompositorischen Entwicklung von Pierre Boulez, die, jede in ihrer Weise, das Spannungsverhältnis zwischen konventioneller und technisch vermittelter Klangwiedergabe charakteristisch beleuchten. Während das erstere Werk zurückgezogen wurde und nur noch auf einer historischen Mono-Aufnahme der Uraufführung dokumentiert ist, hat Boulez das letztere, als "work in progress", nach der Donaueschinger Uraufführung noch beträchtlich erweitert (ohne daß bis heute eindeutig geklärt wäre, ob er es inzwischen als endgültig vollendet ansieht). In beiden Werken ist auffällig, daß eine überaus differenzierte orchestrale Schreibweise sich verbindet mit vergleichsweise einfacheren elektroakustischen Klangstrukturen.

In "Poésie pour pouvoir" ist der aufgenommene Sprechtext (mit der Rezitation eines Gedichtes von Heni Michaux) nur in einfachster Weise elektroakustisch verarbeitet - weit entfernt beispielsweise von der vielschichtigen Komplexität, mit der Karlheinz Stockhausen in seinem "Gesang der Jünglinge" den aufgenommenen Gesang einer Knabenstimme verarbeitete; weit entfernt auch von den differenzierten elektronischen Verarbeitungen eines rezierten Textes, die Luciano Berio in seiner Tonbandkomposition

"Tema - Omaggio a Joyce" vorgenommen hat. Auch die rein elektronischen Klänge, die Boulez in mehreren kurzen Sequenzen von "Poésie pour pouvoir" verwendet, sind relativ einfach konturiert, entwickeln sich nur langsam in wenigen, leicht wiedererkennbaren Klangtypen. Was Boulez an diesem Werk mit seinem monumentalen Synthese-Ansatz unbefriedigt ließ, läßt sich erschließen, wenn man seine weitere Entwicklung verfolgt: Die Idee der Synthese blieb auch für sein weiteres Schaffen maßgeblich. In der Folgezeit hat er aber die Fülle der kompositorisch miteinander zu vermittelnden Klangmaterialien beträchtlich reduziert: In seinem monumentalen Mallarme-Zykklus "Pli selon Pli" entfällt die Dimension des elektronisch geformten Klanges, während andererseits in der Verbindung von Gesang und Orchester differenziertere Synthesen von Text und Musik, des Vokalen und des Instrumentalen gelingen. In "Répons" entfällt die Dimension des literarischen Textes, und auch die elektroakustische Klangverarbeitung erscheint in offensichtlich reduzierter Funktion, da sie nur für die kurzen Soloepisoden angewendet wird, nicht aber für die viel umfangreicheren, kompositorisch wesentlich komplexeren Tuttiabschnitte. (Boulez selbst hat einmal die Formdisposition dieses Werkes als "Concerto grosso" charakterisiert. Die Live-Elektronik mit klanglicher Verwandlung und freier räumlicher Bewegung der Klänge beschränkt sich also auf wenige Instrumente und Formteile.) Auch an anderen Kompositionen von Boulez läßt sich belegen, daß er die live-elektronische Verarbeitung vorzugsweise für im voraus auskomponierte instrumentale Strukturen anwendet, sei es in rein solistischen Werken (z. B. "Dialogue de l´ombre double" für Klarinette und Live-Elektronik), sei es in kleineren Besetzungen (z. B. die 1973 uraufgeführte Donaueschinger Fassung von "explosante-fixe"; weder diese Fassung noch die 1987 realisierte Version mit Solovibraphon hat der Komponiert als definitive Lösungen akzeptiert und erst 1991 eine wiederum neue Fassung zur Veröffentlichung auf CD freigegeben).

Bemerkenswert ist, daß Pierre Boulez zwar schon in den Jahren 1951 und 1952 seriell rigoros auskonstruierte reine Tonbandmusik realisierte, daß er aber in der Folgzeit lange Zeit gezögert hat, sich mit den neuen Möglichkeiten der elektronischen Studioproduktion in der eigenen kompositorischen Praxis auseinanderzusetzen. Gegenüber der rein elektronischen Musik ist er stets skeptisch geblieben. Für ihn war und ist Musik nicht vorstellbar ohne die lebendige Interpretation. So erklärt es sich, daß sowohl in seiner eigenen Arbeit als auch in den Produktionen des lange Zeit von ihm geleiteten Pariser Forschungsinstituts IRCAM die Live-Elektronik eine wesentlich größere Rolle spielt als die Auseinandersetzung mit im Studio produzierten synthetischen Klängen. In dieser Perspektive erscheint das Bekenntnis zur Live-Elektronik als Versuch, zwischen alten und neuen Formen der Klangproduktion und Klangübermittlung einen Kompromiß zu finden - einen Kompromiß, bei dem meistens der rein instrumentale Gestus unverkennbar stärker bleibt als die Kraft der elektronischen Verwandlung: Die live-elektronischen Techniken der Ringmodulation, der Verzögerung und der räumlichen Bewegung lassen sich meistens wesentlich leichter identifizieren und ergeben im Höreindruck, trotz womöglich erheblichen technischen Aufwandes, wesentlich einfachere Resultate als die meisten kompositorischen Transformationen in der Notation für konventionelles Instrumentarium.

