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7.55 TONBANDMUSIK


Rudolf Frisius

Tonbandmusik

Tonbandmusik ist die Bezeichnung für Musik aus technisch produzierten Klängen, die auf Tonband gespeichert ist (d. h. die primär als klangliche Realisation existiert und nicht als von Interpreten aufzuführende Partitur). Mögliche Materialien der Tonbandmusik sind aufgenommene (konkrete) oder synthetisch im Studio erzeugte (elektronische) Klänge einschließlich ihrer elektroakustischen Transformationen:

- Transposition von Tonlage und Ablaufgeschwindigkeit (in paralleler Veränderung beider Bereiche - entweder als Zeitlupe oder als Zeitraffer - durch Veränderung der Wiedergabegeschwindigkeit oder in separaten Veränderungen z. B. mit Hilfe eine sogenannten Springermaschine);

- Rückwärtswiedergabe;

- Bandschnitt;

- Filterung (Unterdrückung bestimmter Frequenzbereiche oberhalb oder unterhalb einer Grenzfrequenz oder zwischen zwei Grezfrequenzen: Hochpaß, Tiefpaß, Bandpaß);

- Verhallung;

- Ringmodulation (Modulation zweier Ereignisse durch Unterdrückung der Ausgangsfrequenzen und Bildung ihrer Summations- und Differenzfrequenzen);

- Verlaufsänderung (z. B. Aufprägung der Hüllkurve eines Klanges auf einen anderen);

- räumliche Positionierung (Festlegung von Raumpositionen und -bewegungen).

Die meisten Verfahren der Aufnahme, Produktion, Verarbeitung und Speicherung von Klängen lassen sich (in der Regel in größerer Präzision) auch dann anwenden, wenn die seit den vierziger und fünfziger Jahren entwickelten analogen Produktionstechniken durch digitale Techniken ergänzt oder ersetzt werden.

Die Tonbandmusik hat sich in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts als der wichtigste Bereich der elektroakustischen Musik etabliert. Ihre ersten Produktionen gehören in den Bereich der musique concrète, die mit aufgenommenen, montierten und technisch manipulierten Klängen arbeitet und seit 1948/49 in Paris von Pierre Schaeffer und Pierre Henry begründet worden ist, wobei als Speichermedium für einzelne Klänge sowie für komplexe Montagestrukturen und vollständige Produktionen zunächst Schallplatten verwendet wurden. Seit 1951 wurde in Paris das Tonband zunächst zur Speicherung abgeschlossener Produktionen, dann auch zur Produktion einzelner Kläge und Klangstrukturen verwendet (in Kompositionen von Schaeffer und Henry, Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Jean Barraqué). In diesen Stücken sowie seit 1952 in verschiedenen Produktionen der amerikanischen tape music (u. a. Williams Mix von John Cage) ergaben sich neue Möglichkeiten der Klangproduktion aus Techniken des Bandschnittes in exakt differenzierten Schnittwinkeln und Bandlängen (damals bezogen auf die Wiedergabegeschwindigkeit von 78.2 cm/sec). Seit 1953 wurden ähnliche differenzierte Techniken auch im Bereich der Klänge selbst verwendet, die mit exakt ausgemessenen Frequenz- und Lautstärkewerten rein synthetisch hergestellt wurden (als elektronische Klänge). Die bereits in der frühen musique concrète eingeführten Techniken der dynamischen und farblichen Profilierung, der räumlichen Bewegung, der Verwandlung und Modulierung von Klängen wurden in der elektronischen Musik teils übernommen, teils ergänzt und weiter entwickelt. Mit zunehmender Differenzierung der Klangverarbeitungstechniken wurde die Herkunft der Ausgangsklänge und ihre Klassifizierung als entweder konkret oder elektronisch sekundär, was schon in den fünfziger Jahren zur Entwicklung vielfältiger Kombinationsformen konkreter und elektronischer Musik im größeren Zusammenhang der elektroakustischen Musik führte. Die zunehmende Vielfalt und stilistische Komplexität erweist sich nicht nur in den Produktionen verschiedener Studios (Paris, New York, Köln, Mailand, Warschau, Tokio, Stockholm, Illinois, Utrecht, Bourges), sondern auch in divergierenden Tendenzen selbst in der Entwicklung einzelner Komponisten, die häufig von zunächst sehr eng umrissenen produktionstechnischen und technischen Prämissen ausgegangen sind:

