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Rudolf Frisius

Varèse-Perspektiven

Edgard Varèse: Dokumente zu Leben und Werk

Zusammengestellt von Helga de la Motte-Haber und Klaus Angermann

ISBN 3-631-43301-8, Frankfurt/M 1990, Lang

Helga de la Motte-Haber (Hrsg.):

Edgard Varèse: Die Befreiung des Klangs

Symposium Edgard Varèse Hamburg 1991

ISBN 3-923997-49-3, Hofheim 1992, Wolke

Helga de la Motte-Haber:

Die Musik von Edgard Varèse - Studien zu seinen nach 1918 entstandenen Werken

ISBN 3-923997-56-6, Hofheim 1993, Wolke

Edgard Varèse ist ein Komponist des produktiven Widerspruchs: In jungen Jahren komponierte er symphonische Dichtungen; später distanzierte er sich energisch von "erzählender" Musik. Gegen traditionelles Musikdenken, wie es sich präzise im traditionell notierten Musikwerk konkretisiert, hat er nachdrücklich und einfallsreich polemisiert; trotzdem sind fast alle seine Werke in traditioneller Notenschrift eindeutig fixiert. Er war einer der ersten, die sich für die neuen Möglichkeiten technisch produzierter Klänge einsetzten - und zwar nicht nur im theoretischen Manifest, sondern auch in organisatorischen und kompositorischen Bemühungen; dennoch spielten elektroakustische Klänge in seinem oeuvre nur eine begrenzte Rolle, und von seiner Auffassung, daß die technisch produzierte Musik die Musik mit traditionellen Klangmitteln, die Instrumental- und Vokalmusik verdrängen würde, ist er in den späten fünfziger Jahren (nach Vollendung des "Poème Electronique") wieder abgekommen, um letztlich einer Koexisteznz traditioneller und moderner Klangmittel auch in der kompositorischen Praxis den Vorzug zu geben.

Auch der Musikwissenschaft vermochte und vermag Edgard Varèse Impulse zum produktiven Widerspruch zu geben. Vor allem Helga de la Motte-Haber ist es zu danken, daß dies neuerdings auch in deutschsprachigen Veröffentlichungen deutlich geworden ist. Verschiedene Positionen der aktuellen Diskussion hat sie zusammengeführt in einem Symposion, dessen Thematik nicht nur traditionell etablierte musikwissenschaftliche Aspekte einbezog (in Beiträgen von Albrecht Riethmüller und Hermann Danuser über Restbestände melodischen und narrativen Denkens bei Varèse), sondern auch eine aufschlußreiche Untersuchung über das Musikdenken Varèses und seine starke Abhängigkeit von Feruccio Busoni (Jörg Stenzl) und neuere analytische Ansätze (z. B. abstrahierende "pitch class"-Tonhöhenanalyse im Geiste der seriellen Musik, zu deren streng symmetrischen Prämissen Varèses kompositorische Konkretionen allerdings nicht selten einigermaßen "verquer" stehen, bei Pascal Decroupet; stärker phänomenologisch und naturwissenschaftlich orientiert in auditiven und sonographischen Analysen der Tonband-Interpolationen zu "Déserts" von Frank Gertich) und aus Detailuntersuchungen entwickelte neuere analytisch-ästhetische Perspektiven (bei Wilfried Gruhn, Klaus Angermann und der Herausgeberin).