Experimentelle Live-Elektronik

Während die Live-Elektronik im oeuvre von Pierre Boulez vor allem als Kompromiß zwischen konventioneller und modern technifizierter Klanggestaltung erscheint, präsentiert sie sich bei John Cage, dem wohl entschiedensten kompositorischen Antipoden von Boulez, in ganz anderem Licht: Cage hat Gegensätze zwischen live gespielten und im Studio vorproduzierten elektronischen Klangstrukturen im Grunde niemals akzeptiert. Als er anfing, mit technischen Medien zu arbeiten, verwendete er sie zunächst als Musikinstrumente. In der 1939 entstandenen Komposition "Imaginary Landscape No. 1" benutzte er Schallplatten mit (zu Versuchszwecken aufgenommenen) elektronischen Klängen. Da das Klangmaterial fixiert war, konzentrierte Cage in seinen kompositorischen Anweisungen sich darauf, den Schallplattenspieler von einem Interpreten als Musikinstrument neuer Art entdecken zu lassen - nicht nur mit vorgeschriebenen Veränderungen des Lautstärkeverlaufes, sondern auch mit Veränderungen der Abspielgeschwindigkeit (so daß eine feste oder gleitende Tonhöhe verändert, während des Umschaltens von einer Geschwindigkeit zur anderen sogar im Verlauf geändert werden konnte). In "Credo in US" (1942) ging Cage noch einen Schritt weiter und machte Gebrauch von dem Umstand, daß schon die einfachsten Medien vielfältig variables Klangmaterial zur Verfügung stellen: Der Interpret darf selbst auswählen, welche populäre Klassik-Schallplatte er auflegt und nach den Vorschriften der Partitur, in Konkurrenz mit einem live opponierenden experimentellen Schlagorchester, abspielt. Auch fragmentarische Radio-Einblendungen sind klanglich nicht genauer festgelegt, da sie aus während der Aufführung laufenden Radioprogrammen entnommen werden sollen. Diese Möglichkeit wird später zur Basis eines Ensemblestückes neuer Art: In "Imaginary Landscape No. 4 or March No. 2" für 12 Radios mit 24 Spielern (je 2 Spieler pro Radio, wobei der eine die Sendefrequenzen einstellt, der andere die Lautstärken reguliert) agieren ausschließlich Spieler an Radioapparaten, denen ihre Aktionen genau vorgeschrieben sind, ohne daß die klanglichen Resultate vorausgesagt werden könnten (weil sie davon abhängen, was im Moment der Aufführung auf den jeweils eingestellten Radiofrequenzen gerade zu hören ist). Dieses Werk markiert einen Wendepunkt in der kompositorischen Entwicklung von John Cage: Extreme kompositorische Strukturierung löst sich hier völlig von der klanglich antizipierenden Vorstellung des Komponisten und setzt im Wortsinne "unerhörte" Klangstrukturen frei - allbekannte Radioklänge in vollständig verändertem Kontext.

Mit "Imaginary Landscape No. 4" hatte John Cage im Live-Umgang mit technischen Medien eine Extremposition erreicht, die überdies recht genau auf die Möglichkeiten der verwendeten "Instrumente" abgestimmt war: Auf Radioapparaten lassen sich rasche Wechsel zwischen unvorhersehbar verschiedenen Klängen viel leichter einstellen als beispielsweise auf Schallplattenspielern oder auf Tonbandgeräten. Cage trug dem Rechnung, indem er in der Folgezeit für Schallplattenspieler und Tonbandgeräte andere, sich von der Live-Praxis entfernende Produktionsverfahren entwickelte: "Imaginary Landscape No. 5" für 42 beliebige Schallplatten oder "Williams Mix" wurden konzipiert als in einer Partitur in verschiedenen Eigenschaften (Zeitablauf, klangliche Grobcharakteristika) exakt fixierende, aber in den klanglichen Details frei ausgestaltbare Montageanweisungen. So entfernte Cage sich von der Live-Praxis seiner früheren Werke, und er näherte sich Positionen der mit Mikromontagen arbeitenden Tonbandmusik, wie sie - kurz zuvor oder fast gleichzeitig - verschiedene jüngere Komponisten in Pierre Schaeffers Pariser Studio für konkrete Musik eingeführt hatten: Pierre Boulez, Pierre Henry und Karlheinz Stockhausen (der anschließend die - zunächst an konkreten Klängen erprobten - Verfahren der Mikromontage auch auf die elektronische Musik übertrug und dabei konstruktiv radikalisierte).

Antinomien - Versuche der Synthese

In den Jahren 1952 und 1953 war so eine Situation erreicht, in der die Weiterentwicklung der Live-Musikpraxis grundsätzlich in Frage gestellt zu sein schien. Die Komponisten mußten sich entscheiden, ob sie weiterhin am Schreibtisch Partituren für Interpreten schreiben oder sich im Studio selbst um die Realisation der Klänge kümmern wollten. Nachdem Schaeffers Versuch, in "Orphée 53" technisch vorproduzierte mit live erzeugten Vokal- und Instrumentalklängen zu verbinden, bei jüngeren Komponisten (selbst bei seinem Partner Pierre Henry) auf wenig Gegenliebe gestoßen, als ästhetisch disparat und ungelenk verworfen worden war, stellten sich den avancierten Komponisten schwierige Fragen: Sollten sie (wie Pierre Boulez es zunächst versuchte) sich weitgehend oder gänzlich aus der Studioarbeit zurückziehen und vorerst auf Vokal- und Instrumentalmusik konzentrieren? Sollten sie (wie Karlheinz Stockhausen) vokal-instrumentale und elektronische Musik vorerst als völlig verschiedenartige, aber gleichwertige Arbeitsgebiete betrachten - ohne voreilige Versuche einer zunächst noch unmöglich erscheinenden Synthese? Oder sollten sie (wie Pierre Henry) sich ausschließlich auf die Studioarbeit konzentrieren?

Die Situation wurde in den fünfziger Jahren wesentlich kompliziert dadurch, daß selbst im Bereich der (im Studio produzierten) Tonbandmusik erhebliche ästhetische Differenzen sich abzeichneten. Dies zeigte sich besonders deutlich in der kompositorischen Entwicklung von Karlheinz Stockhausen: 1952, in seiner "Konkreten Etüde", hatte er als Ausgangsmaterial noch präparierte Klavierklänge verwendet - also Klänge, die ursprünglich einmal (live) gespielt worden waren, die dann aber anschließend in serieller Verarbeitung ihren ursprünglichen Klangcharakter vollständig verloren hatten. In Stockhausens beiden "Elektronischen Studien" (Studie I, 1953; Studie II, 1954) waren selbst diese letzten Erinnerungen an die live-Musikpraxis getilgt: Die Eigenschaften der Töne und Klänge ergaben sich nicht aus dem Spiel eines Interpreten, sondern aus Einstell- ungen von Apparaten (für Tonhöhen- und Lautstärkewerte) und aus dem Bandschnitt (für die Zeitwerte).

