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7.37 Mathematisches Denken in der Neuen Musik


Rudolf Frisius

Mathematisches Denken in der Neuen Musik

Vorbemerkung

Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Mathematik und Musik ist nicht neu. Dennoch ist es sinnvoll, diese Frage spezifiziert zu stellen in der Eingrenzung auf Neue Musik. Wie immer man den Begriff "Neue Musik" im Kontext der Musik des 20. Jahrhunderts genauer bestimmten mag - es wird sich schwerlich eine Definition dieser Musik finden lassen, in der nicht auch ein verändertes Verhältnis zur Mathematik eine wichtige Rolle spielt. Dies liegt vor allem daran, daß mathematische Aspekte in älterer Musik vor allem im Bereich der elementaren Musiktheorie diskutiert worden sind, während sie in wichtigen Bereichen der Neuen Musik engstens zusammenhängen mit komplexen Aspekten der Erfindung von Musik, der Komposition. Die Wandlungen des Verhältnisses lassen sich schon im Vergleich einfacher Beispiele aufzeigen.

Mathematisches Denken in der Musik selbst sollte man nicht ohne weiteres gleichsetzen mit mathematischen Aspekten der elementaren Musiktheorie - etwa mit theoretischen Spekulationen, die von der Zuordnung musikalischer Intervalle zu Zahlenverhältnissen ausgehen. Solche Spekulationen können völlig losgelöst von der musikalischen Praxis durchgeführt werden, und dies ist in vielen Epochen der Geschichte der Musiktheorie auch ausgiebig geschehen. Die zahlenmäßige Fixierung von Intervallen und Tonsystemen hat in der Musik der Vergangenheit oft eine unverhältnismäßig große Rolle gespielt, so daß neben diesen Grundfragen der Materialstrukturierung anspruchsvollere Fragestellungen zurücktraten - etwa Fragen nach der Strukturierung tatsächlich existenter, zum Beispiel komponierter Musik. Nur in bestimmten Ausnahmesituationen der musikalischen und musiktheoretischen Entwicklung hat es sich ergeben, daß bestimmte Modelle der musiktheoretischen Beschreibung in komponierter Musik konkret in Erscheinung traten.

1. Zahlenstrukturen als Regulativ der HARMONIE

1.1 Richard Wagner: Rheingold

Musikbeispiel: Wagner, Rheingold (Beginn des Vorspiels)

Kontrabässe - Fagotte (Es-B; Es-B,Es-B) (Takt 1-16)

Das Vorspiel zu Richard Wagners "Rheingold" läßt sich hören wie eine auskomponierte Geschichte der Ursprünge der Harmonie:

Die Musik beginnt in den Streichern mit extrem tiefen Tönen,

die das einfachst mögliche Intervall bilden: Eine Oktave.

Diesem Intervall entspricht die einfachste Zahlenproportion:

1:2

Einige Takte setzen in den Holzbläsern (in den Fagotten) neue Töne ein.

Wieder erklingen zwei Töne gleichzeitig, im Abstand einer Oktave.

Zu den beiden Anfangstönen bilden sie das Intervall der Quinte.

Diesem Intervall entspricht die nächst einfache Zahlenproportion:

2:3

Mit Oktave und Quinte sind die wichtigsten harmonischen Grundintervalle erklungen - d. h. die Intervalle, die die in der europäischen Musikgeschichte

bis zum Ende des Mittelalters die Basis der Harmonie bildeten.

Diese Töne bringt Wagner hier allerdings nur als lange Haltetöne,

in extremer Tiefe und sehr leise -

wie schattenhafte Erinnerungen an eine ferne Urzeit.

Sie sind Klangbilder der ruhigen Wassertiefe des Rheines -

zunächst nacheinander einsetzend in langem Zeitabstand (2 mal 4 Takte),

dann im Wechsel hin und herpendelnd in kürzeren Zeitabständen (4 mal 2 Takte).

Man hört also ein erstes Signal der Tonbelebung in extrem tiefer Lage.

Musikbeispiel: Rheingold Anfang: Kontrabässe - Fagotte - 1. Horneinsatz

Ein Horn-Einsatz gibt das Signal zu einer weiteren Belebung des Rhythmus

und zu einem weiteren Aufstieg im Tonraum.

Es erklingt eine in 7 Tönen aufsteigende Melodie,

die aus den Tönen des Dur-Dreiklanges gebildet -

d. h. aus der Grundharmonie der neuzeitlichen tonalen Musik:

Die Musik verwandelt sich vom Klangbild der ruhigen Wassertiefe

zum Klangbild eines Flusses, der mehr und mehr mit höheren,

helleren und stärker belebten Wasserzonen wahrgenommen wird.

In den 7 aufsteigenden Melodietönen

kommen weitere Proportionszahlen ins Spiel:

2:3: 4:5:6:8:10

Musikbeispiel: Rheingold Vorspiel: Kontrabässe - Fagotte - 8 Hörner

Die viertaktige Melodie mit diesen Proportionszahlen erklingt zunächst einstimmig (im viertaktigen Wechsel zwischen zwei Hörnern),

dann in zunehmend sich verdichtenden kanonischen Überlagerungen:

- zunächst zweistimmig

(in zweitaktigen Abstand der Überlagerung von zwei Hörnern);

- dann vierstimmig

(im eintaktigen Abstand der Überlagerung von vier Hörnern);

- schließlich achtstimmig

(im halbtaktigen Abstand der Überlagerung von acht Hörnern).

So wird deutlich, daß der Klangfluß, das Klangbild des fließenden Rheines,

sich verdichtet. -

In diesem Sinne entwickelt sich die Musik

im größeren Formzusammenhang weiter:

mit weiter ausgreifenden, dann wellenartig wieder absteigenden Tonbewegungen,

mit zunehmender Geschwindigkeit,

sich ausbreitend im Tonraum

bis zu immer höheren Oktavlagen

und mit zunehmend engmaschigen Tonabständen,

in denen sich erste Ausformungen der Dur-Tonleiter herauskristallieren -

der Grundstruktur der tonal geordneten Melodie.

