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Musik - Akustische Kunst?
Entwicklungsansätze in der Musik des 20. Jahrhunderts
als Keime von Visionen der Musik im 21. Jahrhundert
Vorbemerkungen
Visionen für das 21. Jahrhundert sind einerseits sehnlichst erwünscht, andererseits offensichtlich schwer zu entwickeln. Erwartungen an eine künftige Zeit sind oft zwiespältig. Ergeben können sie sich einerseits aus produktiver Kritik an unbefriedigenden Aspekten der Gegenwart, andererseits aus der Konzentration auf erste bereits sichtbare Keime neuer Entwicklungen, die Anlaß zu Hoffnungen geben.
Auch derjenige, der den Zufälligkeiten des Dezimalsystems in unserer Zeitrechnung mißtraut, könnte Anlaß finden, im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts musikalische Entwicklungen zu bilanzieren und gleichzeitig die Rückschau zu ergänzen durch die Suche nach noch Unfertigem, der weiteren Entwicklung Bedürftigen oder nach Defiziten, die das Bedürfnis nach neuen Anfängen wecken könnten. Zu beidem lassen sich Gründe finden, wenn man versucht, Entwicklungen des Jahrhunderts in größeren Zusammenhängen zu reflektieren (unabhängig davon, daß der Versuch, dieses Jahrhundert als musikgeschichtliche Epoche sinnvoll abzugrenzen und zu gliedern, im Detail von manchen Schwierigkeiten und Unsicherheiten belastet sein kann.
Wenn man versucht, wichtige musikalische Neuerungen in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts zu benennen, dann könnte man für beide Jahrhunderthälften unterschiedliche Akzente setzen:
Für die erste Jahrhunderthälfte die Suche nach Alternativen zur überlieferten tonalen Musiksprache, für die zweite Jahrhunderthälfte die Suche nach Alternativen zur überlieferten vokal-instrumentalen Musikpraxis ( einschließlich der traditionellen Arbeitsteilung zwischen Komponisten und Interpreten ). Die Frage nach beiden Alternativen war längerfristig vorbereitet, und die Suche nach adäquaten Antworten war in beiden Fällen langwierig, mühsam, von vielen Irrwegen und Rückschlägen belastet. Wichtige Positionen der nichttonalen Musik wurden schon vor Beginn des 20. Jahrhunderts bezogen, vor allem im Spätwerk von Liszt und in Musik des jungen Charles Ives. Auch die Suche nach Alternativen zur tradierten live-Musikpraxis mit Stimmen und herkömmlichen Instrumenten begann nicht erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts , sondern läßt sich zurückverfolgen bis in die Anfänge dieses Jahrhunderts - etwa in die musiktheoretischen Zukunftstheorien von Feruccio Busoni, die später vor allem für die Lebensarbeit von Edgard Varèse so wichtige Konsequenzen haben sollten. Dennoch kann man - ohne allzu stark zu vereinfachen sagen - sagen, daß die Loslösung von der Tonalität vor allem die erste Jahrhunderthälfte geprägt hat, die Loslösung von der live-Musikpraxis vor allem die zweite. Beide Entwicklungen sind bis heute nicht abgeschlossen, und beide bauen in gewisser Weise aufeinander auf - gleichsam als "unbeantwortete Fragen" in erster und zweiter Potenz. Bemerkenswert ist, daß zwar die zweite Frage später in den Vordergrund getreten ist, daß aber die Konturen ihrer Antwort ( wenn schon nicht die Antwort selbst ) sich wesentlich rascher abzeichneten.
Was die Loslösung von der Tonalität konkret bedeutet, ist noch heute so wenig geklärt, daß immer noch unbestimmte Negativbegriffe wie das Wort "Atonalität" zur Diskussion stehen; eine überzeugende und allgemeinverbindliche Alternative zur tonalen Musik positiv zu benennen, fällt nach wie vor schwer. Im Falle der Ablösung der traditionellen Musikpraxis stellt sich das Problem ganz anders: Es ist klar, worin die Alternative besteht - nämlich in der technisch produzierten Musik. Von wenigen und vereinzelten Vorformen abgesehen, waren die technischen und organisatorischen Voraussetzungen zur dauerhaften Durchsetzung erst kurz vor der Mitte des 20. Jahrhunderts erfüllt: 1948 realisierte Pierre Schaeffer seine erste Produktionen einer "musique concrète" - der ersten technisch produzierten Musik, die sich in der Folgezeit als längerfristig entwicklungs- und ausbaufähig erweisen sollte. Seit dieser Zeit hat die Problematik der technisch produzierten Musik definitiv ihren Platz in den jeweils aktuellen musikalischen Diskussionen gefunden - allerdings nicht in der Weise, daß sie sich vollständig durchgesetzt und die Musik mit konventionellen Klangmitteln vollständig verdrängt hätte, sondern eher im Sinne einer permanenten "unanswered question". Wenn man nach "Visionen für das 21. Jahrhundert" sucht, dann könnte man sich Entwicklungen wünschen, in denen diese "unanswered question" vielleicht dereinst einer Lösung näher gebracht wird, so daß endlich andere , für die künftige Enwicklung womöglich noch wichtigeren Fragen an ihre Stelle treten können. Zu fragen wäre nach "Visionen für das 21. Jahrhundert", in denen nicht nur das Problem der Atonalität, sondern auch das Problem der technisch produzierten Musik wenigstens insoweit geklärt wird, daß sie nicht mehr der Formulierung weiter führender, für die Zukunft womöglich wichtigeren Fragen im Wege stehen. Die Beschreibung und genauere Konkretisierung solcher Visionen ist zweifellos schwierig und mit vielfältigen Ungewißheiten belastet. Vielleicht aber kann man sich mit diesen Schwierigkeiten in der Weise auseinandersetzen, daß man genauere Überlegungen über die derzeitige Situation der Neuen Musik anstellt.
1. Fragen an Musik und Geschichte von 1994
In manchen musikgeschichtlichen Situationen können sich Fragen stellen, die zunächst einigermaßen simpel erscheinen, aber gleichwohl als Impuls für weitere Überlegungen möglicherweise nützlich sind.
Vielleicht gilt das auch für die Musik der frühen neunziger Jahre. Wenn man etwa fragen wollte, ob ihre Zeit eher als Abschluß einer zu Ende gehenden Jahrhunderts oder als Vorbereitung einer neuen beschrieben werden kann, dann muß man sich über die Fragwürdigkeit dieser Frage im Klaren sein. Natürlich lassen sich solche Fragen nicht nur heute an unser Jahrhundert stellen, sondern heute wie früher hätte man auch Anlaß finden können, die neunziger Jahre etwa des neunzehnten Jahrhunderts ähnlich zu befragen - wenn man meint, daß es sinnvoll ist, von einer Musik des 20. Jahrhunderts zu sprechen, die tatsächlich vor 1900 beginnt und nicht etwa erst 1914. Die neunziger Jahre als Abschluß oder als Auftakt zum Neubeginn - beide Möglichkeiten sind selbst für das neunzehnte Jahrhundert beileibe noch nicht ausdiskutiert, geschweige denn für das zwanzigste, in dem die Frage nach dieser Alternative sich zur Zeit ohne leichtsinnige Prophetie noch gar nicht beantworten läßt.