Um so erstaunlicher war es, daß Stockhausen parallel zur Studioarbeit nach neuen Möglichkeiten instrumentaler Komposition suchte - nach Alternativen zu einer in allen Parametern exakt vorkonstruierten und ausgemessenen Musik. Im einen wie im anderen Falle, in der Studioarbeit ebenso wie beim Schreiben instrumentaler Partituren, versuchte Stockhausen den Rückfall in fragwürdig gewordene Traditionen zu vermeiden und als unzulänglich Erkanntes nicht mehr weiterzuführen. Für ihn kamen weder die Studioarbeit nach empirischen Produktionsmethoden der frühen musique concrète noch die Rückkehr zur strikt fixierten, alle Freiheiten der Live-Interpretation ideell ausmerzenden frühseriellen Instrumentalmusik in Betracht. Um so wichtiger erschien es ihm, gleichwohl in beiden Bereichen ästhetische Erstarrungen aufzubrechen und über die Vereinbarkeit des scheinbar Unvereinbaren nachzudenken.

Stockhausen entwickelte instrumentale Notationsweisen, die dem Spieler größere Spielräume zu spontanen interpretatorischen Entscheidungen gaben, und er erfand Studiotechniken, die dem Komponisten und seinen Mitarbeitern im Studio neue Möglichkeiten der Klang-Veränderung in Live-Aktionen boten (deren Ergebnis dann allerdings aufgenommen und weiter verarbeitet werden konnte). Von verschiedenen Ausganspunkten aus näherte er sich neuen Möglichkeiten der Klanggestaltung, die später, in den sechziger Jahren, in neuen Ansätzen der live-elektronischen Musikpraxis zusammengeführt werden sollten. Bis dahin mußten aber zunächst noch weite Wege zurückgelegt werden. Stockhausen wußte dies, und er hat deswegen auf voreilige Versuche der Synthese verzichtet: Den Plan einer Komposition für Tonband und Instrumente gab er (vor allem im Hinblick auf erhebliche Schwierigkeiten, die beim Versuch der Synchronisation zu erwarten waren) auf, und er komponierte statt dessen die rein instrumentale Komposition "Gruppen für drei Orchester". (Wie schwierig die gleichwertige Verbindung von orchestralen und elektronischen Klängenö tatsächlich ist, zeigte sich später nicht nur in "Poésie pour pouvoir" von Pierre Boulez, sondern auch in den "Rimes" für verschiedene Klangquellen, nämlich Orchester und Elektronik, von Henri Pousseur; die erhaltenen Aufnahmen dieser Donaueschinger Kreationen aus den Jahren 1958 und 1959 zeigen die erheblichen Schwierigkeiten der Erreichung klanglicher und morphologischer Balance). In der Komposition "Kontakte" (1959-1960) suchte er nach Verwandtschaften zwischen elektronisch erzeugten und instrumentalen Klängen, ohne von Anfang an Elektronisches und Instrumentales allzu eng aufeinander abzustimmen und so die wichtigsten Spezifika beider Bereiche leichtfertig zu verwischen. Statt dessen begann er mit mehrjähriger Studioarbeit und kümmerte sich erst nach der Fertigstellung einer umfangreichen autonomen Tonbandkomposition um die (für Konzertaufführungen vorgesehene) Mitwirkung live agierender Instrumentalisten. In realistischer Einschätzung der damaligen technischen und spieltechnischen Möglichkeiten hat Stockhausen eingesehen, daß die Tonbandpartie eindeutig fixiert bleiben mußte, sich nicht den damals in der Instrumentalmusik weit verbreiteten aleatorischen Freiheiten der Formgestaltung anpassen konnte; andererseits hat Stockhausen auch den Versuch aufgegeben, bei der Uraufführung die Wiedergabe des vierkanaligen Tonbandes mit improvisierten Reaktionen von vier Musikern zu kombinieren. Statt dessen schuf er eine Partitur, in der zwei Solisten in genau festgelegter Weise auf die Klänge des Tonbandes reagieren. Das Verhältnis zwischen Tonbandklängen und Instrumentalklängen ist hier genau umgekehrt wie in "Poésie pour pouvoir" von Pierre Boulez: Bei Boulez dominiert die instrumentale Schreibweise, bei Stockhausen die elektronische Klangwelt der Tonbandpartie. An der Dominanz der Elektronik in der Verbindung mit (frei oder determiniert ragierenden) Live-Musikern hat Stockhausen auch in späteren Werken festgehalten: "Hymnen" (1966-1967), "Sirius" (1975-1977), der zweite Akt der Oper "Dienstag aus Licht" und die vollständige Oper "Freitag aus Licht" sind Kompositionen, die zunächst in ihren elektronischen Klangschichten vollständig ausgearbeitet wurden und in denen die begleitenden Live-Partien (mit "natürlichen" und/oder live-elektronisch veränderten Klängen) reaktiv oder kontrapunktisch auf die vorgegebenen Klänge des Tonbandes bezogen sind. Stockhausen trägt so dem Umstand Rechnung, daß im Studio produzierte elektronische Klänge viel subtiler auskomponiert werden können als sie begleitende live-Partien (sogar dann, wenn diese live-elektronische Klänge einbezogen).

