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7.57.1 VarèseWDR99b.doc


Edgard Varèse

Audio-Porträt von Rudolf Frisius

(Anthologie Ars Acustica)

Z: Tuning up Doppel-CD Varèse CD 1 take 1 Anfang bis zu langem a:

Einstimmen des Orchesters, Musikfragmente Tradition (Vl E-Dur) und Varèse

Ein Orchester stimmt sich ein.

Dann werden kurze Musik-Ausschnitte hörbar:

Eine hitverdächtige "klassische" Melodie -

aber auch weniger gemütliche Klänge: Musik des 20. Jahrhunderts.

Alltägliches und künstlerisch Geformtes, Altes und Neues

verbinden sich in einer musikalischen Collage.

Z: Tuning up - Fortsetzung der vorigen Zuspielung

Diese Musik-Collage ist der erste take eines CD-Albums,

das einem der wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts gewidmet ist: Edgard Varèse.

Es erklingt eine merkwürdige Premiere.

Nachgelassene Skizzen des Komponisten haben hier dazu angeregt,

seine originelle und neuartige Musik hier einmal ganz anders zu präsentieren,

als wir sie aus seinen vollendeten Kompositionen kennen:

Also nicht als radikale Avantgardemusik, die sich freihält von allen Spuren des Konventionellen -

sondern als eine Collage aus Fragmenten des Alten und des Neuen,

des Bekannten und des Unbekannten.

Musik von Edgard Varèse erklingt am Ende des 20. Jahrhunderts

manchmal in anderem Klangbild als zu einen Lebzeiten -

womöglich sogar in einem anderen Klangbild, als es den Intentionen des Komponisten entspräche.

Edgard Varèse lebte von 1883 bis 1965.

Obwohl er ein hohes Alter erreicht hat, sind uns nur wenige Werke von ihm erhalten geblieben -

und dies liegt auch, aber nicht nur daran,

daß fast alle seine vor 1919 entstandenen Werke verloren gegangen sind

und daß er zwischen 1937 und 1953, also im Zeitraum eines Vierteljahrhunderts,

keine einzige Komposition vollendet hat.

Sein oeuvre ist noch schmaler als das Gesamtwerk Anton Weberns,

seines (von ihm übrigens hoch geschätzten) kompositorischen Antipoden und Altersgenossen,

der, fast gleich alt wie Varèse, schon 1945 verstorben ist.

Die Musik läßt sich auf 2 compact discs unterbringen -

und selbst auf diesen bleibt noch Platz für merkwürdige posthume Zugaben.

Z: Orchesterfassung: Un grand sommeil noir Orchester

Die erste Komposition von Edgard Varèse, die uns erhalten geblieben ist,

können wir heute im posthum veränderten Klangbild hören:

Arrangiert für großes Orchester im pseudo-spätromantischen sound.

Was Varèse 1906 wirklich komponiert, war allerdings etwas ganz anderes:

Ein schlichtes Klavierlied.

Z: Un grand sommeil noir Klavierlied

Die Musik von Edgard Varèse hat viele Gesichter:

Eindeutig - mehrdeutig,

original - bearbeitet,

als ausgeformtes Klangergebnis oder im Entwurfsstadium: als verbale Konzept-Kunst.

WELT ERWACHE.

DIE MENSCHHEIT AUF DEM VORMARSCH. NICHTS KANN SIE AUFHALTEN.

EINE BEWUSSTE MENSCHHEIT, NICHT AUSBEUTBAR UND MITLEID VERSCHMÄHEND,

AUF DEM VORMARSCH!

IM GANGE! SIE MARSCHIEREN!

MILLIONEN VON FÜSSEN, DIE ENDLOS STAMPFEN, TRAMPELN, HÄMMERN, SCHREITEN.

VERÄNDERTE RHYTHMEN. SCHNELL, LANGSAM.

STACCATO, SCHLEPPEND, STAMPFEND, HÄMMERND, SCHREITEND. IN BEWEGUNG.

DAS ABSCHLIESSENDE CRESCENDO MACHT DEN EINDRUCK,

DASS ZUVERSICHTLICH, MITLEIDLOS DIE BEWEGUNG NIE AUFHÖREN WIRD...