Es liegt nahe, dieser Frage grundsätzlich zu mißtrauen: Jahrhunderte und Jahrzehnte sind willkürliche Markierungen, die sich weder für die Gegenwart noch für die Vergangenheit eignen - auch dann nicht, wenn sie aus leicht nachvollziehbaren Gründen ein wenig hin-und hergeschoben werden, wenn man etwa mit der Jahreszahl 1789 de facto ein neues Jahrzehnt oder gar ein neues Jahrhundert beginnen will. In der Musikgeschichtsschreibung sind solche Markierungen oder Ummarkierungen besonders problematisch, wenn sie offensichtlich von außermusikalischen Geschichtszäsuren inspiriert sind, wenn aber trotzdem der Anspruch auf "autonome" Musikgeschichtsschreibung aufrechterhalten bleibt. Wenn man meint, daß das Jahr 1789, das erste Jahr der französischen Revolution, eine Zäsur nicht nur für die politische Geschichte bedeutet, sondern auch für die Musikgeschichte, dann löst man sich vom Aberglauben an Jahrzehnte und Jahrhunderte. Schwieriger ist es, wenn man in eine Standortbestimmung der Musik von 1994 nach der Zäsurfunktion des Jahres 1989 fragt. 1989, das Jahr der weltweit, zwischen Peking und Osteuropa ausbrechenden Krise des Kommunismus und damit der weltweiten Staats- und Wirtschaftsstrukturen - dieses Jahr ist offensichtlich für die Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts nicht weniger bedeutsam als etwa das Jahr 1945. Die Tragweite der damals aufgebrochenen politischen Veränderungen läßt sich wahrscheinlich bis heute noch nicht einigermaßen zuverlässig abschätzen, auch nicht ihre Bedeutung für die Musikgeschichte. Wer die politisch-historische Tragweite hoch einschätzt, wird vielleicht intensiv nach möglichen musikgeschichtlichen Auswirkungen fragen - oder er wird vielleicht auch nachdenklich werden, wenn wichtige Auswirkungen einstweilen nicht ohne weiteres zu finden sind. Muß es den Musikwissenschaftler und den Musikinteressierten beunruhigen, wenn in Jahren weitreichender politischer Umbrüche die Musikgeschichte einfach weitergeht, als wäre nicht geschehen? Sind Ereignisse, die unsere Lebenswirklichkeit, unsere Erfahrung grundlegend zu verändern beginnen, nicht auch für die Musik von Bedeutung? Oder sind für solche Erfahrungen die Grenzen der Musik zu eng, so daß man eher nach einer weiter gefaßten Kunst fragen sollte, etwa nach der Akustischen Kunst?
2. Musik und Akustische Kunst
im politischen Wandel
Die politische und musikgeschichtliche Bedeutung des Jahres 1989 ist in gewisser Hinsicht paradox: Das erste weltweit bedeutsame Ereignis in diesem Jahr des Umbruchs war der Pekinger Studentenaufstand, Diese Revolution ist im ersten Anlauf gescheitert, aber sie gab gleichwohl das Signal für entscheidende Veränderungen im gesamten kommunistischen Machtbereich (die in Deutschland derzeit allzu häufig nur unter begrenzter Perspektive gesehen werden im Zeichen des Untergangs der DDR und der deutschen Wiedervereinigung.). Trotz aller Unterschiede im Detail muß es deswegen vertretbar erscheinen, das Jahr 1989 in seiner politischen Bedeutung zu vergleichen mit dem Jahr 1789. Wer dies für akzeptabel hält, kann auch danach fragen, ob es heute schon möglich ist, beide Jahre auch in ihrer Bedeutung für die Musikgeschichte zu vergleichen. Die Meinung, daß beide Jahre, 1789 und 1989 für die Musikgeschichte völlig bedeutungslos sind, kann man vielleicht - als pointierte Überspitzung strikt autonomer Musikgeschichtsauffassung - zunächst einmal vernachlässigen: Die Tragweite vor allem der Französischen Revolution für die Musikgeschichts-Entwicklung ist allzu offensichtlich, als daß man sie einfach abstreiten könnte. Im Falle des Jahres 1989 allerdings könnte die Situation sich etwas anders darstellen: Sind die musikalischen Auswirkungen der damaligen politischen Ereignisse nicht tatsächliche einigermaßen bescheiden geblieben? Und kann dies nicht zu Fragen führen, die weniger die politische Bedeutung der damaligen Ereignisse in Frage stellen als die Sensibilität der Musik und der Verantwortlichen des Musiklebens, darauf zu reagieren?
Musik, die im Zeichen einer zum Scheitern verurteilten Revolution konzipiert wurde, kann man vielleicht in Wagners 1848 begonnenen "Ring des Nibelungen" finden, aber bis heute wohl kaum in einem ähnlich weitreichenden kompositorischen Konzept aus dem Jahre 1989. Die Musikentwicklung dieses Jahres verlief - zumindest in den westlichen Ländern - in diesem Jahr weitgehend "nach Plan", d.h. unbeeinflußt von der politischen Tagesaktuaktualität. Erst die Zufälle solcher an das Dezimalsystem gebundenen Gedenkjahre führten dazu, daß Kompositionen zum Gedenken an das Jahr 1789 entstanden, die dann in der politischen Realität des Jahres 1989 überraschende politische Aktualität gewinnen sollten - zum Beispiel "Frau - Stimme" von Wolfgang Rihm in Verbindung mit einem auf 1789 bezogenen Text von Heiner Müller oder "Fragende Ode " von Maurizio Kagel , eine vielsprachige skeptische Vertonung des schwierigsten Schlagwortes des Französischen Revolution Liberté. Diese Stücke entstanden als längerfristig terminierte Kompositions-
aufträge. Ihre aktuelle politische Brisanz ist erst im nachhinein deutlich geworden - bei der Uraufführung in einem Revolutions-Gedenkjahr, das inzwischen zum ersten Jahr einer neuen Revolution zu werden begonnen hatte. Bei diesen Stücken haben die für Avantgardemusik dieser Zeit üblichen Kompositions- und Aufführungsbedingungen eine direkte Reaktion auf aktuelle politische Ereignisse unmöglich gemacht. Umso wichtiger war es, da jenseits dieses musikalischen Bereiches künstlerische Arbeiten entstehen konnten, die sich der politisch reflektierten Kunst intensiver näherten, - im Bereich der Akustischen Kunst, der unter technischen Bedingungen erweiterten und von traditionellen Begrenzungen befreiten Hörkunst.