In verschiedenen, seit den fünfziger Jahren bis in die neunziger Jahre hinein entstandenen Werken kombiniert Stockhausen elektronische und instrumentale (bzw. vokal-instrumentale) Klänge vor allem additiv - in der Verbindung einer vorgegebenen Tonbandpartie mit später hinzugefügten Live-Partien. In diesen Werken ist der Aspekt der Live-Elektronik weniger wichtig als das, was in der französischen Musiktradition als "musique mixte" bezeichnet wird: Die Kombination oder Konfrontation ursprünglich konträrer Klangwelten. Stockhausen hat alle diese Projekte so sorgfältig vorbereitet und ausgearbeitet, daß das traurige Schicksal von Pierre Schaeffers "Orphée"-Projekt ihnen erspart blieb. So entging Stockhausen manchen Schwierigkeiten, die vor allem die profilierten Exponenten der "Musique concrète" erdulden mußten: Reine Tonbandmusik fand vielfach nicht die ihr gebührende Aufmerksamkeit, weil viele Konzertveranstalter ihrem Publikum Musikdarbietungen ohne live agierende Musiker nicht zumuten mochten. Auch die avantgardistischen Konzertrituale sind vielfach den Konventionen älterer Musik treu geblieben - der Erwartung, daß Musik im Konzert von dort live anwesenden und agierenden Menschen hervorgebracht werden muß; daß man also Musik paradoxerweise nicht nur hören, sondern auch sehen will. In der Kunst der technisch produzierten Bilder, im Film, erwartet niemand, daß die Filmstars während der Vorführung tatsächlich anwesend sind. In der Hörwahrnehmung und insbesondere in der Musik ist es auch in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts noch nicht so weit: Trotz der weltweiten Verbreitung der Musik über Rundfunk und Tonträger, trotz vieler neuartiger Möglichkeiten der Verbindung von Klang und Bild im Tonfilm (insbesondere jenseits einfach abgefilmter Aufführungen), trotz der weltweiten Verbreitung von musikalischen Videoclips, deren Bildgeschehen sich weitgehend von Aufführungssituationen abgelöst hat, haben sich auf den meisten Avantgarde-Festivals die traditionellen Aufführungsriten weitgehend erhalten. Meistens verbinden sich Hörbares und Sichtbares eher in tautologischer Verdoppelung als in kontrapunktischer Ergänzung. In dieser Perspektive könnte man Tonbandvorführungen mit imititativ begleitenden Live-Solisten als aufführungspraktischen Kompromiß beschreiben: Das Publikum wird entschädigt dafür, daß es die eigentlich wichtigen Tonbandklänge hört, ohne den Vorgang der Klangproduktion zu sehen; zum Ausgleich dafür darf es wenigstens Interpreten agieren sehen, die auf die unsichtbaren Lautsprecherklänge live agieren. So können sich Spannungen zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren ergeben. Solche Schwierigkeiten reduzieren sich in dem Maße, in dem die Tonbandklänge an Bedeutung verlieren und die Prozesse der elektronischen Klangerzeugung beschränkt bleiben auf Live-Vorgänge während der Aufführung. So ergeben sich Ansatzmöglichkkeiten für Live-Elektronik als technisch modernisierte Fortschreibung des traditionellen Konzertrituals.

Live-Elektronik ambivalent:

Diesseits und jenseits des Kunstwerks - diesseits und jenseits des Konzertsaals

Die Aufführung bestand nur darin, die Tonbandschleifen auf diversen Geräten auszuwechseln... Auch die Anzahl der Beteiligten und der Geräte trug dazu bei, daß die Aufführung nicht einem bestimmten Plan oder einer Struktur folgte. Eine ähnliche Situation läßt sich auch mit elektronischen Stromkreisen herstellen, indem die Performer der Verstärker manipulieren. Einer arbeitet am Mikrophon oder am Tonkopf, während ein anderer am Verstärker tätig ist. Beiden ist es von vornherein unmöglich, nach einem intentionalen Muster vorzugehen

John Cage hat 1965 in einem Interview über die Uraufführung seiner Komposition "Rozart Mix" gesprochen und seinen Bericht durch einige weiterführende Überlegungen ergänzt: Eine Komposition und ihre Aufführung präsentieren nicht ein geschlossenes Werk, sondern Impulse für weiterführende Ideen. Solche über das einzelne geschlossene Werk hinausführenden Anregungen vermitteln auch andere Werke von Cage, beispielsweise die 1975 entstandene Komposition "Child of Tree". Diese "Kaktus-Musik" hat Cage fünf Jahr später mit folgenden, wiederum über das Stück hinausführenden Worten kommentiert:

Ich benutzte Kakteen für einen Tanz von Merce Cunningham. Ich erzeugte auf Kakteen und anderen Pflanzen Klänge. Das führte zu der Idee, einen Park mit Verstärkern auszurüsten, und darüber hinaus zu einer weiteren faszinierenden Idee: ein Musikstück mit Tieren, mit Schmetterlingen zu machen. Es hört sich phantastisch an, aber es wäre mit unserer heutigen Technik wahrscheinlich machbar.

"Child of Tree" (1975) und die daran anschließende Komposition "Branches" führen Alternativtitel, in denen ein sonst von Cage nicht sonderlich geschätztes Wort auftaucht: "Improvisation Ia" und "Improvisation Ib". Das Klangmaterial und seine live-elektronische Produktion ermöglichen hier Improvisation im Wortsinne, also jenseits der von Cage (und auch von vielen anderen Komponisten seiner Generation, z. B. Boulez und Nono, Xenakis und Stockhausen) verurteilten Improvisationsklischees vorkonditionierter Musiker. James Pritchett hat dies in seiner Cage-Monographie präzisiert: Cage verwendet hier Instrumente, die sich nicht kontrollieren lassen, weil die Klangmaterialien sich gegen vorgeplante musikalische Aktionen sperren. Dies gilt auch für die 1977 entstandene Komposition Inlets "für 4 Ausführende mit Muscheln, die z. T. mit Wasser gefüllt sind, und ein Feuer, live oder aufgenommen". In der Verbalpartitur dieses Stückes heißt es:

Eine beliebige Dauer. 12 mit Wasser gefüllte Conch-Muscheln (Conch-Muscheln sind große sprialförmige Muscheln mit Trichtern): drei sehr große; drei etwas kleinere; drei mittlerer Größere; drei ganz kleine. Jeder Spieler benutzt vier Muscheln und erzeugt "Gluckerklänge"... Die Gluckerklänge müssen mit drei Mikrophonen verstärkt werden...