Die Position, die Helga de la Motte-Haber in dieser Diskussion bezogen hat, ist ausführlicher dargestellt in einer ausführlichen Monographie, die sie über das Gesamtwerk von Edgard Varèse vorgelegt hat. Wer ihre Untersuchungen genauer studiert, kann erkennen, daß hier ein wichtiges Thema auch als exemplarische Anregung zur Entwicklung neuer musikwissenschaftlicher Perspektiven behandelt wird. Vor allem geht es darum, am Beispiel dieser Musik aufzuzeigen, daß Alternativen zu Verfahren der traditionellen Tonsatzanalyse gefunden werden müssen, die sich stärker auf die konkrete klangliche Realität konzentrieren. So kann sich Musikwissenschaft des produktiven Widerspruchs zur bloßen Forschreibung des bereits Bewährten artkulieren - als Beschreibung von Klängen und Klangbewegungen, von neuen raumzeitlichen Konstellationen und musikübergreifenden Perspektiven. Dieser Ansatz bedeutet gleichzeitig auch eine deutliche Distanzierung von "narrativen" Erklärungsmustern. Andererseits liegt es nahe, auf der Suche nach weniger von der Tradition belasteten musikwissenschaftlichen Perspektiven sich zu berufen auf neue Aspekte auch in den theoretischen Äußerungen von Varèse (so schwierig es auch sein mag, in ihnen zu unterscheiden zwischen wirklich eigenständigen Ansätzen und Spuren starker Einflüsse, vor allem von Feruccio Busoni - oder auch zwischen Aspekten einer logischen Weiterentwicklung einerseits, der ständigen Wiederholung, Paraphrasierung und Collagierung weniger schon frühzeitig fixierter Grundideen andererseits; Jörg Stenzl hat die vielfältigen Schwierigkeiten ausführlich dargestellt). Helga de la Motte-Haber jedenfalls geht aus von der Überzeugung, daß aus dem Studium der theoretischen Schriften von Varèse sich "Beschreibungsmodalitäten gewinnen" und "seine so metaphorisch wirkenden Äußerungen, wenn sie wörtlich genommen werden, sich musikalisch erstaunlich gut präzisieren lassen" (S. 7). In diesem Sinne definiert sie die Aspekte ihrer Untersuchung: Die Befreiung des Klangs - Spatiale Musik - Form als Prozeß - Musik als Musik.

Die meisten Detailanalysen konzentrieren sich auf Feststellung und Beschreibung von Tonkonstellationen (d. h. , in den meisten Fällen, von Gebilden, die im Notentext als mehr oder weniger unkonventionell figurierte Akkorde entziffert werden, aber im Gehöreindruck weitgehend oder vollständig zu einheitlichen "Klängen" verschmelzen können). Die Frage liegt nahe, in welchem Maße solche Gebilde noch entsprechend den Verfahren traditioneller Harmonie-Analyse beschreibbar sind - zum Beispiel, ob es sinnvoll ist, festzustellen, welche Töne der chromatischen Skala in ihnen vorkommen (was auch bei traditionellen Akkordbildungen eigentlich nur in einfacheren Fällen etwas besagt). Wichtiger ist es, zu prüfen, welche Lagen- und Intervall-Konstellationen in welchen Instrumentalfärbungen tatsächlich zu hören sind. Aber auch damit begnügt die Verfasserin sich nicht. In größeren Zusammenhängen untersucht sie, wie einzelne Töne beim Wechsel von einem Klang zum anderen durch verschiedene Oktavräume wandern können. (Hier werden also bei Varèse Verfahren der Lagen-Behandlung angenommen, wie sie sich seit den frühen fünfziger Jahren in seriellen Kompositionen vor allem von Karel Goeyvaerts und Karlheinz Stockhausen finden - allerdings in strenger Konstruktivität, wie sie Varèse durchaus fremd ist.)

Die für Varèse charakteristische reichhaltige und differenzierte Verwendung des Schlagszeugs wird vor allem in Fällen analysiert, bei denen Schlaginstrumente mit Instrumenten bestimmter Tonhöhe kombiniert sind. Auch vokale Gestaltungselemente werden in der Regel nicht isoliert analysiert, sondern in instrumental-vokalen Kopplungen - was bei mehreren Stücken auch deswegen sinnvoll ist, weil Varèse nonverbale Stimmlaute mit einbezieht.