Ein scheinbar zufälliges Zusammentreffen verschiedener Umstände hat dazu geführt, daß das Jahr 1989 besonders nachhaltige Spuren in einem ästhetischen Zwischenbereich hinterlassen hat - in einem Projekt, das ursprünglich im Bereich der Musik konzipiert wurde, das dann aber im Prozeß der Realisierung sich bald über die Grenzen der Musik hinausentwickelte. Was ursprünglich geplant war, veränderte sich im Prozeß der Realisierung - und zwar nicht nur in der ästhetischen Position, im Wechsel von musikalischen zu musikübergreifenden Aspekten, sondern auch in der Themenstellung: Ursprünglich war ein historisch orientiertes Projekt geplant, das 1989 das 200. Gedenkjahr der Französischen Revolution musikalisch behandeln sollte. Initiator dieses Projektes waren die Leiter eines französischen Festivals, das sich seit den frühen sechziger Jahren zu einem wichtigen internationalen Zentrum der Lautsprechermusik entwickelt hat: Christian Closier und Francoise Barrière, die kompositorischen Leitfiguren einer Arbeitsgruppe, die in der mittelfranzösischen Stadt Bourges ein elektroakustisches Studio betreibt und im Brennpunkt dieses Studios auch alljährlich ihr internationales Festival elektroakustischer Musik organisiert. Durch Gastaufenthalte ausländischer Komponisten im Studio, durch einen internationalen Kompositionswettbewerb und durch einen reichhaltigen internationalen Programmaustausch haben sich in Bourges zu verschiedenen Ländern und Kontinenten so intensive Kontakte entwickelt, daß sich internationale Gemeinschaftsprojekte von Komponisten aus verschiedenen Ländern entwickeln konnten - beispielsweise 1981 ein Projekt zum Thema "Menschenrechte", an dem sich nicht nur Komponisten beteiligten, sondern auch Vertreter der experimentellen Sprech- und Lautkunst, der sound poetry bzw. der poésie sonore, z.B. deren berühmter Erfinder, einer ihrer erfindungsreichsten Autoren, Rezitatoren und Monographen, nämlich Henri Chopin. Schon 1981 wurde also deutlich, daß musikübergreifende Themen auch im Prozeß der Ausführung über die engeren, aus der Tradition geläufigen Grenzen der Musik hinauswachsen könnten. 1989, als wiederum ein großes Gemeinschaftsprojekt entstand, wurden zunächst vorwiegend Komponisten zur Mitarbeit aufgefordert; bei der praktischen Ausführung zeigte sich dann aber, daß sogar die Musiker selbst sich jetzt intensiv darum bemühten, in ihren Beiträgen die engen Grenzen der Musik zu überwinden. Jetzt ging es nicht mehr nur darum, daß, wie 1981, experimentelle Literaten oder experimentelle Komponisten selbständige, nur durch das übergeordnete Thema locker koordinierte Arbeiten zur Aufführung brachten, die teils eher der Musik, teils eher der Literatur zuneigten, sich gelegentlich aus Zwischenformen zwischen beiden Bereichen entwickelten. . 1989 war das Projekt von den Veranstaltern ausführlicher vorstrukturiert mit Vorschlägen nicht nur zur Beschränkung auf verschiedene thematische Textbereiche, sondern auch zur Verarbeitung bestimmter vorgegebener Klangmaterialien: Im einem wie im anderen Falle waren die Vorschläge so ausformuliert, daß sie viele Künstler von vorneherein zur Grenzüberschreitung mobilisierten, insbesondere zur engen Integration von mitteilender Sprache und Stimmäußerung, von reale Sachverhalte verweigernden Geräuschen und von musikalisch autonomen Klängen bzw. von vorgefundener und sich zur technischen Verarbeitung ausbreitender Musik. Entsprechend vielfältig waren die Klangmaterialien, die die Veranstalter aus Bourges allen an der Mitarbeit interessierten Künstlern anboten:
-Sprachaufnahmen, beispielsweise Rezitationen verschiedener Verfassungstexte aus den Anfangsjahren der Französischen
Revolution.
-Geräuschaufnahmen z.B. von Trommeln, wie sie zur Revolutionszeit bei Hinrichtungen mit der Guillotine gespielt wurden.
-Musikaufnahmen z.B. die bekanntesten französischen Revolutionslieder, das makabre Spottlied über die Guillotine und die Erfindung der Guillotine oder die Marseillaise.
Die Verwendung dieser Klangmaterialien waren den Teilnehmern nicht zwingend vorgeschrieben. Sie waren lediglich als Angebot zur eventuellen Auswahl gedacht, dessen Spektrum ohnedies bei der Beschränkung auf ein bestimmtes Thema sich beträchtlich verengen konnte. In günstigen Fällen führten die Vorschläge aus Bourges dazu, daß besonders einfallsreiche unter den mitwirkenden Künstlern für ihr spezifisches Thema selbst auf die Suche nach geeigneten Materialien und technische Verarbeitungsweisen gingen. Sehr viele von ihnen begaben sich damit in ästhetische Zwischenzonen zwischen reiner Musik und hörspielartigen Ausgestaltungen von Stimmlauten, Sprechtexten und realitätsbezogenen Geräuschen. Je mehr die verschiedenen Bereiche miteinander verschmolzen, desto deutlicher kristallisierte sich eine künstlerische Darstellungsform heraus, in der die traditionellen Abgrenzungen etwa zwischen Musik und Hörspiel deutlich in Frage gestellt sind. So entsteht als Integrationsform etwas neues: Akustische Musik
Die politisch orientierten internationalen Gemeinschaftsprojekte, die von Bourges aus initiiert wurden, geben sinnfällige Beispiele für die ästhetischen Möglichkeiten einer Akustischen Kunst, einer Kunst, deren Entwicklungsspuren sich weit zurückverfolgen lassen bis mindestens in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, einer Kunst aber auch, auf die sich viele Fragen nach Gegenwart und Zukunft der Musik konzentrieren. Das wichtigste Kriterium dieser neuen Kunst sind ihre modernen technischen Möglichkeiten. Experimentelle Literaten müssen in Akustischer Kunst nicht mehr unbedingt ihre texte zunächst exakt aufschreiben, damit sie später richtig gelesen und angemessen rezitiert werden können. In entsprechender Weise sind experimentelle Komponisten in Akustischer Kunst nicht mehr unbedingt darauf angewiesen, Klänge und Klangverbindungen entsprechend ihren Vorstellungen im voraus aufzuschreiben, damit sie später von Spielern oder Sängern notengetreu aufgeführt werden können. In Akustischer Kunst können beliebige Klänge der Stimme, aus der realen Hörwelt, aus vorgefundener oder neu gestalteter Musik aufgenommen und technisch verarbeitet werden - unabhängig davon, ob sie womöglich im Rohzustand eher der Musik oder der Natur oder einer realistischen-reportagehaften Geräuschkunst zurechenbar sind. Bei der Arbeit im Tonstudio ist es für die Techniker der Aufnahme und der klanglichen Verarbeitung zunächst weitgehend unwesentlich, ob man ausgeht von Stimm- und Sprachaufnahmen, von Geräuschaufnahmen, von bekannten oder unbekannten musikalischen Klängen oder Klangkonstellationen. Das Tabu einer autonomen, von anderen Künsten klar abgrenzbaren Musik wird damit deutlich in Frage gestellt - und dies hat sich für die Musikentwicklung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wahrscheinlich als etwa so bedeutsam erwiesen wie die Verletzung eines anderen Tabus in der ersten Jahrhunderthälfte: des Tabus der naturgegebenen ästhetisch verbindlichen Tonalität.