Die Muscheln, die hier in ähnlicher Weise zum Instrumentalensemble firmiert werden wie die Ambosse in Wagners "Rheingold", konfrontiert Cage mit brennenden Tannenzapfen in einer Dramaturgie von Kampf und Sieg des Wassers über das Feuer: Statt des geschlossenen Werkes komponiert er naturgegebene, im Detail unvoraussehbare, gleichwohl im größeren Zusammenhang klar artikulierte und gerichtete Formprozesse. Die Technik öffnet hier Wege nicht zu artifiziellen, sondern zu natürlichen Klangwelten, und sie entfernt sich dabei von der konventionellen Konzertaufführung. (1992, im Todesjahr von John Cage, wurde "Inlets" nicht im Inneren der Frankfurter Alten Oper aufgeführt, sondern vor dem Eingang des Hauses, auf dem Opernplatz: Die Kläng bewegten sich heraus aus einer etablierten Kultstätte des Musiklebens.)

Wenn John Cage in den siebziger Jahren bei der live-elektronischen Verarbeitung von Naturklängen improvisatorische Freiheiten zuläßt, dann nähert er sich einem Bereich, in dem seit den sechziger Jahren die Live-Elektronik unter ganz anderen Aspekten an Bedeutung gewonnen hat - beispielsweise jenen der Improvisationsgruppe MEV (Musica Elettronica Viva), die Richard Teitelbaum im Gespräch mit Walter Zimmermann beschrieb: Ja, z. B. bei den MEV-Improvisationen, die wir in den 60er Jahren gemacht haben, gab es eine Periode der Entdeckung für uns, die die physischen und psychologischen Effekte des Musikmachens mit elektronischen Instrumenten und Stromkreisen beinhaltete, was dann etwa so aussah: die ganze Erfahrung einer physischen Geste HIER zu machen, die dann auf einen durch einen entfernten Lautsprecher zurückkommt, eigentlich elektronisch in einen Raum transformiert, in einer live Aufführungssituation.

Seit den sechziger Jahren ist deutlich geworden, daß durch Techniken der Live-Elektronik neue Gestaltungsspielräume für ausübende Musiker geschaffen werden konnten - sei es in der Interpretation kompositorischer Vorlagen, sei es in der Improvisation. Dies kann dadurch geschehen, daß der Komponist den Musikern für live-elektronische Aktionen weitgehende Freiheit beläßt, z. B. John Cage, wenn er im "Solo for Voice 8" seiner "Song Books" (1956/62/68/69/70) die Textvorschrift seiner 1962 entstandenen Komposition "0´00´´" übernimmt: Führen Sie in einer mit maximaler elektrischer Verstärkung ausgestatteten Situation eine disziplinierte Haltung aus. Es kann sogar so weit kommen, daß Musik live-elektronisch interpretiert wird, obwohl im Text der Partitur von Live-Elektronik gar nicht ausdrücklich die Rede ist - beispielsweise in Karlheinz Stockhausens am 8. Mai 1968 entstandener Textkomposition "Unbegrenzt", in der eine über den oberen Papierrand hinausführende Kurve mit einem kurzen Textsatz verbunden ist: Spiele einen Ton / mit der Gewißheit / daß Du beliebig viel Zeit und Raum hast. Weder in diesem kurzen Text noch in einem 1969 ergänzten ausführlichen Kommentar ist von live-elektronischer Ausführung die Rede; wer sich hierfür interessiert, kann allerdings eine in Stockhausens gesammelten Texten mitgeteilte Blockschaltung studieren. - Stockhausen und Cage gelangten in den sechziger Jahren auf ganz verschiedenen Wegen zur kompositorisch (mehr oder weniger) indeterminierten Live-Elektronik, und beide haben sich in ihrem Spätwerk, wiederum auf ganz verschiedenen Wegen, wieder von ihr gelöst.

John Cage hat schon 1960 mit Live-Elektronik im moderneren Sinne zu experimentieren begonnen: in seiner "Cartridge Music" für Objekt(e), Tonabnehmer und Lautsprecher. In diesem Werk ging es Cage darum die elektronische Musik zu verlebendigen, und zwar eine theatralische Situation zu schaffen, die die Verstärker und Lautsprecher und die lebendigen Musiker einbezog. Dies wollte er erreichen, ohne die in seiner Musik seit den fünfziger Jahren in ständig zunehmender Radikalität entwickelte kompositorische Unbestimmtheit preiszugeben. Nach seinen Worten ist in der "Cartridge Music" die Ausführung sozusagen in sich selbst unbestimmt, wobei nicht einmal Vorsorge dagegen getroffen ist, daß durch bestimmte zufallsbedingte live-elektronische Aktionen die Hervorbringung von Schall bisweilen vollständig unterbunden wird. Mit Hilfe komplexer Notationen (übereinander zu legender Folien) gibt Cage den Musikern detaillierte Anregungen zu klanglichen Aktivitäten, deren Ergebnis unvoraussehbar bleibt. Festgelegt sind nur die klanglichen Mittel: Zu produzieren sind elektrisch verstärkte Klänge teils auf (mit Kontaktmikrophonen versehenen) Stühlen, Tischen, Papierkörben usw., teils auf Tonabnehmern, in die statt Schallplattennadeln Zahnstocher, Streichhölzer, Slinkies, Klaviersaiten, Federn usw. eingefügt werden. Wenn dabei, nicht zuletzt auch durch verstärkte Rückkopplung, Lautsprecher-Rauschen etc. gelegentlich auch schroffe und schockierende Klänge entstehen, so ist dies durchaus im Sinne des Komponisten: Diese Musik akzeptiert alle Klänge, sogar solche, die man gemeinhin nicht für wünschenswert hält. - Diese radikal-experimentelle Musik verbindet - mit elektronisch geformten, aber nicht mehr auf Tonband vorproduzierten, sondern während der Aufführung erzeugten Klängen - die Technifizierung der Klangproduktion mit der Theatralisierung der Aufführungsaktion - als frühes Beispiel "instrumentalen Theaters", für das sich seit den sechziger Jahren auch Mauricio Kagel intensiv interessiert (auch wenn dabei live-elektronische Aspekte nicht immer eine so wichtige Rolle spielen wie etwa in seinem 1970 entstandenen Ensemblestück "Unter Strom").