Musikbeispiel: Rheingold: Kontrabässe - Fagotte - Hörner - Celli

Die Entstehung der Musik wird hier dargestellt in einem Formprozeß,

der sich als fortschreitende Entwicklung von Zahlenproportionen darstellen läßt:

- Ausgehend von der Oktave:

1:2;

- sich fortsetzend mit der harmonischen Teilung der Oktave

in Quinte und Quarte:

1:2 = 2:4 = (2:3)x(3:4): Keimzelle der mittelalterlichen Harmonie;

- anschließend übergehend zur harmonischen Teilung der Quinte

in große Terz und kleine Terz:

2:3 = 2:6 = (4:5)x(5:6):

Keimzelle der neuzeitlichen tonalen Harmonie (Dur-Dreiklang);

- schließlich mündend in der harmonischen Teilung der großen Terz

in großen und kleinen Ganzton:

4:5 = 8:10 = (8:9)x(9:10):

Keimzelle der neuzeitlichen tonalen Melodie (Dur-Tonleiter)

Der Formprozeß der Entstehung der tonalen Musik

wird hier zum Klangbild der erwachenden Natur.

Dabei geht Wagner über die ersten sechs Naturtöne nicht hinaus.

Er respektiert die Grenzen der traditionellen Harmonielehre

und des von ihr respektierten dur-moll-tonalen Tonsystems.

Dies zeigt sich auch daran,

daß Wagner den 7. Naturton nicht berücksichtigt,

Er läßt also genau denjenigen Ton aus,

auf den auch die traditionelle Harmonielehre verzichtet,

um - wie Hermann von Helmholtz es wenige Jahre

nach der Entstehung des "Rheingold"

auch theoretisch erklärt hat -

dadurch die Grenze zwischen Konsonanz und Dissonanz

um so deutlicher ziehen zu können:

Alle Naturtöne diesseits des 7. Obertons, d. h. die Naturtöne 1-6

werden als Basis der konsonanten Intervalle und der Harmonie klassifiziert;

alle Intervalle jenseits des 7. Obertones

gelten als Basis der dissonanten Intervalle

sowie, in einfacheren Fällen, auch der Melodie.

(Wenn der 7. Ton im europäischen Harmoniesystem enthalten wäre,

gäbe es keine Abgrenzung zwischen Konsonanz und Dissonanz,

sondern einen kontinuierlichen Übergang zwischen beidem;

dies hat Arnold Schönberg konstatiert und daraus abgeleitet,

daß die traditionelle Tonalität sich kontinuierlich erweitern läßt

bis in weite Bereiche der sogenannten Atonalität hinein.)

Erst später, wenn die Menschen sich an der Natur vergreifen,

wird in Wagners "Rheingold"das Bild der vollkommenen Harmonie gestört

mit neuartigen, dissonanten Harmoniebildungen.

Auch dann setzt sich die Formentwicklung weiter fort -

vom Einfachen übergehend zum Komplexen,

vom Konsonanten zum Dissonanten,

von einfacheren zu komplizierteren Zahlenproportionen.

Seine Musik weist den Weg auch für künftige Entwicklungen,

in denen Altes und Neues nicht schematisch getrennt,

sondern integrativ miteinander verbunden sind.

1.2 Karlheinz Stockhausen: Stimmung

1968 hat Karlheinz Stockhausen ein Stück für sechs Gesangssolisten komponiert,

das man als Gegenstück zu Richard Wagners Rheingold-Vorspiel beschreiben kann: Auch in diesem Stück spielen Naturtöne und ihre Intervall-Proportionen eine wichtige Rolle. Sie erscheinen aber nicht als Vorgaben, die der Komponist generell in seiner Musik akzeptieren würde, sondern als spezifisches Besondersheiten gerade dieses Stückes. Stockhausen, der zuvor in den 1950er und 1960er Jahren Aufsehen erregt hatte mit klanglich radikalen Parameter-Konstruktionen, mit Geräuschstrukturen und elektronischen Klängen - er konzentriert sich in diesem Stück vollständig auf die musikalische Harmonie.

In einem Werkkommentar hat Karlheinz Stockhausen deutlich gemacht, daß es ihm , anders als Wagner zu Beginn von des "Rheingold", hier keineswegs auf die Gestaltung eines weit ausladenden dynamischen Formprozesses ankommt,

sondern die Darstellung von Harmonie als Zustand. Stockhausen sagt:

Gewiß ist STIMMUNG meditative Musik.

Die Zeit ist aufgehoben.

Man horcht ins Innere des Klanges,

ins Innere des harmonischen Spektrums,

ins Innere eines Vokales,

ins Innere.

Dementsprechend ist das Stück ausgestaltet -

nicht als Entstehung der Musik, sondern als diese selbst.

Während Wagner die Harmonie

letztlich im ständig sich steigernden Klangfluß auflöst,

hält Stockhausen für die Dauer eines abendfüllenden Werkes

an den Tönen einer einzigen Grundharmonie fest.

Die Komposition geht von wenigen Naturtönen aus, deren Konstellation man in der traditionellen Harmonielehre als Dominant-Nonakkord kennt.

Die zu Grunde liegenden Naturton-Proportionen sind:

2:3:4:5:7:9

In dieser Konstellation ist auch der 7. Naturton zu finden,

der im traditionellen Tonsystem der dur-moll-tonalen Musik nicht vorkommt.

So entsteht eine Harmonie, die auch nicht mehr der traditionellen Auflösung bedarf - und die sich insoweit von einem traditionellen Dominant-Nonakkord unterscheidet, wie ihn etwa Wagner häufig für sein "Rheingold"-Leitmotiv verwendet. An dieser Harmonie hält Stockhausen fest - und zwar nicht nur für einige Minuten wie Wagner in seinem "Rheingold"-Vorspiel, sondern für die Dauer eines abendfüllenden Werkes (mit der Aufführungsdauer von circa 75 Minuten). In seiner Musik ist es, anders als bei Wagner, offensichtlich, daß er mit den Zahlenproportionen der Obertöne arbeitet und daß auch Zahlenstrukturen auch in anderen Zusammenhängen eine Rolle spielen.