Natürlich ist es schwierig, bei der Behandlung eines historisch weit zurückliegenden Themas moderne Möglichkeiten der elektroakustischen Produktion und Verarbeitung von Klängen in angemessener Weise einzusetzen. Die akustische Realität einer Zeit, die vor der Erfindung der Tonaufzeichnung liegt, läßt sich nicht angemessen rekonstruieren - selbst dann nicht, wenn etwa in modernen Aufnahmen älterer Musik ein historisch möglichst authentisches Klangbild angestrebt wird. Moderne Hörbilder über die Zeit der Französischen Revolution sind nicht weniger fiktiv als sinfonische Programmusik über historische sujets, sei sie älteren oder neueren Datums. Überdies sind auch elektroakustische Klangmittel nicht von vorneherein dagegen gefeit, für altbekannte ästhetische Funktionen der illustrativen oder programmgebundenen Musik eingesetzt zu werden. Aus verschiedenen Gründen wird also deutlich, daß ein internationales Kompositionsprojekt zum Gedenken an die Französische Revolution im Jahre 1989 durchaus als problematisch erscheinen kann - und dies läßt sich an verschiedenen Beiträgen des Bourges-Projekts prägnant belegen. Beispielsweise gab es Beiträge mit rein elektronischen Klangstrukturen, die auf das gestellte Thema - wenn überhaupt - dann oft nur mit Hilfe eines verbalen Kommentars beziehbar waren. Mit anderen Worten: Rein elektronische, insoweit abstrakte und der allgemeinen Hörerfahrung fernstehende Klänge und Klangstrukturen setzten der semantischen Dechiffrierung oft nicht weniger erhebliche Schwierigkeiten entgegen, als instrumentale Programmusik im traditionellen Sinne. Viel leichter konnte demgegenüber die Deutung dann erscheinen, wenn ein Komponist in sein Stück verständliche Sprache, identifizierbare Geräusche oder aus der Erfahrung weithin bekannte vorgefundene Musik eingesetzt hatte - z.B. Trommelwirbel oder historisch revolutionäre Lieder. Im letzteren Falle aber traten neue Probleme auf: Ist die Verwendung solcher leichterkennbaren Klangsignale oder Klangsymbole auf dem heutigen differenzierten Entwicklungsstand der elektroakustischen Musik überhaupt noch zeitgemäß - oder müssen solche akustischen Zitate oder Quasi-Zitate, um überhaupt verständlich zu bleiben, in einem ästhetisch problematischen Rohzustand belassen werden? Aus der Perspektive der heute relativ leicht zugänglichen technischen Möglichkeiten wäre es ja durchaus nicht schwierig, vorgegebene Klänge auf vielfältige Weisen zu verfremden, zu verarbeiten oder zu verwandeln. Umso mehr kann es überraschen, daß solche Möglichkeiten in der kompositorischen Praxis bisher nur relativ behutsam und selten angewandt worden sind. Man kann verschiedener Meinung darüber sein, ob dies eher mit dem derzeitigen Erfahrungsstand der Komponisten zu erklären ist oder mit dem Erfahrungsstand der Hörer, an die sie sich wenden. Schon die gestellte Alternativfrage bedeutet wohl eine problematische Verfremdung. da ja auch die Komponisten an der allgemeinen Hörerfahrung nicht grundsätzlich anderen Bedingungen unterliegen als ihr potentielles oder aktuelles Publikum. Wie auch immer man in dieser Frage denken mag - vieles spricht jedenfalls für die Annahme, daß die neuen technischen Möglichkeiten der elektroakustischen Musik die allgemeine Hörerfahrung bisher wesentlich weniger verändert haben als die kompositorische Praxis. Wenn Komponisten spüren, daß das von ihnen Intendierte nicht oder nur unvollkommen oder falsch verstanden wird. dann kann dies - gerade im Falle einer politisch intendierten Musik - nachhaltige Auswirkungen haben. Wer aber identifizierbare, der realen Hörwelt entnommene Klänge bevorzugt, muß sich vom Andersdenkenden der ästhetischen Regression bezichtigen lassen, des Verrats der kompositorischen Differenzierung von Gestalten und Formen an eine auf vordergründige Verständlichkeit ausgelegte inhaltliche Aussage; wer andererseits diesen Preis nicht zu zahlen bereit ist, kann womöglich nicht damit rechnen, ohne weiteres inhaltlich verstanden zu werden. Im einem wie im anderen Falle stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls in welcher Weise Antinomien und Antagonismen zwischen neuen Formen und neuen Inhalten überwunden werden können.
Auffällig ist, daß viele für das Projekt von Bourges komponierte Tonbandstücke mit historisch geprägten Klangmaterialien in einer Weise umgehen, die zum Vergleich herausfordert mit einer mehr als zwei Jahrzehnte älteren elektroakustischen Komposition: "Mit den Hymnen" von Karlheinz Stockhausen, die 1967 in Köln uraufgeführt worden sind. Auch in Stockhausens abendfüllenden Werk spielt beispielsweise die "Marseillaise" eine wichtige Rolle. Der Unterschied zu den in Bourges komponierten Werken aber ergibt sich nicht nur aus anderen studiotechnischen Bedingungen, sondern auch aus einer anderen kompositorischen Konzeption: Die relativ kurzen Stücke für Bourges konzentrieren sich auf ein historisches Ereignis in einem bestimmten Lande ( das allerdings weltweite, bis ins 20. Jahrhundert hineinreichende Auswirkungen hat: Die Auswirkungen des 1789 Begonnenen reichen bis zur russischen Revolution des Jahres 1917 und zu ihren längerfristigen internationalen Konsequenzen).