- Pierre Schaeffer hat 1948 mit den Etüden seines Concert de bruits die ersten Produktionen konkreter Musik realisiert. Nach mehreren Gemeinschaftsproduktionen mit Pierre Henry wandte er sich in den späten fünfziger Jahren der Morphologie elektroakustischer Klänge zu, die er kompositorisch und theoretisch erforschte. (Wichtige Kompositionen: Etude aux sons animés, 1958; Etude aux objets, 1959; wichtige theoretische Veröffentlichungen: Traité des objets musicaux, 1966; Solfège de l´objet sonore, 1967). Produktionspraktische und theoretische Ansätze der konkreten Musik wurden auch in Werken anderer Komponisten weiterentwickelt (z. B. Iannis Xenakis: Diamorphoses, 1957; Concret PH, 1958; Orient-Occident, 1960; Luc Ferrari: Hétérozygote, 1964; Music Promenade, 1969). 1975 hat Schaeffer in der Komposition Le Trièdre fertile seine empirisch-experimentellen Produktionstechniken auch auf elektronische Klänge übertragen.

- Pierre Henry, der zunächst gemeinsam mit Pierre Schaeffer und überdies seit 1950 auch in alleiniger Verantwortung produzierte, ist Autor nicht nur zahlreicher konkreter Realisationen (mit Pierre Schaeffer: Symphonie pour un homme seul, 1949-50; Orphée 53, 1953; in alleiniger Verantwortung: Musique sans titre, 1950; Le microphone bien tempéré, 1951-52), sondern auch zahlreicher elektroakustischer Produktionen, in denen konkretes Klangmaterial weitgehend elektronisch verfremdet, teilweise sogar durch rein elektronisches Material ergänzt oder vollständig ersetzt wird (z. B. in: Spirale, 1955; Haut Voltage, 1956; Entité, 1959; Le Voyage, 1962; L´Apocalypse de Jean, 1968). Seit den späten siebziger Jahren entwickelt Henry seine Tonbandmusik als universelle Klangkunst, in der die synthetischen Klänge in die Vielfalt der vorgefundenen, um- und neugestalteten Klänge bruchlos integriert erscheinen. (Wichtige Werke: Parcours - Cosmogonie, 1976 - eine Metakomposition in 12 Abenden, in thematischer Strukturierung aller bis dahin entstandenen angewandten oder reinen, fragmentarischen oder vollendeten Klangproduktionen Henrys, die 1977 in verkürzter Form zur Ballettmusik Instantané-Simultané umgestaltet wurde; Hörspiele/Akustische Kunst: Journal de mes sons, 1982; La Ville, 1984 - in adaptierter Fassung auch als soundtrack zu einem 1927 produzierten Stummfilm Walther Ruttmanns: Berlin, die Sinfonie der Großstadt Une maison des sons, 1990; Antagonismen, 1996).