DASS SIE SICH SELBST IN DEN RAUM PROJIZIERT...

STIMMEN IM HIMMEL,

ALS OB MAGISCHE UNSICHTBARE HÄNDE

DIE KNÖPFE PHANTASTISCHER RADIOS AN- UND AUSSCHALTEN,

DEN GANZEN RAUM ERFÜLLEN,

SICH ÜBERSCHNEIDEND, INEINANDER ÜBERGREIFEND, EINANDER DURCHDRINGEND,

SICH SPALTEND, SICH ÜBERLAGERND,

EINANDER ABSTOSSEND, KOLLIDIEREND, SICH ZERTRÜMMERND.

SÄTZE, SLOGANS, ÄUSSERUNGEN, GESÄNGE, PROKLAMATIONEN:

CHINA, RUSSLAND, SPANIEN,

DIE FASCHISTISCHEN STAATEN UND DIE GEGNERISCHEN DEMOKRATIEN,

ALLE IHRE LÄHMENDEN VERSCHALUNGEN AUFBRECHEND...

Edgard Varèse ist ein Künstler,, der nicht nur durch seine Werke gewirkt hat,

sondern auch durch visionäre Beschreibung künftiger Enwicklungen,

auch solcher Entwicklungen, die womöglich hinausführen

über den Stand dessen, was sich bereits in Werken konkretisieren läßt.

Die Spannungzwischen Utopie und Konkretion,

die seit den 1920er Jahren sein gesamtes Werk bestimmt,

äußert sich wohl nirgends deutlicher als in einem Text,

der wohl aus den späten dreißiger Jahren stammt

und in dem ein Werk beschrieben wird, das in dieser Form niemals realisiert worden ist.

Sein Titel: ESPACE (d. h. Raum).

Gedacht war bei diesem Stück an Musik und Akustische Kunst,

in der sich die damaligen, weltweit bedeutsamen politischen Veränderungen widerspiegelten

und für die sich deswegen eine globale Aufführungsform anbot:

An verschiedenen Orten der Welt gleichzeitig -

weltweit verbreitet unter Zuhilfenahme moderner radiophoner Technik.

Dieses Projekt entstand in einer politischen Situation,

in der seine Intention politisch fragwürdig und seine Realisierung illusorisch erscheinen mußte.

Varèse ist beim Versuch der Ausarbeitung an Grenzen gestoßen,

an die auch Antoine Artaud, der mit ihm befreundete Schauspieler, Schriftsteller

und experimentelle Pionier und Erneuerer der Akustischen Kunst und des Theaters,

gestoßen ist:

Bei Varèse ebenso wie bei Artaud finden wir künstlerische Ideen,

die sich eigentlich nur als Entwurf, als Exposé ausformen ließen,

nicht in einem vollständig ausgearbeiteten Werk.

Die großen, schier unüberwindlichen Schwierigkeiten,

die solche kühn vorausweisenden Entwürfe dem Künstler bereiten können,

hat Edgard Varèse offen einbekannt.

Er hat zugegeben, daß er beim Versuch der kompositorischen Ausarbeitung

immer wieder in verzweifelte Situationen geraten ist:

Nachts wollte er wieder durchstreichen, was er tagsüber komponiert hatte -

oder auch umgekehrt.

In den dreißiger Jahren drohte Varèse als Komponist gänzlich zu verstummen:

Seine Klangvisionen entfernten sich uneinholbar weit vom damals Realisierbaren.

Wie weit der Abstand zwischen Utopie und Realität war,

zeigt das einzige in jenien schwierigen Jahren vollendete Werk -

ein Werk, das auch mit konventionellen Klangmitteln neue Wege aufzeigt:

Ein Flötenstück.

Z: Density 1. Phrase (Anfang bis Zäsurton g)

Eine leise Flötenmelodie beginnt:

Eine Linie mit kurzen Tönen, die sich engmaschig emporwinden;

eine behutsame Ausweitung mit hin und her pendelnden Tönen;

ein darüber gesetzter Zäsurton;

Musik, die sich ausweitet und aufsteigt.