Vieles spricht für die Annahme, daß vor allem im 20. Jahrhundert viele Aspekte der kompositorischen Entwicklung auch im Zusammenhang mit der politischen Geschichte erfaßt werden müssen - z.B. von Ereignissen der Jahre 1914, 1917 und 1918, 1933, 1945 und 1968. Die Frage liegt nahe, ob in dieser Reihe wichtiger Jahreszahlen auch das Jahr 1989 gehört. Noch ist nicht deutlich zu erkennen, daß sich nach diesem internationalen Krisenjahr des Zusammenbruches kommunistischer Systeme,(das zum Anfangsjahr weit darüber hinaus reichender politischer Veränderungen geworden ist)die Musik sich so grundlegend verändert hätte wie etwa nach Ende des ersten oder zweiten Weltkrieges. Die musikalischen Veränderungen des Jahres 1989 scheinen schwer erfaßbar zu sein - vielleicht aus ähnlichen Gründen wie diejenigen des Jahres 1968. Schwierig erscheint auch der Versuch, ihre musikalischen Konsequenzen zu beziehen auf die grundlegenden Veränderungen, die die Musikentwicklung des gesamten 20. Jahrhunderts bestimmen, auf die nach Möglichkeiten nicht-tonaler und technisch produzierter Musik. Wenn man nach Visionen für die Musikentwicklung des 21. Jahrhunderts fragt, dann denkt man vielleicht auch an wichtige musikalische und musikübergreifende Probleme, die in diesem Zusammenhang auch im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts noch als weitgehend ungelöst gelten müssen. Daß die beiden Weltkriege und ihre politischen Konsequenzen wichtige Auswirkungen auch für die Musikgeschichte mit sich brachten, dürfte wohl kaum jemand bestreiten, wenn er nicht etwa die Extremposition einer völlig autonom vorgestellten Geschichte der musikalischen Gattungen, Texte und Werke bezieht. Weitgehend unumstritten dürfte auch die Feststellung sein, daß die Schwerpunkte neuer Überlegungen nach beiden Weltkriegen durchaus unterschiedlich besetzt wurden. nach dem Ende des ersten Weltkriegs stellte sich das Problem, daß einerseits der Durchbruch zum Neuen, d.h. vor allem die Liquidation der Tonalität, schon vor dem Kriege begonnen hatte, daß aber andererseits nach dem ersten Schock der kriegerischen Katastrophen nacht einfach mehr die Vorkriegsentwicklung fortsetzten konnte oder wollte, sondern nach völlig neuen Wegen suchte. Der Erfolg dieser Suche kann nicht unbedingt überzeugend erscheinen, wenn man bedenkt, daß er sich schon frühzeitig verband mit neoklassizistischen Tendenzen, mit der Reetablierung tradierter Prinizipien der Satztechnik und Formgestaltung - nicht nur bei Strawinsky, sondern auch bei Schönberg. Nur wenige Komponisten distanzierten sich von dieser Entwicklung - sei es, daß sie extrem konservative Positionen bezogen und sogar den Neoklassizismus als allzu modern ablehnten wie etwa Richard Strauss oder Hans Pfitzner, sei es, daß sie - wie vor allem Edgard Varèse - grundlegende Innovationen der Vorkriegszeit, etwa von Schönbergs Orchesterstücken opus 16 und Strawinskys "Sacre" möglichst bruchlos weiter zu entwickeln und in neue Erfahrungsbereiche hereinzugelangen versuchten, etwa in eine Musik der Geräusche und der elektroakustischen Klänge ( auf deren zukünftige musikalische Bedeutung F. Busoni bereits 1906 hingewiesen hatte). Bei den meisten Komponisten verlief die Enwicklung damals aber anders. Sicherlich versuchten sie, die Rückkehr zu aus der Tradition bekannten musikalischen Ordnungen zu verbinden mit neuartigen Gestaltungsprinzipen. Das Verhältnis zwischen Altem und Neuem gestaltete sich jedoch in vielen Fällen so widersprüchlich, daß später, nach dem Ende des zweiten Weltkrieges, die radikalsten Vertreter der jungen Komponistengeneration sich kritisch von den meisten ihrer Vorgänger absetzten und nach neuen Wegen suchten. Von dieser Kritik blieben selbst Komponisten der damals mittleren Generation nicht ausgenommen, die sich vorher vom Neoklassizismus nachdrücklich distanziert hatten - vor allem Oliver Messiaen, dem der jungen Pierre Boulez die Widersprüche zwischen seiner luxurierenden tonalitätsgeschwängerten Harmonik und seinen strikten rhythmischen Konstruktionen vorhielt. Noch deutlicher fiel die Kritik an Arnold Schönberg aus, in dessen Zwölftonmusik Boulez und andere avancierte Komponisten seiner Generation restaurative Elemente entdeckten und kritisierten. Die Kritik dieser Komponisten ging soweit, daß sie eigentlich auch auf einen Komponisten hätte bezogen werden können, der damals zum progressiven Antipoden des angeblich restaurativen Schönberg ausgerufen wurde: Auf Anton Webern. Selbst er hat in seinen Zwölftonwerken avancierte Positionen früherer Jahre fast vollständig zurückgenommen - z.B. die Emanzipation des Geräusches, wie sie sich etwa im vierten der Orchesterstücke opus 6 vollzieht ( Andererseits kann man sich natürlich auch fragen, ob diese Abkehr von der Geräuschkomposition bei Webern auch anders als restaurativ erklärt werden kann - ob seine Beschränkung auf kristalline Tonstrukturen nicht auch die Loslösung von traditionellen Prinzipien der Gestaltbildung und der klangenergetischen Formentwicklung dienen sollte, die bei Varèse - trotz seiner starken Konzentration auf das Geräusch und später sogar auf den elektroakustischen Klang - der traditionellen Erfahrung noch sehr viel näher steht).