Der statischen Struktur der Harmonik entspricht es, daß das Stück in verschiedenen Versionen aufgeführt werden kann, ohne daß sich dadurch am Gesamteindruck Wesentliches verändern müßte. Eindeutig festgelegt ist nur, auf welche Tonhöhen sich die 6 Sänger in den 51 Abschnitten der Großform zu konzentrieren haben und auf welche Weise sie vom Gesang fester Tonhöhen abweichen können (z. B. durch Einfügung von Götternamen, die in dieses rituelle Stück eingeführt werden und anschließend in den Gesamtkontext integriert werden sollen, oder durch charakteristische Abweichungen von der Tonstruktur).

Für die rhythmische Gestaltung sind den Sängern rhythmische Modelle vorgegeben, deren Verteilung auf die 51 Formabschnitte sie selbst festlegen dürfen. So wird deutlich, daß dieses Stück, trotz vielfältig variabler Aufführungsmöglichkeiten, in vielen Bereichen Konstruktionsprinzipien folgt, die sich durch Zahlenfolgen darstellen lassen - beispielsweise in folgenden Bereichen:

- Verteilung der 6 Ausgangstöne auf die 6 Stimmen

(Töne in extremen Lagen werden von weniger Stimmen ausgeführt

als Töne in weniger exponierten Lagen;

Mittelstimmen übernehmen mehr Töne als Randstimmen)

- Verteilung der 6 Ausgangstöne auf die 51 Formabschnitte

(als Haupt- oder Nebentöne)

- Gliederung der 51 Formabschnitte in 6 Unterabschnitte,

mit jeweils 6 unterschiedlichen Werten für die Anzahl der Töne pro Abschnitt:

(Unisono-Abschnitte mit einem einzigen Ton für alle beteiligten Sänger -

Abschnitte mit zwei, drei, vier, fünf oder sechs verschiedenen Tönen)

- Zuordnung von Stimmen zu Tönen

(Töne in extremer Lage werden von weniger Stimmen gesungen

als Töne in Mittellage)

- Häufigkeits-Zuordnung von Tönen zu Formabschnitten

(Töne in mittlerer Lage werden in mehr Abschnitten berücksichtigt

als Töne in Randlagen)

- Gruppierung aufeinander folgender Unisono-Abschnitte

(d. h. Abschnitte, in denen alle beteiligten Sänger denselben Ton singen)

(Töne in mittlerer Lage werden häufiger in Unisono-Abschnitten berücksichtigt

als Töne in Randlagen)

Auch über die Tonordnung hinausgehende Merkmale

lassen sich quantitativ analysieren, z. B. folgende Aspekte:

- Aufteilung ergänzender Bestimmungen auf die Abschnitte

(z. B. betr. Einfügung magischer Namen, die Sänger in ihre Vokalisen einführen

und anschließend in den musikalischen Zusammenhang integrieren)

- Taktarten rhythmischer Modelle

- Tempi rhythmischer Modelle

Die vielleicht wichtigsten zahlenmäßigen Strukturierungen, die eng mit den Intervall-Proportionen zusammenhängen, ergeben sich im Zusammenhang mit den Vokalfarben: Die Töne sollen auf verschiedenen Vokalen so gesungen werden, daß bestimmte Obertöne deutlich hervortreten. So wird eine seriell genau durchkonstruierte Musik gleichzeitig zum musikalischen Modell meditativen Obertongesanges.

Beispiel: Stimmung Anfang

und evtl. Abschnitt, in dem Obertöne mit Pfeiftönen beantwortet werden

Die Zahlenproportionen, nach denen verschiedene Bereiche dieser Musik organisiert sind, garantieren einen formalen Schwebezustand im gesamten Formverlauf des Stückes - ein musikalisches Erscheinungbild,

daß Stockhausen in seinem Begriff der Momentform ausdrücklich

als Kontrastmodell zu traditionellen, dynamisch-prozeßhaft sich entwickelnden

Formverläufen charakterisiert hat. Stockhausen schreibt hierzu:

Es sind in den letzten Jahren musikalische Formen komponiert worden,

die von dem Schema der dramatischen finalen Form weit entfernt sind;

die weder auf die Klimax

noch auf vorbereitete und somit erwartete mehrere Klimaxe hin zielen

und die üblichen Einleitungs-, Steigerung-, Überleitungs- und Abklingstadien

nicht in einer auf die gesamte Werkdauer bezogenen Entwicklungskurve darstellen,

die vielmehr sofort intensiv sind

und - ständig gleich gegenwärtig - das Niveau fortgesetzter ´Hauptsachen´

bis zum Schluß durchzuhalten suchen;

(...)

Formen, in denen ein Augenblick nicht Stückchen einer Zeitlinie,

ein Moment nicht Partikel einer abgemessenen Dauer sein muß,

sondern in denen die Konzentration auf das Jetzt - auf jedes Jetzt -

gleichsam vertikale Schnitte macht,

die eine horizontale Zeitvorstellung quer durchdringen.

(...)

Ich spreche von musikalischen Formen,

in denen offenbar kein geringerer Versuch gemacht wird,

als den Zeitbegriff - genauer gesagt: den Begriff der Dauer -

zu sprengen, ja, ihn zu überwinden.

Zahlenstrukturen definieren hier musikalische Zusammenhänge,

die man sich auch außerhalb des realen Verlaufes der Musik,

gleichsam außer-zeitlich oder quasi-räumlich, vorstellen kann.

In der Neuen Musik hat sich das Denken zwischen mathematischem und kompositorischem Denken wesentlich verändert - und dies sogar in Bereichen, über die in der traditionellen Musiktheorie oft in großer Distanz zu musikpraktischen und kompositorischen Realitäten spekuliert wurde, z. B. im Zusammenhang von Tonbeziehungen, die für Zusammenhänge der traditionellen Harmonik bedeutsam sind. Dies ist aber nicht der einzige Bereich, der sich mit Zahlenstrukturen beschreiben läßt.