Z: Density, 1. und 2. Phrase (f...g ausgehalten, f...g kurz)

Diese Musik entstand im Jahre 1936:

DENSITY 21.5 für Flöte solo, eine Komposition von Edgard Varèse,

ist eines der berühmtesten Beispiele einstimmiger Solomusik aus dem 20. Jahrhundert:

Musik als reine Melodie.

Edgard Varèse antwortet mit diesen Flötenklängen

auf ein anderes Flötenstück aus der Frühzeit seines Jahrhunderts:

SYRINX von Claude Debussy.

evtl. Z: Debussy, Syrinx 1. Phrase (b...b)

Musik als reine Melodie erscheint - bei Varèse ebenso wie bei dem von ihm bewunderten Debussy -

nicht selten als Keimzelle, die auch über ihre eigenen Möglichkeiten hinauszuführen vermag:

in einem musikalischen Formverlauf, der von der einstimmigen Melodielehre ausgeht,

aus der dann die Mehrstimmigkeit gleichsam herauswächst.

Für diese Entwicklung hat Claude Debussy schon lange vor dem Solostück SYRINX

die Weichen gestellt am Anfang eines bahnbrechenden Orchesterstückes:

PRELUDE A L´APRES-MIDI D´UN FAUNE.

Z: Debussy, Prelude a´après-midi d´un faune Anfang

(ein oder evtl. mehrere Wechsel Flöte - Orchester

Claude Debussy hat neue Wege aufgezeigt, auf denen

Melodie und Harmonie, Einstimmigkeit und Mehrstimmigkeit zussammenwachsen können.

Der junge Edgard Varèse, der Debussy bald nach der Jahrhundertwende

in Paris auch persönlich kennengelernt hatte,

hat sich hiervon beeindrucken lassen -

aber auch von anderen Ansätzen:

Von Musik, die von der einstimmigen Melodie ausgeht

und diese dann später einbindet in Konstellationen der Spannung und des Konflikts.

Einstimmigkeit und Mehrstimmigkeit erscheinen in solcher Musik in gespannter Polarität -

in Kontrasten, Schnitten und Montagen.

Auch hierfür hatte Varèse im Paris der Vorkriegszeit

ein wichtiges Modell kennenlernen können:

LE SACRE DU PRINTEMPS von Igor Strawinsky.

Z: Strawinsky, Sacre Anfang

Einstimmig - mehrstimmig, Steigerung - ausblenden nach Rückgang

Igor Strawinskys Ballettmusik LE SACRE DU PRINTEMPS,

die 1913 in Paris ihre skandalumwitterte Uraufführung erlebt hat,

beginnt mit einer unbegleiteten Melodie des Fagotts.

Auch in dieser Musik führt die Entwicklung von der reinen Melodie zur Mehrstimmigkeit -

aber nicht in behutsam organischer Entwicklung wie bei Debussy,

sondern in einer zerklüfteten Formgestaltung

mit scharfen und kantigen Schnitten und Expansionen, Brüchen und Zäsuren.

Diese konfliktgeladene Musik hat den Weg bereitet

für die größere Komposition von Edgard Varèse, die uns erhalten geblieben ist:

AMERIQUES.

Z: Amériques Anfang

Einstimmig - mehrstimmig (und evtl. weitere Wechsel)

Die Konflikte, die sich in der Musik von Varèse artikulieren,

ergaben sich als Konsequenzen aus Entwicklungen avancierter Neuer Musik,

die der 1883 Geborene seit dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts kennen gelernt hat.

Entscheidend hierbei waren kompositorische Einflüsse

nicht nur von Claude Debussy und seinem Antipoden Igor Strawinsky,

sondern auch von Arnold Schönberg,

der sich in kompromißloser Radikalität

von den tonalen Konventionen der spätromantischen Musik gelöst hat

in einer Musik der atonal-expressionistischen Eruptionen.

Z: Schönberg, op. 16 Nr. 4 Schluß

Steigerung - Absturz

1909 schuf Arnold Schönberg ein Orchesterstück, dem er später den Titel PERIPETIE gab.