- Karlheinz Stockhausen hat, anknüpfend an serielle Instrumentalmusik und an eine seriell konstruierte konkrete Etude (1952) 1953 in seiner Elektronischen Studie I aus einer seriellen Grundstruktur nicht nur Zeitwerte- und Tonhöhenstrukuren, sondern auch dynamische Abstufungen sowie Formkonstellationen auf verschiedenen Komplexitätsebenen abgeleitet. (Die dem Werk zu Grunde gelegte Proportionsreihe reguliert die Überlagerung einzelner Sinustöne zu Tongemischen, d. h. zu seriell konstruierten Klangfarben, sowie die Reihungen verschiedener Tongemische zu Strukturen, ferner die Verbindung verschiedener Strukturen zu Strukturverbänden und weiter übergenordneten fomalen Einheiten.) Hier ist das Tonmaterial exakt fixiert in verschiedenen Schalleigenschaften und Formdimensionen (Tonhöhe, Zeitwerte, Lautstärke; Tongruppierungen), was aber nur in strenger Reduktion auf klar erkennbare Tonhöhen, unter Aussparung des Geräusches, möglich ist. Diese extreme Reduktion hat Stockhausen andererseits hier und in späteren Werken wieder auf verschiedene Weisen aufgebrochen und so die abstrakten Ausgangspositionen der elektronischen Musik dem klanglichen Empirismus der konkreten Musik angenähert: Verhallungen, d. h. im Detail nicht exakt kontrollierbare Veränderungen verschiedener Klangparameter, die sich partiell bereits in der Studie I finden, werden in der Studie II (1954) zum durchgängigen Prinzip der Klangproduktion. Im Gesang der Jünglinge (1955-56) verwendet Stockhausen geräuschhafte und tonhöhenbestimmte Ereignisse in verschiedenen Erscheinungsformen (entweder als kurze Impulse oder als stationäre Ereignisse mit frei wählbarer Dauer). So ergeben sich Differenzierungen des Klangmaterials, die nicht nur auf synthetische Klänge anwendbar sind, sondern auch auf Stimmlaute (auf die Musikalisierung eines Textes einerseits durch die Töne, auf denen seine Vokale gesungen werden, andererseits durch die Geräusch-Artikulation seiner Konsonanten). Dies eröffnet die Möglichkeit der Verbindung konkreter (hier: vokaler) und elektronischer Klänge in seriell konstruierter elektroakustischer Musik. - In Kontakte (1959-60) hat Stockhausen entsprechende Integrationsmöglichkeiten von Ton und Geräusch in der Verbindung elektronischer Klänge mit Instrumentalklängen auskomponiert: Einerseits sind die elektronischen Klänge als Ton-Geräusch-Kontinuum vorgestellt, das die bekannten Instrumental-Klangfarben als Sonderfälle enthalten soll. Andererseits kann die instrumental-elektronische Polarität zwischen Ton und Geräusch auch dadurch verdeutlicht werden, daß die (selbständig aufführbare) Tonbandpartie bei Konzertaufführungen mit ausnotierten Partien für Klavier (tonhöhenbestimmt) und Schlagzeug (tonhöhen- oder geräuschbezogen) kombiniert wird. So verbindet sich in dieser Komposition Tonbandmusik mit ihrem Kontrastmodell, der Live-Musik. - Entsprechend ist Stockhausen auch bei späteren Produktionen verfahren: Für Sirius (1975-77) ist die Kopplung der Tonbandpartie mit Live-Solopartien (2 Singstimmen, 2 Instrumente) obligatorisch, für den 2. Akt der Oper DIENSTAG aus LICHT (1991-92) und für die vollständige Oper FREITAG aus LICHT ist sie fakultativ. - Charakteristisch für Stockhausens elektroakustische Musik ist ihre Öffnung einerseit zu scheinbar konträren Tendenzen der Live-Musik, andererseits zur Polarität zwischen konkreten und elektronischen Klängen. Beide Tendenzen verbinden sich in der Komposition Hymnen (1966-67): Nationalhymnen verschiedener Länder und Kontinente erscheinen hier in vorgefundenen, montierten und klanglich transformierten Aufnahmen als konkrete Klänge, aber auch in synthetischer Neuproduktion, als elektronische Klänge; sie verbinden sich mit Umweltgeräuschen (z. B. Tier- oder Menschenstimmen) oder mit vorgefundener Musik (z. B. mit afrikanischer oder indischer Musik als Lokalkolorit zu entsprechenden Hymnen). Das Werk existiert nicht nur als reine Tonbandmusik, sondern wurde auch in unterschiedlichen Kombinationen mit Live-Partien aufgeführt (mit vier Live-Solisten, der Mittelteil auch mit einem ausnotierten Orchesterpart). Dieses Werk gehört zu den ersten Beispielen abendfüllender Tonbandkompositionen und hat, auch mit neuen, stärker auf klangliche Kontinuität zielenden Produktionstechniken, den Weg bereitet für großformale Tonbandmusik auch anderer Komponisten (z. B. Francois Bayle, L´experience acoustique, 1968-72; Bernard Parmegiani, De natura sonorum, 1975; Iannis Xenakis, La légende d´Eer, 1976).