Auch Karlheinz Stockhausen hat, als er sich (einige Jahre später als Cage) erstmals der live-Elektronik zuwandte, sich zunächst für die Arbeit mit vorwiegend unkonventionellen Klangerzeugern interessiert. In seiner 1964 vollendeten Komposition "Mikrophonie I" für Tamtam, 2 Mikrophone und 2 Filter mit Reglern wird ein Tamtam auf verschiedenste Weisen in Schwingung versetzt (wobei an die Stelle des konventionelles Schlägels beispielsweise unterschiedliche Küchengeräte treten können, die Stockhausen bei seinen vorbereitenden Experimenten ausgiebig erprobt hat). Die so produzierten Klänge werden einerseits live gefiltert, andererseits in ihrer Dynamik live verstärkt und nachgeregelt. Die Interpreten, die die Klänge live produzieren, transformieren oder dynamisch regeln, arbeiten nach den Maßgaben einer seriell auskonstruierten Partitur, die zwar in der Abfolge der Formteile und in der klanglichen Detailgestaltung unterschiedlich realisiert werden kann, bei der aber gleichwohl die klanglichen Resultate dennoch weitgehend festgelegt und überprüfbar sind (zumal in der vom Komponisten hergestellten detaillierten Uraufführungsversion). Bei Aufführungen ergaben sich Klangstrukturen, die ebenso geräuschhaft geraten konnten wie in Cage´s "Cartridge Music", die aber, anders als bei Cage, kompositorisch genau vorkonstruiert waren - nach Konstruktions- und Formprinzipien, die Stockhausen damals nicht nur in solistischer Musik erprobt hat, sondern auch in Musik für größere Formationen: Das Orchesterstück "Mixtur" (1964) und das Chorstück "Mikrophonie II" (1965) sind geprägt von der live-elektronischen Verfremdung durch (meistens geräuschhaft verzerrende) Ringmodulation (wobei die Modulation der Orchesterklänge durch Sinustöne gesteuert wird, die Modulation der Chorklänge durch eine Hammondorgel). Stockhausen hat sich in diesen Werken bewußt traditionellen Konzertbesetzungen genähert, den bei diesen gern erwarteten Schönklang jedoch durch schroffe elektronische Verfremdungen weitgehend zerstört.

Während Stockhausen auch in den sechziger Jahren, anders als Cage, Musik für größere Besetzungen weitgehend in traditioneller Notation fixierte, gelangte er allmählich zu anderen Lösungen im Umgang mit kleineren, stark von Live-Elektronik geprägten Besetzungen: Seit der Uraufführung von "Mikrophonie I" arbeitete er mit einem ständigen Ensemble, für das er, ebenso wie für Soloinstrumente, in der Folgezeit zunehmend unbestimmte Notationen entwickelte: In Werken wie "Prozession" (1967), "Kurzwellen" für sechs Spieler und "Spiral" für einen Solisten mit Kurzwellen-Empfänger (1968), "Pole" und "Expo" für 2 bzw. drei Spieler mit Kurzwellen-Empfängern (1969-1970) wird den Spielern nicht vorgeschrieben, welche Klänge sie produzieren sollen, sondern in welcher Weise (mit welchen Veränderungen in verschiedenen Parametern) sie zu reagieren haben auf Klänge, die entweder variabel abrufbar sind (Zitate aus älteren Werken Stockhausens in "Prozession") oder, unvoraussehbar, einem Kurzwellenradio entnommen werden. Diese Stücke und, in noch höherem Maße, einige kurze, die intuitive Gestaltungskraft der Interpreten herausfordernde Textkompositionen ("Aus den sieben Tagen", 1968; "Für kommende Zeiten", 1968-1970) erwiesen sich allerdings in ihrer freien Notationsweise als aufführungspraktisch so riskant, daß Stockhausen daraus eine radikale Konsequenz zog: In "Mantra" für zwei Pianisten (mit woodblocks und cymbales antiques, mit Sinustongeneratoren und Ringmodulatoren) (1970) kehrte er zu einer traditionellen Besetzung zurück, in der auch die live-elektronische Transformation kompositorisch genauestens vorbestimmt war. Die Uraufführung dieses Werkes fand am 18. Oktober 1970 in Donaueschingen statt. Sie gab den Auftakt zur späteren Gründung des auf Live-Elektronik spezialisierten Experimentalstudios der Heinrich-Strobel-Stiftung, das auch in der Folgezeit an vielen live-elektronisch geprägten, meist in Donaueschingen kreierten Uraufführungen mitwirkte (in Werken u. a. von Cristóbal Halffter, Pierre Boulez, Brian Ferneyhough, Kazimierz Serocki , Luigi Nono und Dieter Schnebel).

Die meisten Produktionen waren darauf ausgerichtet, neue Möglichkeiten der elektroakustischen Klangverarbeitung zu verbinden mit aus der Tradition bekannten Formen der konzertanten Präsentation. Wer sich mit dem umfangreichen Repertoire der hier seit den frühen siebziger Jahre entstandenen Werke hörend genauer beschäftigt, kann feststellen, daß elektronische Klangtransformationen in größer besetzten Werken, z. B. in den für die Donaueschinger Musiktage typischen größeren Orchesterbesetzungen, eher eine untergeordnete Rolle spielen: In Donaueschingen war kein Orchesterwerk zu hören, in dem der originale Orchesterklang ähnlich radikal verändert worden wäre wie etwa 1964 in Karlheinz Stockhausens "Mixtur". Belege hierfür finden sich sogar in ausdrücklichen Partituranweisungen, beispielsweise zu den 1977 uraufgeführten "Variationen über das Echo eines Schreis" von Cristóbal Halffter: Die Instrumente müssen immer über Lautsprecher klingen, aber so, daß der Zuhörer sie auch direkt hören kann... Das Tonband ist quasi ein Instrument mehr. Der Techniker, der das Gerät bedient, muß die dynamischen Werte der Partitur berücksichtigen (nämlich 5 Abstufungen: viel lauter als die Imstrumente - etwas lauter - gleichlaut wie - etwas leiser - viel leiser). In Kaszimierz Serockis effektvollem Klavierkonzert "Pianophonie" wird bezeichnender Weise nur das Klavier elektronisch transformiert, aber nicht das Orchester.