Dieser Titel,

der auf die Verdichtung zur Katastrophe und auf den schließlichen Zusammenbruch anspielt,

bestimmt den Ablauf vor allem in den Schlußtakten. -

Dieses Stück gehört in einen Zyklus, den Varèse gekannt und sehr geschätzt hat:

Es ist das vierte der FÜNF STÜCKE FÜR ORCHESTER op. 16 -

ein Stück, dessen explosive Ausdrucksgewalt schon in den ersten Takten hervortritt.

Z: Schönberg, op. 16 Nr. 4 Anfang

Lauter Anfang - chromatische Bewegung aufwärts

An diese Musik knüpft Edgard Varèse an, wenn er, 10 Jahre nach deren Entstehung, sein monumentales Orchesterwerk AMERIQUES beginnt. In diesem Stück werden die Eröffnungstakte von Schönberg fast wörtlich zitiert.

Z: Amériques

1. Zitat Schönberg op. 16 Nr. 4 Anfang (evtl. incl. Fortsetzung)

Musik als dynamischer, konfliktreicher Prozeß -

Musik mit neuartigen Klängen als Artikulation neuartiger dynamischer Formprozesse:

Diese Stichworte verweisen auf aktuelle musikalische Entwicklungen,

die der junge Varèse nach der Jahrhundertwende kennengelernt hat

und die später auch für seine eigene kompositorische Arbeit bedeutsam werden sollten. -

Wie seine musikalische Entwicklung im einzelnen verlaufen ist,

wird wohl für immer weitgehend rätselhaft bleiben,

da fast alle seine Jugendwerke verloren gegangen sind.

Nur durch einen Zufall ist ein frühes Klavierlied aus dem Jahre 1906 erhalten geblieben -

ein Werk, das noch nirgends die Kühnheiten des späteren Varèse erkennen läßt, das aber gleichwohl schon interessante Verbindungen zwischen Musik und Sprache erkennen läßt:

UN GRAND SOMMEIL NOIR (deutsch: Ein großer schwarzer Schlaf) für Singstimme und Klavier,

auf ein Gedicht von Paul Verlaine.

Z: Un grand sommeil noir, Vorspiel und 1. Strophe (oder evtl. vollständig)

(Un grand sommeil noir

Tombe sur ma vie:

Dormez, tout espoir,

Dormez, toute envie!

Ein großer schwarzer Schlaf

fällt auf mein Leben:

Schlafe, alle Hoffnung,

schlafe, alles Verlangen!

Un grand sommeil noir - ein großer schwarzer Schlaf:

Mit diesem Bild beschwört Paul Verlaines Gedicht die tiefe Melancholie,

in der alle Hoffnung und alles Begehren versinken.

Die Musik beginnt mit einem Vorspiel -

mit einer in zwei Anläufen aufsteigenden Melodie,

die zunächst anschwillt, dann abschwillt und ausklingt.

Der Gesang folgt dem Text in ruhig deklamierender, ausgeglichener Linienführung,

die vom Klavier mit einfachen Melodielinien und Harmonien begleitet wird.

Z: Sommeil Vorspiel und 1. Strophe

Auch die zentrale zweite Strophe des Gedichts

ist, ebenso wie die erste Strophe, ein einfacher Vierzeiler,

gebildet aus vier (metrisch unterschiedlich akzentuierten) fünfsilbigen Versen,

die in Kreuzreimen angeordnet sind.

Der Text spricht vom Verlust der Erinnerung an Schlechtes und Gutes,

von der Trauer über Vergangenes.

Je ne sais plus rien,

Je perds la mémoire

Du mal et du bien...

Oh! la triste histoire.

Ich weiß nichts mehr,

ich verliere die Erinnerung

an Schlechtes und Gutes...

O, welch traurige Vergangenheit!

Z: Sommeil 2. Strophe

Die dritte Strophe überwindet die zuvor eingetretene Erstarrung.

In der Musik entsteht Bewegung, die sich dann schließlich wieder beruhigt.