2. Zahlenstrukturen als Regulativ der MELODIE

Es gibt sinnfällige Beispiele traditioneller Melodien, die sich in einfachster Weise mit Hilfe von Zahlen analysieren lassen. Auch in diesem Zusammenhang sind Vergleiche älterer und neuerer Musik lehrreich. Sie können deutlich machen, daß bestimmte Strukturprinzipien, die in älterer Musik womöglich erst in der nachträglichen Analyse erkennbar werden, in neuerer Musik als bewußt und differenziert angewendete kompositorische Prinzipien nachweisbar sind.

2.1 Seikilos-Lied

Musikbeispiel: Seikilos-Lied

Eine der bekanntesten altgriechischen Melodien, das Seikilos-Lied, hat eine leicht erkennbare und quantifizierbare melodische Struktur:

a) Die 4 Abschnitte der Melodie unterscheiden sich durch zunehmende Anzahl der Töne:

7 Töne - 9 Töne - 10 Töne - 11 Töne

b) Auch der Tonumfang der Abschnitte,

der Abstand zwischen höchstem und tiefstem Ton,

nimmt zu: Man kann dies kennzeichnen,

indem man die Intervalle in traditioneller Weise

nach der Anzahl der in ihnen enthaltenen Tonleiter-Töne zählt

und indem man die Töne,

vom tiefsten aufsteigend, von 1 bis 8 numeriert:

Quinte (1. Abschnitt) - Sexte (2. und 3. Abschnitt) - Oktave (4. Abschnitt)

5 6 8

G-d F-d D-d

4 -8 3-8 1-8

Man erkennt, daß alle Abschnitte den gleichen Hochton haben (d = 8)

und daß die Tieftöne tiefer werden (G - F - D: 4 - 3 - 1):

Der Tonumfang breitet sich nach unten aus.

(Er nimmt zunächst schrittweise zu:

von 5 auf 6,

dann um ein etwas größeres Intervall:

von 6 auf 8).

c) In der Umfangsbestimmung sind zweiter und dritter Abschnitt gleich.

Die beiden Abschnitte lassen sich genauer differenzieren,

wenn man die Töne innerhalb des gegebenen Umfanges genauer untersucht -

zum Beispiel durch Angabe der Anfangs- und Endtöne.

Wenn man die Töne der Melodie, vom tiefsten zum höchsten aufsteigend,

von 1 bis 8 durchnumeriert, erhält man folgende Zahlenfolgen:

G-c H-F G-F G-D

4-7 6-3 4-3 4-1

(reine) Quarte (übermäßige) Quarte Ganzton (reine) Quarte

aufwärts abwärts abwärts abwärts

4 IV+ I IV

Der 3. Abschnitt hat einen tieferen Anfangston als der zweite.

Dadurch wird deutlich, daß die absteigende Tendenz in der Melodie

sich inzwischen noch stärker durchgesetzt hat

als im vorausgegangenen zweiten Abschnitt:

Im ersten Abschnitt lag der Schlußton noch höher als der Anfangston.

In den folgenden Abschnitten bewegen sich Anfangs- und Schlußtöne abwärts.

Im letzten Abschnitt schließlich liegt der Schlußton genau so weit über dem Anfangston, wie er im ersten Abschnitt unter ihm lag.

d) Der Vergleich der Anfangs- und Endtöne gibt erste Aufschlüsse

über die Bewegungsrichtungen in den einzelnen Abschnitten.

Im ersten Abschnitt ist sie vorwiegend steigend,

in den folgenden Abschnitten von Mal zu Mal stärker fallend. -

Zusammenfassend läßt sich feststellen,

daß die Zahlenbeispiele in der Analyse dieser Melodie

Aufschluß darüber geben können,

ob und inwieweit auch in einfachen traditionellen melodischen Strukturen

Tonhöhen-Bestimmungen eine Rolle spielen, die sich mit Zahlen darstellen lassen. (Genauere Analysen der rhythmischen Struktur sind insofern weniger instruktiv, als hier die Rhythmik, noch stärker als die den melodischen Akzenten folgende Tonbewegung, dem gesungenen Text folgt).

Die Zahlen ermöglichen allerdings keine sicheren Aussagen darüber,

ob sie über die nachträgliche Analyse hinausgehend,

auch Aufschlüsse über die kompositorische Faktur zu geben vermögen.

In dieser Hinsicht läßt sich von melodischen Analysen Neuer Musik

mehr erwarten.

2.2 Dies irae

Die mittelalterliche Melodie des "Dies irae"

zeigt in ihren Abschnitten einen Prozeß der Ausweitung

und anschließend der variierten Rückkehr:

Anfang

1. Abschnitt 2. Abschnitt 3. Abschnitt

Anfangs- und Endtöne:

f-d f-d A-D

6-4 6-4 1-4

Tonumfäng:e

c-f c-g a-f

3-6 3-7 1-6

Quarte Quinte Sexte

4 5 (weiter) 6 (noch weiter)

Neuer Mittelteil - Variierte Wiederkehr des Anfangs

4. Abschnitt 5. Abschnitt - 6. Abschnitt

Anfangs- und Endtöne:

a-d f-d (wie 1. Abschnitt) a-d

8-4 6-4 8-4

Tonumfänge:

d-c´ c-f c-a

4-10 3-6 3-8

Septime (Weite maximal) Quarte (wie 1. Abschn.) Sexte

Der Prozeß der melodischen Entwicklung zeigt sich am deutlichsten

in der Veränderung der Tonumfänge:

Quarte - Quinte - Sexte - Septime Quarte - Sexte

Ausweitung - Variierte Rückkehr

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2.3 Schönberg: Variationen für Orchester op. 31, Thema

In der Neuen Musik können melodische Analysen nach verschiedenen Kriterien (z. B. Anfangs- und Endtöne, Anzahl der Töne, Bewegungsrichtungen) zu differenzierteren Resultaten führen - vor allem dann, wenn nicht nur

der traditionelle Siebentonvorrat ausgenutzt wird, sondern wenn alle Stufen der chromatischen Skala vorkommen.