Deutlicher erkennbar sind elektronische Zuspielklänge und live-elektronische Effekte eher in Solostücken oder in kleineren Instrumentalbesetzungen, wobei selbst hier Veränderungen wie Ringmodulation oder Klangverzögerung musiksprachlich und klanglich oft anspruchsloser sich präsentieren als ihr sorgfältig auskomponiertes rein instrumentales Ausgangsmaterial (beispielsweise in der 1973 präsentierten Ensemble-Version der Konzept-Komposition "explosante-fixe" von Pierre Boulez, in der die live-Elektronik der Verschmelzung disparater Einzelstimmen dienen soll, oder auch in der 1987 aufgeführten Ausarbeitungsversion dieses Werkes für Solo-Vibraphon; auch die ebenfalls 1987 aufgeführte Celloversion von Karlheinz Stockhausens 1966 entstandenem Multiplayback-Stück "Solo" blieb problematisch im Zusammenwirken von live-Interpretation und multiplizierender Technik).

Erst im Spätwerk Luigi Nonos erhielt die live-Elektronik einen grundsätzlich veränderten Stellenwert. Seine Partituren gehören zu den seltenen Beispielen einer live-elektronischen Kompositionstechnik, die nicht von einem traditionell notierten und entsprechend vorkonstruierten Notentext ausgeht (wie noch "Mantra" von Karlheinz Stockhausen oder, stärker noch, "Répons" von Pierre Boulez), sondern in der vielfach erst die Details der elektronischen Klangtransformation den eigentlichen musikalischen Sinn erschließen - so schwierig es auch oft sein mag, die differenzierten Anweisungen zur Klangsteuerung (die nur in Ausnahmefällen in einer präzise ausgearbeiteten Partitur exakt überprüfbar sind) deutlich herauszuhören. Wer 1982 die beiden Donaueschinger Aufführungen von "Io, Frammento dal Prometeo" für 3 Soprane, Kammerchor, Baßfläte, Kontrabaßklarinette und Live-Elektronik auf verschiedenen Plätzen hören konnte, hatte überdies Gelegenheit festzustellen, daß die Wirksamkeit der elektronischen Transformation je nach Hörplatz extrem unterschiedlich sein kann. Dennoch bleibt offenkundig, daß die Konzentration des späten Nono auf das Innenleben des Klanges diesseits und jenseits der Live-Elektronik seit den achtziger Jahren das musikalische Bewußtsein weitgehend verändert hat (auch im Einfluß Nonos auf einen jüngeren Komponisten, der sich erst wesentlich später, in den neunziger Jahren, der Live-Elektronik nähern und sie in seine Musik für Konzertsaal und Opernhaus integrieren sollte: Wolfgang Rihm).

Alternative Live-Elektronik, die die Grenzen der konventionellen Konzertdarbietung sprengt, hat normalerweise im offiziellen Festivalbetrieb einen schweren Stand. Dennoch läßt sich feststellen, daß sie manchmal auch dort zum Zuge kommt - mit mehr oder weniger glücklichem Erfolg. Beispielsweise könnte man an die Ausgangsideen verschiedener Medienkompositionen von John Cage, an die Instrumentalisierung technischer Geräter denken, wenn man in einem Programm der Donaueschinger Musiktage vom 17. Oktober 1970 folgenden Titel von Wolfgang Dauner findet: 5 Musiker, 1 Chor, 3 Verstärker, 6 Boxen, 3 Hallgeräte, 3 drahtlose und andere Mikrophone, 2 Potentiometer, Plattenspieler, Tonband, optische Geräte, verschiedene Instrumente. Wer sich darüber wundert, daß Josef Häusler in seiner Geschichte der Donaueschinger Musiktage dieses Stück mit keinem Wort kommentiert, wird vielleicht beim Anhören der Aufnahme die Erklärung hierfür finden: Hinter dem originellen Titel verbirgt sich eine wenig inspirierte, von Improvisationsklischees der damaligen Zeit durchsetzte Musik. In einer Programmnotiz erklärt Wolfgang Dauner, daß es sich dabei weder um Free Jazz noch um eine Komposition im üblichen Sinne handelt... Dies scheint mir insofern logisch, als jeder Akteur unserer Gruppe - die Bezeichnung Musiker ist mir zu einseitig - kreative Qualitäten mitbringt. Der Regie-Plan, die Verbal-Partitur, legt ungefähr fest, wann und wo, nicht aber was gespielt wird... Uns interessiert das Risiko, die Spontaneität, der kreative Moment. Dauner, der in der Folgezeit wieder in konventionellere Gefilde der Jazzpraxis zurückgekehrt ist, hat mit diesem Stück in Donaueschingen keine heute noch erkennbaren Spuren hinterlassen.