In pointierter Zuspitzung könnte man behaupten, daß nach dem zweiten Weltkrieg wichtige Exponenten der damals jungen Komponistengeneration den Älteren vorwarfen, das Problem der Tonalität (bzw. der Entwicklung einer nichttonalen Musiksprache) nicht überzeugend gelöst, sondern sich stattdessen in fruchtlose Widersprüche verwickelt zu haben - etwa in Widersprüche zwischen tonaler und rhythmischer Organisation , wie sie Stockhausen in Schönbergs zwölftönigem Walzer aus opus 23 und in Strawinskys "Sinfonie in C" entdeckte. Die Möglichkeiten, solche Widersprüche zu überwinden, wurden von den Komponisten damals intensiv diskutiert, vor allem Boulez und Stockhausen haben sich in ihren theoretischen Schriften und ihren Kompositionen ausführlich damit auseinandergesetzt. Auffallend ist, daß wichtige, damals entwickelte Lösungsvorschläge so radikal waren, daß sie bis heute nur zögernd und vereinzelt akzeptiert werden - z.B. Karlheinz Stockhausens Idee, die Rhythmik nach dem Prinzip der chromatischen Tonbeziehungen neu zu organisieren und zwischen normalem und doppeltem Tempo eine zwölfstufige, logarithmisch gestufte Temposkala vermitteln zu lassen. Diese theoretische Konzeption Stockhausens hat viel Anerkennung gefunden, zumal sie aus bestimmten konstruktiven Erstarrungen der frühen seriellen Musik hinauszuführen schien, konkret angewendet aber hat sie auf längere Sicht bisher nur Stockhausen selbst. Seine Theorien sind bis heute bedeutsam vor allem für die Exegeten und Interpreten seiner Musik aber nicht für die Neue Musik - und dies, obwohl ihre allgemeine über Stockhausens Personalstil hinausreichende Bedeutung weithin anerkannt wird. Die Frage, inwieweit tragfähige und allgemeingültige Alternativen zur tradierten tonalen Musiksprache bisher entwickelt worden sind, bleibt also auch in diesem Falle offen - und zwar auch deswegen, weil auch in Stockhausens theoretischen Konzepten und theoretischen Realisationen durchaus Ansätze zur Rückkehr zu traditionellen Gestaltungsprinzipien gefunden werden können - etwa zur Wiederbelebung akkordisch-harmonischer Strukturen seit den späten fünfziger und sechziger Jahren und zur Reetablierung melodischer Zusammenhänge seit den späten sechziger und siebziger Jahren ( deutlich erkennbar spätestens seit der Verarbeitung traditioneller Melodien in den "Hymnen" und seit seriell konstruierten Melodiebildungen seit 1970, in Formelkompositionen wie "Mantra" und in deren polyphoner Weiterentwicklung in der multiformalen Musik des Opernzyklus "Licht". Bei Stockhausen lassen sich sogar Versuche finden, Elemente der traditionellen Tonalität in seine seriellen Tonstrukturen zu integrieren - z.B. dann, wenn er eine Zwölftonreihe um einen 13. Ton ergänzt und damit wieder zum Ausgangston zurückführt, der so zum Zentralton, zum Grundton neuer Art wird. Solche Tendenzen, ebenso wie Tendenzen der Rückbesinnung auf bereits bekannte zwölftönige oder serielle Kompositionstechniken, haben seit den siebziger Jahren kritische Diskussionen provoziert, in denen Stockhausen nun ähnlichen Einwänden ausgesetzt war, wie er und Boulez sie früher gegen Schönberg und den neoklassizistischen Strawinsky erhoben hatten. Allerdings kam es, anders als in den fünfziger Jahren, in den siebziger Jahren nicht dazu, daß aus der produktiven Kritik Stockhausens ähnliche avancierte Neuansätze hervorgegangen sind wie in den fünfziger Jahren aus der produktiven Kritik Schönbergs. Insofern könnte man annehmen, daß selbst in der zweiten Hälfte eine konsequente produktive Kritik der formalen Musiksprache und ihrer Erweiterungen noch nicht vollständig gelungen ist. Das Problem der Tonalität bleibt auch in dieser Zeit in wichtigen Bereichen eine "unanswered question", die allerdings, anders als in der ersten Jahrhunderthälfte, nicht mehr von so zentraler Bedeutung ist wie das Problem einer neuen Musikpraxis im Zeichen der technisch produzierten Musik.
Es gibt in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts verschiedene Ansätze, die vom Problem der tonalen Ordnung, von Tonalität und Atonalität ausgehend, zum Problem der technisch produzierten Musik führen. Besonders deutlich wird dies bei John Cage, der, wie er später berichtet hat, seit den dreißiger Jahren seine rhythmischen Strukturen zunächst nach dem Vorbild von Schönberg von tonaler Musik ausgehenden strukturellen Musikdenken entwickelt hat. Diese originelle Übertragung führte Cage zur rhythmisch präzisen Komposition von Ereignissen, die in der Tonhöhe mehr oder weniger unbestimmt bleiben. Dies ermöglichte die Komposition nicht nur für traditionelle Instrumente, sondern für beliebige Klangerzeuger - also auch für die strukturelle Komposition von Geräuschen und technisch konservierten oder produzierten Klängen, etwa von auf Schallplatte aufgenommenen Sinustönen in "Imaginary landscape No. 1" oder, von der frei wählbaren Aufnahme eines classic hits in "Credo in US", von nicht voraussehbaren (bzw. vom Interpreten oder Realisator frei auswählbaren Radio-, Schallplatten- und Tonbandfragmenten in "Imaginary landscape No.4, "Imaginary landscape No. 5 und "Williams Mix" und "Fantom Mix".
Die kompositorische Vorausplanung des nicht Vorausplanbaren wurde zu einem wichtigen Charakteristikum der kompositorischen Arbeit von John Cage, dem unorthodoxesten Schüler Arnold Schönbergs, "Williams Mix", eine Tonbandkomposition aus dem Jahre 1952, ist wohl die komplexeste und radikalste Konkretisierung dieser Konzeption: Cage geht hier nicht von realen Klängen und Klangtransformationen aus, sondern von abstrakten Bestimmungen der Klangfamilie und der technischen Arbeitsweise, die in einer Partitur fixiert sind aber in jeder klanglichen Realisation anders konkretisiert werden können; die enorme Komplexität der Partitur hat allerdings dazu geführt, daß es bis heute nur eine einzige von Cage selbst verantwortete klangliche Realisation gibt. Vielleicht ist es gerechtfertigt, gerade diese Komposition als ein besonders überzeugendes Beispiel einer nicht tonalen und zugleich technischen produzierten Musik zu charakterisieren.