Eine prägnantes Beispiel strukturierter vollchromatischer Melodik ist das Zwölftonthema in Arnold Schönbergs Variationen für Orchester op. 31.

Schönberg selbst hat dieses Thema 1931 in einem Frankfurter Rundfunkvortrag erläutert.

Schönberg wollte in seinen Erläuterungen nachweisen,

daß in Neuer Musik - anders als in populärer traditioneller Musik -

Motive und Phrasen nicht wörtlich wiederholt, sondern fortwährend verändert werden.

Beispiel: Schönberg erläutert das Thema von op. 31

Die erste zweitaktige Phrase

wird in der zweiten Phrase in etwas veränderter Gestalt wiederholt,

nämlich auf einen Takt zusammengedrängt.

Die dritte Phrase, wieder zweitaktig, läßt den Auftakt weg.

(...)

Das Ganze sieht also so aus:

- eine zweitaktige Phrase,

- eine eintaktige,

- eine verkürzte zweitaktige

und bildet den Vordersatz.

Schönbergs Erklärungen machen deutlich, wie die Melodie gebaut ist: Alles entwickelt sich aus dem Motiv der ersten beiden Töne, das im Folgenden ständig intervallisch, rhythmisch und in der Anzahl der Töne abgewandelt wird.

Auch die (durch Pausen getrennten) Phrasen, zu denen sich die Motive gruppieren, sind engstens miteinander verwandt. Gleichwohl unterscheiden sie sich deutlich voneinander - schon durch ihre unterschiedliche Länge. (Hierdurch unterscheiden sie sich von Phrasen älterer Musik, die in der Regel gleich oder ähnlich lang sind.) Obwohl Schönberg in seiner Beschreibung durchaus traditionelle Begriffe verwendet, wird deutlich, daß sein Thema ganz anders strukturiert ist als in Thema in traditioneller Musik. Dies zeigt sich auch in der genaueren Analyse.

In diesem Stück ergibt die melodische Analyse nach verschiedenen Kriterien

(Anfangs- und Endtöne, Tonumfänge, Bewegungsrichtungen)

folgende in Zahlen darstellbare Resultate:

Gruppierung der 12 Töne: 5+4+3 (abnehmende Tonzahl)

Abfolge der Anfangstöne: b-a-g (12, 11, 10: chromatisch absteigend)

Tonumfänge: reine Quinte - kleine Sexte - große Sexte

(7, 8, 9: halbtonweise sich nach unten erweiternd)

Größte Intervalle: b-e, a-d, gis-h (VI, VII, IX: sich vergrößernd)

Das vollständige Thema ergibt sich aus der Weiterentwicklung dieser 12tönigen Melodiestruktur. Die Fortsetzung ist gebildet aus den drei Spiegelformen der zu Beginn eingeführten Zwölftonreihe - beginnend mit dem Nachsatz der aus der Krebsumkehrung gebildet ist und in dem die Tongruppen deswegen in umgekehrter Reihenfolge erscheinen: Man hört

3+4+5 Töne.

Schönberg Erläuterung: Der Nachsatz lautet als Ganzes (Beispiel KU)

Es folgt ein Mittelsatz mit neuen Tongruppierungen (6+6 Töne), gebildet aus dem Krebs der Reihe, und schließlich eine variierte Wiederkehr des Anfangs, gebildet aus der Umkehrung der Reihe. Schönberg hat 1931 seinen Hörern im Frankfurter Funkhaus deutlich gemacht, daß diese Struktur des Zwölftonthemas so klar ist, daß sie selbst in einer eigentlich gar nicht dazu passenden Harmonisierung erkennbar bleibt: Schönberg wollte seinen Hörern entgegenkommen, indem er sein Thema zunächst nicht nicht in zwölftöniger Harmonisierung vorstellte, sondern begleitet mit tonalen Akkorden. So präsentierte er eine moderne zwölftönige Melodie im Gewande einer spätromantisch-tonalen Begleitung.

Schönberg: op. 31 vollständiges Thema mit tonaler Begleitung

Die originale zwölftönige Begleitung des Themas stellt den Hörer auf eine stärkere Probe: Hier wird deutlich, daß die Begleitung nach denselben Prinzipien komponiert ist wie die Melodie - was beispielsweise daran liegt, das das erste Melodieglied mit seinen 5 Tönen von einem fünftönigen Akkord begleitet wird. Der folgende Akkord enthält 4 Töne, und sein Anfangston liegt einen Halbton über dem Anfangston des vorausgegangenen Akkordes. Die Begleitung entwickelt sich also spiegelbildlich zur Melodie, in der das 2. Melodieglied einen Halbton tiefer einseitzt als das erste.

Schönberg: op. 31 Thema mit zwölftöniger Begleitung

Das Stück beginnt nicht mit dem vollständigen Thema,

sondern zuvor mit einer Einleitung,

in der die Töne des späteren Themas und der späteren Begleitung

Schritt für Schritt eingeführt werden -

in Tongruppen, die teils quasi seriell (mit den Zahlen 5, 6 und 7),

teils ähnlich der Folge der Fibonaccizahlen (5, 8, 13) anwachsen.

Zu hören ist:

- 1 hoher Ton, fünfmal -

1 tieferer Ton (später einsetzend), fünfmal

- pendelnde Töne in höherer Lage siebenmal -

pendelnde Töne in tieferer Lage, sechsmal

- pendelnde Töne in höherer Lage mit langem Schlußton, dreizehnmal

(pendelnde Töne in tieferer Lage mit langem Schlußton, elfmal)

Beispiel: Schönberg op. 31 Anfang bis zur ausgehaltenen Quinte h-fis1, T. 1-5

An diesem Beispiel wird, zumindest ansatzweise, deutlich,

daß Zahlenstrukturen nicht nur musikalische Zustände darstellen können,

sondern auch musikalische Prozesse -

zum Beispiel den Prozeß der Entstehung einer Tonstruktur.