Stärker beachtet wurde 1975 in Donaueschingen ein "Musikalisch-kybernetisches Environment" von Peter Vogel, das insofern an Cage erinnern könnte, als es, wie viele Kompositionen des Vaters der amerikanischen experimentellen Musik, ursprünglich von der Verbindung von Musik und Tanz ausging, später aber statt dessen stärker den Aspekt der Interaktion zwischen Klang und Hörer in den Vordergrund stellte (was auch an Überlegungen von Cage erinnern könnte, der gelegentlich über eine Neubestimmung der Funktion des Publikums nachgedacht hat). Vogel schreibt hierzu in einer Programmnotiz: Das MUSIKALISCH-KYBERNETISCHE ENVIRONMENT war anfänglich für eine Tanzimprovisation gedacht, bei der die Tänzer durch Bewegungen Klänge erzeugen, auf die sie dann reagieren und damit wieder andere musikalische Strukturen auslösen, auf die sie von neuem reagieren.Dieses Reaktionsspiel wäre wohl für die Tänzer reizvoll, für die Zuschauer jedoch nicht einsehbar gewesen. Ich konzipierte deshalb das Environment so, daß es von jedem Anwesenden in Gang gesetzt werden kann und einer Vermittlung durch irgendwelche Akteure nicht bedarf. Dieses neue Konzept hat Vogel später ausführlich dokumentiert. In seinem Bericht heißt es: In Donaueschingen konnte sich das Publikum vor den Objekten frei bewegen und willkürlich durch gezielte Abschattung von 4 verschiedenen Photozellen Klangereignisse auslösen und modifizieren. Von diesen drei Objekten wurden verschiedene klangerzeugende und -formende Apparate angesteuert wie Synthesizer, Gates, Iterationsgerät, Verstärker und Lautsprecher.Die Technik ermöglicht in diesem Zusammenhang, über mit Sensoren verbundene kybernetische Objekte, musikübergreifende Erfahrungen. In Vogels Programmnotiz heißt es hierzu: Die Aufgaben des Synthesizers sind klangerzeugender und klangformender Art. Von den Objekten kommende Impulsgruppen und Spannungsverläufe lösen im Synthesizer Töne unterschiedlicher Höhe aus. Langsam variierende Spannungen steuern Lautstärken, Klangfarben, Tempi und das Auftreten neuer Elemente. So können Zusammenhänge zwischen Hör- und Seherfahrungen zustande kommen, die weit hinausführen über das bei konventionellen Konzertdarbietungen Beobachtbare - in auf verschiedene Sinnesbereiche bezogenen kompositorischen Strukturen, wie sie ein Jahr später, in anderer Weise, auch Josef Anton Riedl in seinem Donaueschinger "Klangleuchtlabyrinth" realisierte - in subtiler und abwechslungsreicher polyästhetischer Inszenierung "natürlicher" und elektronisch transformierter Wasserklänge.

Durch experimentelle Anwendung elektronischer, insbesondere auch live-elektronischer Verfahren der Klangproduktion kann sich eine bereits von John Cage ausgesprochene, nur scheinbar paradoxe Erfahrung bestätigen: Die Technifizierung der Musik kann neue Wege zur natürlichen Hörerfahrung erschließen. Dies kann um so leichter dann gelingen, wenn sie dabei auch das traditionelle Konzertritual kritisch hinterfragt. Dies hat Thomas Hertel 1993 auf den Donaueschinger Musiktagen nachdrücklich unter Beweis gestellt, als er die Konsequenzen daraus zog, daß ein oft benutzter Veranstaltungsraum, die Donauhalle B, ursprünglich nicht ein Konzertsaal, sondern eine Viehhalle war. Dies gab die Anregung für eine in der Idee und in der differenzierten klanglichen Ausführung bemerkenswerte Komposition: "Cernunnos", eine "musikalische A(u)ktion für 7 Rohrspieler, Stiere, Hirsch-Träger und Live-Elektronik". An der Aufführung wirkte nicht nur ein unkonventionelles Bläserensemble mit, sondern auch ein Hirsch-Plastik/Hirsch-Träger, 7 Stierführer, ein Hausmeister und 7 Stiere, Vorderwälder Rasse, Kulturgut des Schwarzwaldes. Im Zusammenwirken der teils unveränderten, teils elektronisch transformierten Live-Klänge ergaben sich Resultate, die nicht nur dem Publikum der spektakulären Uraufführung, sondern auch dem Hörer der Tonbandaufnahme reichhaltige, vielfältig wechselnde, zugleich subtile, frische und unverbrauchte Eindrücke vermittelten und so Thomas Hertels Intention bestätigten: Ich verwende ein hochsensibles Instrumentarium, um etwas scheinbar Grobes zu erhellen, etwas hörbar zu machen, was sonst vielleicht nur spürbar wäre.

In den Worten von Thomas Hertel wird deutlich, was live-elektronische und überhaupt elektroakustische Gestaltungsmittel in gelungenen Realisationen ermöglichen können: Eine Öffnung der musikalischen Erfahrung zu allen Phänomenen der uns umgebenden Hörwelt, auch über die Grenzen der traditionellen Vokal- und Instrumentalmusik und der traditionellen Konzertdarbietung hinaus; eine Öffnung zur Auseinandersetzung mit der Vielfalt der uns umgebenden, aber auch der noch neu zu entdeckenden Klänge, in der auch das häufig Tabuisierte oder voreilig Abgewertete unbefangen gehört werden kann, so wie es sich beispielsweise Pierre Henry, der wichtigste Pionier der Musik und der Akustischen Kunst, für seine Arbeiten wünscht, wenn er 1996 sein Hörstück "Antagonismen" mit folgenden Worten kommentiert: Mit diesem neuen Werk... ist es so, daß man die Begriffe elektronische Musik, konkrete Musik und instrumentale Musik vergessen muß, denn das alles steckt ja in diesem Werk. Man hört die Endlosschleifen aus meiner Symphonie pour un homme seul - auch das Kratzen der Schallplatte wird wiedergegeben, und man hört meine Klavierkonzerte. Das ist Instrumentalmusik, könnte man meinen. Man hört Zitate der verschiedensten musikalischen Genres. Es ist aber im Grunde meine Musik. Man sollte wohl einfach sagen: Das ist die Musik von Pierre Henry. Ohne falsche Bescheidenheit. Das trifft es besser. Es ist die Musik eines Komponisten, der sich ganz allgemein mit Klängen aus der Welt und seinem Zuhause umgeben hat.

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