Einerseits hat hier die Absage an die Tonalität so weit geführt, daß der Komponist auf traditionsgemäße Vorausbestimmungen von Tonhöhen und Tonbeziehungen vollständig verzichtet. Andererseits ist die Partitur rhythmisch so präzise wie es einer von minutiös genauen Montagen und Mischungen ausgehenden Tonbandkompositionen erscheinen muß. Eine strenge Konstruktion der Dauern der Schichten verbindet sich hier mit einer zugleich universellen und vieldeutigen Disposition der Klangmaterialien und der klangtechnischen Verarbeitungsprozesse. Die paradoxe Kombination von extremer rhythmischer Präzision und weitestgehender klanglicher Unbestimmtheit erklärt sich aus der Material- und Produktionsbedingungen dieser frühen Tonbandmusik. Der so erklärbare Widerspruch hat Cage aber offensichtlich dennoch beunruhigt. In späteren Werken hat er das Prinzip der Unbestimmtheit von der Klangorganisation auch auf die Zeit- und Formorganisation übertragen. Dies war vielleicht logisch insofern, als es besonders radikale Alternativen zur traditionell-deterministischen Tonalität erlaubte. Größere Probleme aber ergaben sich im Kontext des anderen Kardinalproblems in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts, des Problems der Ablösung der live-Musikpraxis und der technisch produzierten Musik. Je mehr Cage die Unbestimmtheit auch in der Zeit-und Formorganisation verstärkte, desto weiter entfernte er sich von den damals üblichen Verfahren der technisch produzierten Musik, die auf exakter technischer Vorausbestimmung basierten. Selbst improvisatorische Freiheit und Vieldeutigkeit, wie sie seit der frühen musique concrète üblich waren, oder aleatorische Produktionsprozesse, wie sie seit Mitte der fünfziger Jahre auch in elektronischen Studios eingeführt wurden ( erstmals wohl bei der Produktion von Stockhausens "Gesang der Jünglinge" im Elektronischen Studio Köln ) - selbst solche Freiheiten während der Produktionsarbeit führten in der Regel doch nur zu eindeutig auf Tonband fixierten Resultaten. Cage ging anders vor: Die Unbestimmtheit als universelles kompositorisches Prinzip war ihm offensichtlich so wichtig, daß er ihr zuliebe auf die Vorproduktion elektroakustischer Musik im Studio verzichtete und statt dessen lieber die Klangproduktion aus dem Studio in den Konzertsaal verlegte - in neuen Verfahren der "live-Elektronik". Diese ermöglichten oft überraschende, in herkömmlicher Studiotechnik kaum erreichbare Resultate. Andererseits näherten sie sich aber auch der traditionellen live-Aufführungspraxis; sie suchten also noch Kompromissen zwischen Altem und Neuem - ähnlich, wie es früher, in der ersten Jahrhunderthälfte, etwa mit Vermittlungsformen zwischen formaler und zwölftöniger Musik versucht worden war. Die Rückversicherung zur traditionellen Aufführungspraxis ließ sich auch daran ablesen, daß Cage seine Stücke weiterhin fast ausnahmslos in Form von Partituren veröffentlichte, von denen bestimmte Aufführungen oder Aufnahmen allenfalls spezielle Versionen Versionen darstellten. Unter den Bedingungen moderner Medienkunst ist diese Verfahren ungewöhnlich - nicht weniger als die Konzeption eines Filmemachers es wäre, der sein Drehbuch für wichtiger hält als die Komposition selbst. Cage hat seine Partituren so angelegt, daß aus ihnen immer wieder Neue Musik entstehen konnte - als einmaliges, unwiederholbares Ereignis, das dann allerdings, anders als im Studio produzierte Musik, mit den begrenzten Möglichkeiten des live-Musizierens auskommen mußte. So bereitete sich bei Cage die Rückkehr zur Instrumentalmusik vor, die seit den späten sechziger Jahren auch seine Kompositionstechnik wesentlich veränderte: Cage kehrte in vielen Werken zur traditionellen Notenschrift zurück, auch zu aus der Erfahrung bekannten Klängen und Klangkonstellationen der Sprache, der Geräusche, von vorgefundener Musik oder von vorgefundenen musikalischen Ordnungen . In seinem Spätwerk - vor allem in dem umfangreichen Zyklus der Zahlenstücke - dominierte die Instrumentalmusik, und in dieser gewinnen traditionell notierbare Tonhöhen eine überraschend Bedeutung. Geräusche und technisch verarbeitete Stimmlaute finden sich relativ selten, oft eingebunden in traditionsbezogene Zusammenhänge des Hörspiels oder der experimentellen Literatur. Die "Anarchic Harmony", die Cage hier anstrebt, beschreibt er als späte Reaktion auf seinen alten Konflikt mit Schönberg, gegen dessen Festhalten an Harmonie und Kontrapunktlehre der junge Cage rebelliert hatte. Vielleicht ist gerade sein Spätwerk, die Entfernung von der technisch produzierten Musik und die Annäherung an bestimmte aleatorisch verschiebbare Tonhöhen, ein Beleg dafür, daß das Problem der Tonalität auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch nicht abschließend gelöst worden ist - nicht einmal von Cage, der als einer der ersten moderne Medienmusik und Akustische Kunst an die Stelle der traditionellen formalen Musik zu setzten versucht hat, aber letzlich dann doch in wichtigen Bereichen zurückgekehrt ist zu bestimmten Tonbeziehungen und zur traditionellen live-Musikpraxis.
Ähnlich wie Cage haben sich auch verschiedene andere Exponenten der neuen Musik verhalten, die, vor allem in den fünziger Jahren, ins elektroakustische Studio gingen und dort Alternativen zur traditionellen Instrumentalmusik entwickelten, die dann aber später auch wieder zur Instrumentalmusik zurückfanden, teilweise auch zu traditionellen vokal-instrumentalen Kompositionstechniken - z.B. Ligeti, teilweise auch Pousseur, Maderna und Berio sowie - in anderer Weise - Kagel. Für viele Komponisten der zweiten Jahrhunderthälfte bedeutete die Auseinandersetzung mit elektroakustischer Musik nur eine Zwischenstation - in ihrer Bedeutung vergleichbar der Atonalität, wie sie viele Komponisten in der ersten Jahrhunderthälfte vorübergehend praktizierten. Vor allem viele von der seriellen Musik beeinflußte Komponisten lieben sich ihrer instrumentalen Anfänge bewußt und sind später auf diese zurückgekommen, um sie weiter zu entwickeln. Eine Sonderstellung nehmen in diesem Kontext allerdings einerseits Karlheinz Stockhausen, andererseits Iannis Xenakis ein, die zwar zur Instrumentalmusik zurückkehrten, aber gleichwohl auch weiterhin wichtige Innovationen im Bereich. technisch produzierter Musik realisierten.