Der Text spricht von der Wiege, die von unbekannter Hand bewegt wird

in einer dunklen Gruft, im Grabe -

von Leben und Tod;

von geheimnisvoller Bewegung, die schließlich im Schweigen versinkt.

Je suis un berceau

Qu´ une main balance

Au creux d´un caveau:

Silence, silence.

Ich bin eine Wiege,

die von einer Hand geschaukelt wird

in der Höhle eines Grabes:

Stille, Stille!

Z: Sommeil 3. Strophe)

Die drei Strophen des Gedichtes sprechen:

- zunächst von der Erstarrung: vom großen, schwarzen Schlaf,

in den alle Hoffnung und alles Begehren gefallen sind;

- dann von der Lähmung, vom Verlust der Erinnerung;

- (und) schließlich von der endgültigen Verwandlung der Bewegung in Stillstand:

von der Wiege, die in der Gruft bewegt, also vom Leben, das vom Tod umfangen wird -

und von der Stille.

Die letzte Strophe mündet dort, wo die erste begann:

Das Bild des großen schwarzen Schlafes

kehrt in verwandelter Form wieder als Bild der Stille.

Varèse macht dies deutlich,

indem er die ruhig aufsteigende Melodie,

mit der das Vorspiel seines Liedes beginnt,

am Schluß des Liedes in verwandelter Form so wiederkehren läßt,

daß sie sich jetzt verbindet mit dem Gesang:

mit zwei monotonen, auf einem einzigen Ton leise und resignativ gesungenen Worten:

Silence, silence.

Z: Sommeil: Zusammenschnitt aufsteigende Melodie a) Vorspiel, b) Schluß mit: Silence, silence.

Am Anfang und am Ende der Liedes stehen die Bilder des Schlafes und der Stille.

Die Musik deutet diese Bilder um in Prozesse der Verwandlung.

Dies zeigt sich schon im Vorspiel. Die melodische Prozeß erscheint hier mehrdeutig:

- einerseits sich öffnend, aus der Tiefe aufsteigend;

- andererseits sich öffnend im Crescendo

und anschließend wieder sich schließend im Diminuendo und im melodischen Ausklingen.

Z: Sommeil Vorspiel

Ganz anders präsentiert sich das Zentrum des Liedes, die zweite Strophe:

Als Stillstand der Musik, als Verharren der Melodie und vor allem der Harmonie.

Der Text spricht hier vom Verlust der Erinnerung.

Z: Sommeil 2. Strophe

Melodische Bewegung - harmonischer Stillstand - neue Bewegung, die schließlich verlöscht:

In diesen Stadien entwickelt sich die Vertonung des Gedichts.

Die Musik kommuniziert mit dem Text,

ohne dabei ihre eigenen Entwicklungsgesetze aufzugeben.

Z: Sommeil vollständig

In der einfachen Linienführung des Gesanges

und in den quasi-archaischen Mixturklängen des Klavierparts

erinnert dieses einfache Lied

an Stilmodelle des französischen Impressionismus, etwa an Klavierlieder von Claude Debussy.

Dennoch bleibt das Stück rätselhaft -

als einziges erhalten gebliebenes Frühwerk eines Komponisten,

der hier noch nach seinen eigenen Wegen sucht

und von dem wir Werke in seiner eigenen, unverwechselbaren Handschrift,

erst aus sehr viel späteren Jahren kennen.

Werke von Edgard Varèse, die vor diesem Lied, bis 1906,

oder anschließend, zwischen 1906 und 1919, entstanden sind, sind nicht erhalten.

Wir kennen nur etliche Werktitel und einige Beschreibungen.

Die Kommentare, die der Komponist selbst später gegeben hat, lassen sich nur schwer einschätzen,

da in sie womöglich auch Rückprojektionen späterer Ideen eingeflossen sind.

Dies gilt schon für das allererste Werk, eine Oper. Varèse äußerte sich über diese Komposition in einem Interview mit dem amerikanischen Komponisten Günther Schuller, das 1965, in Varèses Todesjahr, publiziert worden ist. Dort heißt es:

Als ich elf Jahre alt war, schrieb ich eine Oper nach Martin Pas von Jules Verne,

in der ich mich bereits mit dem Problem der Klanglichkeit

und ungebräuchlichen Klängen beschäftigte.