Hier entsteht nicht die Musik schlechthin -

wie zu Beginn von Wagners "Rheingold" -

sondern eine spezifische, unwiederholbare Tonstruktur,

die für die gesamte Komposition - und nur für diese - verbindlich ist.

Das ganze Stück, ein Variationszyklus, entwickelt sich daraus,

daß die Tonreihe in stets wechselnden,

nie sich wiederholenden Erscheinungsformen und Konstellationen erklingt.

Die Vielfalt der hier sich ergebenden Möglichkeiten ist beträchtlich -

und es bereitet einige Schwierigkeiten,

sie angemessen in Zahlenstrukturen darzustellen;

denn wichtig ist nicht nur die Anordnung der aufeinanderfolgenden Töne,

und auch die melodischen und harmonischen Intervalle allein

sind nicht entscheidend für das Verständnis der musikalischen Zusammenhänge.

Wesentlich ist auch, daß die charakteristischen Intervalle dieser Reihe

in stets wechselnde Konfigurationen geraten,

so daß die Reihe mehrfach nacheinander in stets wechselnden Konstellationen

zu hören ist.

Das wichtigste Beispiel für diese Technik ist die Verwendung eines Zitats,

das scheinbar mit dem eigentlichen Thema nichts zu tun hat:

Schönberg zitiert die Tonbuchstaben des Namens b-a-c-h.

Dabei stellt er alle Halbtonschritte deutlich heraus,

die in der Reihe versteckt sind.

Die Tonfolge erscheint erstmals im Zentrum der Einleitung -

im Anschluß daran, daß zuvor alle Reihentöne

Schritt für Schritt eingeführt worden

und auch einige Halbton-Beziehungen zwischen ihnen erkennbar geworden sind.

Die Verwandlung der Reihe in ein Netz von Halbton-Beziehungen

macht deutlich, aus welchem Urmaterial die Reihe entstanden ist:

Aus der chromatischen Skala.

evtl. Schönberg op. 31: b-a-c-h

Die Wachstumsprozesse, mit denen das Stück beginnt, machen deutlich,

auch die Darstellung von Tonstrukturen nicht möglich ist

ohne die Ausbildung plastischer Gestalten.

Dabei können auch rhythmische Prozesse bedeutsam werden,

die sich weitgehend autonom, ohne prinzipiele Abhängigkeit von Tonstrukturen,

zu entwickeln vermögen.

3. Zahlenstrukturen als Regulativ des RHYTHMUS

3.1 Bela Bartok: Allegro barbaro

Musikbeispiel: Bartok, Allegro barbaro

Die berühmten wilden Stampfrhythmen,

die Bela Bartók in seinem Klavierstück "Allegro barbaro" verwendet,

lassen erst bei genauerer Analyse erkennen,

daß sie der Gesetzmäßigkeit

einer mathematisch wohlbekannten Zahlenreihe folgen:

Der Fibonacci-Reihe:

1 2 3 5 8 13

Zu Beginn des Stückes erklingt der Stampfrhythmus 5 Takte lang.

Darauf folgt eine Melodie,

deren Motive sich nicht nur in regelmäßige Taktgruppen unterteilen lassen,

sondern auch in uregelmäßige Abfolgen von Taktgruppen

mit den Taktzahlen 1, 2, und 3 im mehrfachen Wechsel.

Im weiteren Verlauf kommt es zu häufigeren Wechseln

zwischen Stampfrhythmus und melodischen Motivgruppen.

Dabei wechseln die melodischen Gruppen zwischen 2 und 3 Takten,

während sich in den alternierenden Stampfrhythmen

ein systematischer Wechsel

zwischen verschiedenen Fibonacci-Zahlen findet:

8 5 3 13

Der längste Zeitwert steht am Schluß

und bildet so einen wirkungsvollen Abschluß des gesamten ersten Teiles.

Das Modell Bartoks hat Schule gemacht

bis in die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein.

3.2 Karlheinz Stockhausen: Klavierstück IX

Beispiel: Stockhausen, Klavierstück IX Anfang

Klavierstück IX von Karlheinz Stockhausen ist eine Komposition,

deren Analyse durch den Pianisten Herbert Henck

in einer Schriftenreihe erschien, die den Titel

"Interdisziplinäre Beiträge

im Grenzbereich zwischen Musik und Mathematik" führt.

Das Stück gehört zu den bekanntesten Beispielen neuerer Klaviermusik

und ist da es technisch leichter ist als die meisten anderen Klavierstücke Stockhausen, relativ häufig aufgeführt und sogar auf Schallplatte eingespielt worden. Für den Hörer läßt es sich leicht identifizieren an dem Akkord,

der die Komposition in schier endlosen Wiederholungen eröffnet

und der auch im weiteren Verlauf des Stückes noch eine wichtige Rolle spielt.

Die regelmäßigen Repetitionen dieses Akkordes,

die an Bartoks Stampfrhythmen erinnern,

aber dynamisch und in der Binnengliederung abwechslungsreicher behandelt sind.

Auch Stockhausen hat seine Akkord-Wiederholungen

im Rhythmus von Fibonacci-Zahlen dosiert.

Die endlosen Wiederholungen ergeben sich daraus,

daß bei Stockhausen auch größere Fibonacci-Zahlen vorkommen.

Stockhausen geht von zwei verschiedenen Zahlenreihen aus.

Die erste ergibt sich daraus, daß die Summe zweier aufeinanderfolgender Zahlen die drauffolgende dritte ergibt:

1 2 3 5 8 13 21 34 55 89 144

Die zweite Reihe beginnt ebenfalls mit der Zahl 1,

und ihre weiteren Zahlen ergeben sich durch fortlaufende Addition von Zahlen, die, mit 2 beginnemd, von Glied zu Glied

entsprechend der Abfolge der Fibonacci-Zahlen anwachsen.

Dies ergibt folgende Zahlenfolge:

1 3 6 11 19 32 53 87 142

+2 +3 +5 +8 +13 +21 +34 +55

Dieser Zahlenreihe folgt Stockhausen, wenn er zu Beginn des Stückes den Akkord 142mal spielen läßt und anschließend 87mal - jedes Mal laut beginnend und anschließend in einem langen Diminuendo verlöschend.