Karlheinz Stockhausen fand den Weg zur elektroakustischen Musik dadurch, daß er den seriellen Konstruktivismus bis zur letzten Konsequenz radikalisierte. Sein Versuch, die serielle Strukturierung bis in die Erzeugung neuer Klangfarben weiter zu treiben, ließ sich 1952, als er in einem Studio Pierre Schaeffers eine konkrete Etude realisierte, zunächst nur teilweise realisieren. Er machte damals ähnliche Erfahrung wie andere Komponisten seiner Generation, die serielle Prinzipien auf die damals neuen Techniken der Tonbandmusik zu übertragen versuchte - beispielsweise Pierre Henry und Pierre Boulez: Häufig war festzustellen, daß konkretes, mit dem Mikrophon aufgenommenes Klangmaterial sich gegen serielle Manipulationen sperrte, daß man in serieller musique concrète anders als geplant, eher die Verzerrungen natürlicher Klänge wahrnahm als autonome, assoziationsfreie Elemente einer neuartigen Klangstruktur. So erklärt es sich, daß die Komponisten häufig mit ihren Produktionen nicht zufrieden waren und große Zurückhaltung bei ihrer öffentlichen Verbreitung übten. (Dies gilt übrigens nicht nur für Stockhausens "konkrete Etüde", die er über 40 Jahre unveröffentlicht ließ, sondern auch für die beiden konkreten Etüden von Pierre Boulez., die "Etude sur sept sons" und die "Etude sur un son", übrigens auch für die Etüde "Timbres durées, die Pierre Henry nach einer einfachen Klang-Rhythmus-Partitur von Olivier Messiaen realisierte.) Erst 1953, nach seiner Übersiedlung ins Kölner Elektronische Studio, kam eine Tonbandproduktion Stockhausens zur öffentlichen Aufführung, die wichtige Markierungen in der Frühgeschichte der Elektronischen Musik setzen sollte: Die elektronische "Studie I". In diesem Werk erscheint die elektronische Klangsynthese als logische Konsequenz der Reihenstrukturierungen des späten Webern, vor allem seines Konzerts für neun Instrumente opus 24 - also gleichsam als letzte Konsequenz einer Instrumentalmusik, die ihre Grenzen sprengt in der genauen Kontrolle von Höhen, Lautstärken, Dauern und teilweise auch Klangfarben. Die einzeln intervallisch sinnfällig disponierten Sinustöne werden hier zu Bestandteilen einer unverwechselbaren, eigens für dieses Werk erfundenen Struktur, die sich in genau abgestuften, dynamischen Werten überlagern. Die strenge Kontrollierbarkeit aller Elementareigenschaften wird nur dann eingeschränkt, wenn komplexe Tonstrukturen verhallt werden, wobei sich die ursprünglichen Eigenschaften in nicht exakt kalkulierbarer Weise verändern. Von dieser scheinbar geringfügigen, tatsächlich für Stockhausens spätere Entwicklung durchaus bedeutsame Ausnahmen einmal abgesehen, präsentierte das Stück sich in streng kontrollierten, seriellen Proportionierungen der Tonhöhen, Lautstärken und Zeitwerte - in starker Konzentration auf klar erkennbare Tonhöhen und meistens klar abgegrenzt von in der Tonhöhe unbestimmten Geräuschstrukturen. Erst in späteren elektronischen Produktionen Stockhausens hat sich dann die Bedeutung des Geräusches Schritt für Schritt verstärkt: In der "Studie II", durch die alles beherrschende Technik der Verhaltung von ( an- oder abschwellenden ) Sinustonkomplexen, im "Gesang der Jünglinge" in der Vorstellung eines umfassenden Klang- Geräusch-Kontinuums der Sprachlaute und der elektronischen Klänge, in "Kontakte" als Vermittlung zwischen synthetisch zu erzeugenden und hier auf Schlaginstrumenten darstellbaren Klang- und Geräuschstrukturen. In den beiden elektroakustischen Hauptwerken der sechziger Jahre erweitert sich die Perspektive nochmals: Der Emanzipation von Stimme und Sprache ("Gesang der Jünglinge") und des Geräusches ("Kontakte") folgt jetzt die Emanzipation von der Tabuisierung vorgefundener Musik: In der "Telemusik" werden Folkloreaufnahmen aus verschiedenen Weltgegenden in ähnlichen Prozeduren transformiert wie die elektronischen Klänge. In den "Hymnen" werden musikalisch-politische Symbole (Zahlreiche Nationalhymnen sowie die "Internationale") elektronisch verarbeitet, miteinander und mit semantisch verwandten Klangmaterialien ( z.B. mit Geräuschen von Volksmassen ) in Verbindung gebracht.Während hiervon aus der Tradition vorgegebener musikalischer Gestalten ausgegangen wird, basiert "Sirius", das elektronische Hauptwerk der siebziger Jahre, auf seriell konstruierten Melodien, und die späteren, in den Opernzyklus "Licht" gehörigen elektronischen sind verschiedene Ableitungen aus einer einheitlichen, den gesamten Opernzyklus regulierenden polyphonen Reihenstruktur. Eine vier Jahrzehnte umspannende Arbeit im elektroakustischen Studio erscheint, wenn man sie in größerem Zusammenhang betrachtet, in den fünfziger Jahren als fortwährende Verallgemeinerung der Grundlagen seriellen Komponierens, in den sechziger Jahren darüber hinaus auch als Öffnung zur realen Hörwelt in vielfältigen kulturellen und politischen Zusammenhängen, seit den sechziger Jahren wieder in stärkerer Einbindung in umfassendere Reihenstrukturen. Diese Entwicklung verbindet sich mit Wandlungen des Komponierens technisch produzierter Musik. Nur für kurze Zeit, in den frühen fünfziger Jahren, stellte sich für Stockhausen die Frage, ob die Elektronische Musik die Musik für Stimmen und Instrumente vollständig verdrängen würde. Schon bald aber entschied sich Stockhausen in der eigenen Arbeit für ein bewußtes Nebeneinander elektronischer und instrumentaler Musik. So entstanden parallel zu den elektronischen Realisationen der fünziger Jahren auch der zweite Zyklus der "Klavierstücke", das Bläserquintett "Zeitmaße", die "Gruppen für drei Orchester" und andere Instrumentalwerke. das Nebeneinander führte bald auch zu Wechselwirkungen, so daß elektronische Kompositionstechniken in die Instrumentalmusik und umgehend auch instrumentale Verfahren in die elektronische Studioarbeit Eingang fanden. So wurde Stockhausen zu einem Komponisten, der sowohl in instrumentalen, als auch im elektronischen Bereich wichtige Beiträge zur aktuellen musikalischen Entwicklung geleistet, auch interessante Wechselwirkungen zwischen beiden Bereichen initiiert hat. Die Elektrifizierung der Instrumentalmusik führte auch bei ihm seit den sechziger Jahren zu einer starken Konzentration auf die live-Elektronik - auch bei ihm damals mit Schritt für Schritt sich erweiternden improvisatorischen Freiheiten, allerdings unter ganz anderen kompositionstechnischen Voraussetzungen als bei John Cage. Andere Wege ging Stockhausen aber dann, wen live gespielte Instrumentalpartien mit Tonbandwiedergabe gekoppelt werden sollten . Bei den Uraufführungsproben zur Komposition "Kontakte", bei der zunächst an freie Reaktionen von vier Musikern auf die vier Kanälen gedacht war, hatte Stockhausen gemerkt, daß hier die Zeit für improvisatorische Freiheiten noch nicht gekommen war. Er schrieb streng aus notierten Begleitpartien für Klavier und Schlagzeug, die engstens auf das Tonband bezogen sind. Erst später, nach mehreren Jahren live-elektronischer Improvisationspraxis hat er vier Musiker zum Vierkanal-Tonband der "Hymnen" frei, ohne Notationsvorlage spielen lassen ( allerdings damals und später abgesichert durch informelle Anweisungen an die Spieler, die nicht immer leicht zu realisieren waren. Schon im folgenden Tonbandstück "Sirius" nötigten die komplexen elektronischen Klangstrukturen dazu, die vokalen und instrumentalen Begleitpartien wieder streng auszunotieren, also auf improvisatorische Freiheiten weitgehend zu verzichten.
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