Tonbandmusik gibt es nicht nur in autonomen, für Konzert, Rundfunk oder Tonträger bestimmten Produktionen, sondern auch als angewandte Musik für Hörspiel, Theater oder Film. Als frühestes Beispiel integrativer Akustischer Kunst (oder auch historisch antizipierende Zwischenform zwischen experimenteller Musik und experimentellem Hörspiel) kann der 1930 produzierte Hörfilm Weekend von Walther Ruttmann angesehen werden. Die Gleichberechtigung von Stimm- und Sprachlauten mit situationsbezogenen Geräuschen und Musik im engeren Sinne hat sich seit den frühen vierziger Jahren in der französischen Radiokunst nach produktionspraktischen und medientheoretischen Prämissen vollzogen, die Pierre Schaeffer praktisch erarbeitet und theoretisch reflektiert hat (als Gründer eines radiophonen Versuchsstudios; überdies als Autor der Hörspiele La coquille à planètes, 1943, und L´aura d´Olga, 1962, sowie der Dokumentation Dix ans d´essais radiophoniques, 1952). Die deutsche Radiokunst blieb demgegenüber auch in den fünfziger und sechziger Jahren noch stark geprägt von Traditionen des literarischen Hörspiels, die auf die späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre zurückgehen. Erst seit 1968 entwickelten sich neue Ansätze im Kontext des Neuen Hörspiels, wobei die Autoren sich meistens vom Konzept einer konventionellen literarischen Vorlage lösten und die Gesamtverantwortung für die klangliche Realisation übernahmen. Es entstanden Produktionen experimenteller Literaten (z. B. Gerhard Rühm Ophelia und die Wörter, Franz Mon das gras wies wächst und Ferdinand Kriwet One two two) sowie Komponisten (z. B. Mauricio Kagel Ein Aufnahmezustand, John Cage und Pierre Henry; die 1979 entstandene Produktion Roaratorio erklärt Cage als historisch verzögerte Weiterführung einer Entwicklung der Radiokunst, die er eigentlich schon 1940 hatte einleiten wollen, als er für das Hörspiel The city wears a slutched hat zunächst eine klangliche Realisation mit komponierten Umweltgeräuschen komponieren wollte, dann aber doch nur eine weniger radikale Version mit seinem Geräuschorchester zur Sendung bringen konnte.)

Versuche, die Wiedergabe von Tonbandmusik mit Live-Musik zu verbinden, gibt es seit den fünfziger Jahren. Zu den ersten Versuchen gehören die konkrete Oper Orphée 53 für Tonband, Sänger und Instrumentalisten und das 1954 uraufgeführte Orchesterstück Déserts von Edgard Varèse, dessen Live-Darbietung durch drei Tonband-Interpolationen unterbrochen wird, deren erste Fassung der Komponist gemeinsam mit Pierre Henry realisierte. Später entstanden Kompositionen für Tonband und Orchester von Pierre Boulez (Poésie pour pouvoir, 1958), Henri Pousseur (Rimes pour differents sources sonores, 1958/59), Francois Bernard Mache (Volumes, 1959) und anderen.
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