Danach folgt, im langsameren Tempo,

eine chromatische Skala, deren ausgehaltene Töne

in ihren Dauern durch die ursprüngliche Fibonacci-Reihe bestimmt sind.

Diese Reihe erscheint auch im weiteren Verlauf,

wenn das ursprüngliche Tempo und auch der Ausgangsakkord wiederkehrt -

jetzt noch kürzer als zuvor:

in kurzen Gruppen mit wechselnden Fibonacci-Anschlagszahlen

(13 21 1 8 5 2 3),

unterbrochen durch Fibonacci-Pausenwerte

(2 8 3 1 13 5).

Im weiteren Verlaufe des Stückes

lösen sich die Blöcke mit den Akkord-Repetitionen mehr und mehr auf,

bis schließlich die Entwicklung in leisen, raschen Tongruppen mündet.

Karlheinz Stockhausen hat die Formentwicklung des Stückes

in einem Werkkommentar mit folgenden Worten beschrieben:

In Klavierstück XI werden Formen der musikalischen Zeit vermittelt:

Periodizität und eine ganze Reihe von Graden der Aperiodizität.

Starre, "monotone" Ereignisse

verwamdeln sich in flexible, "polytone";

sie stehen unvermittelt schroff nebeneinander

oder mischen sich in stets neuen Verbindungen.

Herbert Henck hat in seiner Analyse die Formentwicklung des gesamten Stückes

mit folgenden Worten beschrieben:

So stabil und persistent bohrend, so kategorisch wie imperativ

der Beginn des Stückes, so vage und dem Zugriff entgleitend sein Ende(...)

Dieser Vorgang des Sich-Verlierens

schließt aber den Kreis zum Anfang:

Man erkennt, daß er bereits in der allerersten Akkordkette beinhaltet war(...)

In dieser Deutung erscheinen Stockhausens Zahlenstrukturen

als Mittel der Artikulation eines zusammenhängenden Formprozesses.

4. Zahlen- und Mengenstrukturen als Regulativ

von TONRAUM- UND ZEITSTRUKTUREN

4.1 Iannis Xenakis: Metastaseis

Wohl niemand hat bisher in der Musik

eine originellere Verwendungsweise von Fibonacci-Zahlen gefunden

als Iannis Xenakis zu Beginn seines Orchesterstückes Metastaseis.

Diese Zahlen sind hier so eingesetzt,

daß sie den kontinuierlichen Klangfluß

von dichten Glissando- und Clusterstrukturen der Streicher gliedern.

Sie erscheinen nicht mehr als Dauern einzelner Töne,

sondern als Dauern einzelner,

womöglich in ständiger Veränderung befindlicher Formstadien.

55 Takte einer zusammenhängenden Formentwicklung

sind unterteilt in

34 Glissandotakte und

21 Takte mit gleichbleibenden Tonhöhen.

(davon 13 Takte arco - unter ihnen die letzten 5 mit Pizzicato-Einsprengseln -

und anschließend, nach einer Zäsur, 8 Takte Tremolo)

Im Gesamt-Zusammenhang des Stückes

entspricht der einleitenden Formentwicklung,

die vom einzelnen Ton zum dichten Cluster führt,

eine abschließende Formentwicklung,

die wieder zum Einzelton zurückführt.

Die Fibonacci-Zahlen,

die in den Anfangs- und Schlußabschnitten besonders deutlich hervortreten,

spielen in vielen konstruktiven Details des gesamten Stückes

eine wesentliche Rolle..

Der Anfangs-Abschnitt von Metastaseis

mit seinen dichten Glissandi

des vollständig in divisi-Technik aufgeteilten Streichorchesters

ist die erste zusammenhängende Glissando-Struktur der Musikgeschichte.

Selbst der ausgehaltene Ton wird in dieser Musik zum Sonderfall einer Tonkurve:

zu einer Tonlinie mit dem Anstiegswert 0 (zu einer horizontalen Linie).

Für eine so konzipierte Musik

gab es in der Entstehungszeit des Stückes, in den fünfziger Jahren,

zunächst keine musiksprachlichen Modelle.

Alle überlieferten Kompositionstechniken hatten sich

auf die Arbeit mit festen, unveränderlichen Tonhöhen konzentriert.

Auch Xenakis selbst wußte zunächst noch keine für ein vollständiges Werk tragfähige konstruktive Lösung für den Umgang mit Glissandi.

Deswegen arbeitete Xenakis in Metastaseis nicht ausschließlich mit Glissandi,

sondern konzentrierte sich im Zentrum des Werkes auf serielle Strukturen mit festen Tonhöhen.

3.2 Aspekte der kompositorischen Entwicklung von Iannis Xenaks

seit den fünfziger Jahren:

Von der deterministischen zur stochastischen Musik

Von entscheidender Bedeutung war, daß Xenakis in Metastaseis

die Glissandi als Massenphänomene eingeführt hatte.

Dies bereitete in seiner Arbeit den Weg zur konstruktiven Auseinandersetzung

mit Massenphänomenen unterschiedlichster Art;

dies konnten nicht nur Glissandoknäuel sein

wie im ersten Orchesterstück Metastaseis -

oder, einige Jahre später,

in der ersten elektrakustischen Komposition Diamorphoses -,

sondern auch Klangwolken - dichte Anhäufungen von Impulsen

wie im zweiten Orchesterstück Pithoprakta

oder in der zweiten elektroakustischen Komposition Concret PH.

Xenakis versuchte, die Klangelemente seiner Massenstrukturen

mit Hilfe von Wahrscheinlichkeits-Berechnungen festzulegen.

In der Komposition Achorripsis übertrug Xenakis

die Arbeit mit statistisch regulierten Klangzellen

vom großen Orchester auf ein Kammerensemble.

Im Klavierstück Herma geht Xenakis noch einen Schritt weiter:

Tönestrukturen werden als Mengen definiert,

und der Ablauf des Stückes ergibt sich aus Abfolgen verschiedener Mengen,

die aus den Grundmengen und aus deren mengentheoretischen Verknüpfungen abgeleitet sind.