Die Detailanalysen beziehen sich in den meisten Fällen auf die veröffentlichten Partituren, in mehreren Fällen aber auch auf Skizzenmaterialien, auf vorläufige und alternative Fassungen sowie auf elektroakustische Musik. In ihrer Monographie finden sich ausführliche Untersuchungen über die (quasi-fragmentarische, relativ einfach gehaltene) "Etude pour Espace" und über den "Poème électronique", zu dem instruktives Bild- und Skizzenmaterial abgedruckt ist. Vor allem beim letzteren Stück ist offensichtlich, daß partiturbezogene Detailuntersuchungen hier - abgesehen von Sonderfällen der Übernahme eigener notierter Musik, etwa aus der "Etude pour Espace" - nicht möglich sind (ebenso wenig, wie dies etwa für die Analyse der veschiedenen Tonbandeinschübe zu "Déserts", auch im Vergleich verschiedener Fassungen, möglich wäre, da auch sonographische Untersuchungen nicht in jedem Detailfall differenziertere analytische Rückschlüsse erlauben als die unmittelbare Höranalyse).

Von den Abschnitten "Die Befreiung des Klangs" und "Spatiale Musik" spricht die Verfasserin selbst als "den beiden zentralen Kapiteln" des Buches. Hier finden sich die meisten Detailanalysen, wobei im ersteren Kapitel eine modernisierte Kombination von Akkord- und Instrumentationsanalyse im Vordergrund steht, während im letzteren der Raum-Begriff mehrdeutig aufgefaßt wird: Einerseits als vorgestellter Ton-Raum, andererseits im Sinne der realen räumlichen Placierung von Klängen (die, anders als es viele theoretische Äußerungen von Varèse vemuten lassen könnten, in seiner kompositorischen Praxis nur eine untergeordnete Rolle spielt; dieser letztere Aspekt wird übrigens teilweise schon in einem Teilabschnitt des vorausgegangenen Kapitels angesprochen: "Bewegung im Klang und Ortsveränderung von Klängen"). Die tonraumorientierten Analysen präsentieren sich in einer Vielzahl musikpsychologischer Aspekte; in Fällen der Oktavlagen-Veränderung werden überdies geometrische Prinzipien mit einbezogen ("Projektionen im Tonraum", z. B. Stauchungen oder Spreizungen).

Das erste Kapitel konzentriert sich auf biographische Aspekte, das letzte auf allgemeinere, auch musikübergreifende Gesichtspunkte. Das vorletzte, auf Formprobleme konzentrierte Kapitel untersucht sowohl Aspekte der collagierenden Reihung (die bis in die Nähe von Selbstzitaten führen kann) als auch prozessuale Formbildungen bei Varèse.

Im Gesamtzusammenhang der Darstellung wird deutlich, daß hier Alternativen zu tradierten, vor allem im deutschen Schrifttum verbreiteten musikhistorischen Vorstellungen aufgezeigt werden sollen, nach denen die Hauptentwickung der Musik des 20. Jahrhunderts sich an der Wiener Schule und an der seriellen Musik aufzeigen läßt. Die historische Stellung Varèses wird, abgesehen von einigen Querverbindungen zu Debussy und Ravel, weniger in seinem Verhältnis zu älteren Komponisten untersucht (oder nur selektiv: von Einflüssen Strawinskys, die dieser selbst mehrfach reklamiert hat, spricht eine Fußnote, während Einflüsse Schönbergs, etwa seiner Orchesterstücke op. 16, die sich in "Amériques" im mehrfachen Zitat dokumentieren, nicht besprochen werden). Auch Einflüsse Varèses auf jüngere Komponisten und neuere Stilrichtungen (z. B. auf Messiaen und Boulez, Xenakis und Stockhausen) spielen im Gesamtzusammenhang der Darstellung eine geringere Rolle als die Auseinandersetzung mit den zentralen Aspekten seines musikalischen Denkens und seiner kompositorischen Realisierung. So wird es dem Leser möglich, ein bemerkenswertes Fazit zu ziehen: Die Beschäftigung mit Varèse, mit seinem Musikdenken und mit seinen Kompositionen, kann entscheidende Anregungen dafür geben, in der Musik insgesamt neue Perspektiven und Wege zu entdecken.
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