Zu Beginn von Herma hört man zunächst, in einer weiträumig expanisven Formentwicklung, ein Wechselspiel aller verfügbaren Töne, d. h. innerhalb der Gesamtmenge R aller Klaviertöne; dann hört mann die drei Einzelmengen, wobei jeder dieser Teilmengen sogleich die zugehörige Komplementärmenge folgt; anschließend folgen Durchschnittsbildungen und schließlich noch komplexere Ableitungen, in die auch Vereinigungsmengen einbezogen sind. - Um dem Hörer eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Mengen zu erleichtern, hat Xenakis sie mit deutlichen flächendynamischen Unterschieden voneinander abgehoben.

Die verschiedenen Mengen und Teilmengen in Herma lassen sich intraditioneller Terminologie als Tonskalen beschreiben. Von traditionellen Tonskalen unterscheidet sie allerdings eine charakteristisch vorgeprägte Intervallstruktur: Die Töne einer Skala ergeben sich als Ausfilterung aus der Gesamtheit der Klaviertöne, nicht im synthetischen Aufbau von Ton zu Ton. - Dennoch kann man sagen, daß in Herma erste Keime für die spätere intensive Beschäftigung des Komponisten mit Skalen-Konstruktionen sich finden lassen.Wie aus diesen Skalen-Konstruktionen musikalische Zusammenhänge sich entwickeln können, läßt sich studieren an dem Klavierstück Mists:

Diese Komposition geht aus von einer einleuchtenden spieltechnischen Idee: von aufsteigenden, fast den gesamten Tonraum durchmessenden skalenförmigen Tonbewegungen - in einer einzigen Linie beginnen, dann sich mehrschichtig überlagernd in verschiedenen Geschwindigkeiten, sich beschleunigend und verdichtend. Aus der spieltechnischen Grundidee einer weiträumigen Skalenbewegung aufwärts in beiden Händen entwickelt sich die musiksprachliche Idee einer immer wieder in der Tiefe ansetzenden und von dort aufwärts führenden, den gesamten Tonraum durchmessenden Tonbewegung.

Im weiteren Verlauf des Stückes erweitert sich das Reservoir der spieltechnischen und musiksprachlichen Möglichkeiten: rechte und linke Hand verbinden sich jetzt auch in Gegenbewegung: von der mIttellage ausgehend, auseinanderstrebend nach oben und unten.

Einfache und mehrschichte, parallele und sich kreuzende Tonbewegungen prägen den Anfangsteil des Klavierstückes. Die Entwicklung mündet in der gesteigerten Wiederkehr dessen, wovon die Musik ausging: in einer weiträumig aufsteigenden, nachdrücklich artikulierten Aufwärtsbewegung aus der tiefsten in die hohe Lage.

Am Schluß des Stückes kombiniert Xenakis die Techniken der Tonrepetition und der Skalenbewegung. Die Repetitionen erscheinen gleichsam als Schlußsignale: die fortwährende Tonbewegung beginnt zum Stillstand zu kommen. Auch hier wirken wiederum musikpraktische Aspekte auf die Musiksprache zurück.

Auch in den Bildungen miteinander verwandter Skalen arbeitet Xenakis mit mengentheoretischen Operationen, die hier in Mists viel eher plastische Gestaltqualitäten gewinnen als in den massigen Tonstrukturen des älteren Klavierstückes Herma.

Schon in den fünfziger Jahren hat Iannis Xenakis die Formalisierung im Bereiche der Kompositionsregeln so weit vorangetrieben, daß die Voraussetzungen für die Ermöglichung computergenerierter Partituren erfüllt zu sein schienen. Dies war für Xenakis der erste Schritt zur Computermusik. Später wandte er sich auch der computergenerierten Klangerzeugung zu.

Wohl für keinen anderen Komponisten spielen Anregungen aus Mathematik und Naturwissenschaften eine so wichtige Rolle wie für Iannis Xenakis. Schon in den fünfziger Jahren ging es ihm weniger um die Weiterentwicklung traditioneller Kompositionstechniken oder instrumentaler Praktiken als um die Neubestimmung des strukturellen Musikdenkens, der gedanklichen Strukturierung von Details und ihren Formkonstellationen jenseits der traditionellen deterministischen Logik. Xenakis orientiert sich bei der Entwicklung neuer Denkmodelle vorwiegend an überindividuellen (allerdings eng mit seiner eigenen Lebenserfahrung verbundenen) Aspekten: An Erfahrungen mit Massenphänomenen - sei es in der politisch-zeitgeschichtlichen Realität (z. B. Massendemonstraionen in Athen gegen die deutschen Besatzer zur Zeit des Zweiten Weltkrieges), sei es in der Natur (z. B. in den dicht akkumulierten Geräuschen von Zikadenschwärmen. Von diesen Erfahrungen ausgehend, gewann Xenakis Anregungen auch für neue Modelle musikalisch-kompositorischen Denkens: Die Bestimmungen der einzelnen Elemente ergeben sich bei ihm nicht mehhr als Konsequenzen einer deterministischen kausalen Logik, sondern nach Prinzipien der Wahrscheinlichkeitslogik: Die einzelnen Töne und Geräusche und ihre Veränderungen lassen sich bei Xenakis eben so wenig individuell erfassen wie die Aktionen einzelner Menschen in einer Massendemonstration oder die Lautgebungen einer einzelnen Zikade im komplexen Massen-Geräuschkonzert einer griechischen Sommernacht. Für Xenakis ergeben sich Chaos und Zufall als Bestandteile einer Realität, die - sei es in der Natur, sei es in der politischen Realität - mathematisch strukturierbar gedacht ist (strukturierbar z. B. nach Modellen der Wahrscheinlichkeitsrechung und der Mengenlehre).Im Werk von Xenakis zeigen sich vielfältige, bei weitem noch nicht ausgeschöpfte Ansätze künftiger Affinitäten zwischen Mathematik und Musik.

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