Ich haßte das Klavier und alle konventionellen Instrumente,

und meine erste Reaktion, als ich die Tonleitern zu lernen begann, war:

"Na gut, sie klingen alle gleich."

Diese Bemerkungen klingen merkwürdig aus dem Munde eines Komponisten,

aus dessen Feder uns ein etwa zwölf Jahre jüngeres Klavierlied erhalten geblieben ist,

das durchaus noch der traditionellen Tonalität verpflichtet ist.

Den Gesang begleitete er hier mit dem Klavier - und dies, obwohl er später behauptete,

dieses Instrument schon frühzeitig gehaßt zu haben. Immerhin hat es ihn in seiner Kindheit nicht gleichgültig gelassen, sondern äußerst verbittert, daß der Vater ihm das Klavierzimmer verschloß, weil er nicht wollte, daß sein Sohn Musiker wurde . -

Allerdings könnte es sein, daß Varèse schon frühzeitig das Spannungsverhältnis erkannt hat,

das sich herausbilden kann

zwischen weit in die Zukunft gewandten künstlerischen Ideen einerseits

und den Schwierigkeiten ihrer tatsächlichen Realisierung

in einer konkreten, mancherlei Begrenzungen unterworfenen

historischen Situation andererseits.

Es könnte sein, daß Varèse auch deswegen so wichtig für sein Jahrhundert geworden ist,

weil er rechtzeitig die Bedeutung konkret-utopischen künstlerischen Denkens erkannt hat.

In diesem Sinne sagte er:

Selbst das vollkommenste Kunstwerk ist lediglich eine Annäherung

an die ursprüngliche Konzeption des Künstlers.

Es ist das Bewußtsein dieses Abstands zwischen der Konzeption und ihrer Verwirklichung,

das den Fortschritt des Künstlers gewährleistet.

Über die musikalischen Ideen des jungen Varèse

und über das Klangbild seiner frühen Werke

sind wir meistens nur durch seine eigenen Worte informiert.

Nur in einem einzigen Ausnahmefall haben wir erfahren,

wie damals seine Musik aufgenommen worden ist.

Der Pianist und Komponist Eduard Steuermann hat, in einem Gespräch mit Günther Schuller,

von der Uraufführung einer sinfonischen Dichtung von Varèse erzählt.

Der Titel dieser Komposition nennt das Geburtsland des Komponisten: BOURGOGNE, Burgund.

Richard Strauss hatte dafür gesorgt,

daß das Werk am 15. Dezember 1910 in Berlin zur Uraufführung kam.

An diese Uraufführung unter der Stabführung von Josef Stransky

erinnert sich Eduard Steuermann mit folgenden Worten:

Ich kann mich kaum entsinnen, wie es war,

außer daß es da eine besondere Passage für unvorstellbar vielfach geteilte Streicher gab -

ich weiß gar nicht mehr, wie viele individuelle Stimmen es waren -,

was einen unheimlichen Wald aus Streicherklang ergab.

Es spielte das Blüthner-Orchester.

Weniger wohlwollend als diese Rückerinnerung ist eine zeitgenössische Rezension,

die im Januar 1911 in der Fachzeitschrift Die Musik erschien.

Willy Renz schrieb darin unter anderem:

Diese wunderliche Tondichtung,

die "das innere Sehnen des Kindes und später des Mannes nach dem Leben" ausdrücken soll

und die laut der unbegreiflichen Versicherung des Programmbuchs

"in einer musikalischen Atmosphäre" ertönt,

"die die frische reine Luft der Ebene

und der Nöhe des Flusses atmet, wo es erfüllt worden ist",

stellt sich als ein geradezu ungeheuerlicher Farbenklex dar,

bei dessen näherer Betrachtung einem gar bald die Augen übergehen.

Man steht dem wüsten Tonwirrwarr völlig ratlos gegenüber

und schwankt zwischen einem aus Ärger und Heiterkeit gemischten Gefühl hin und her.

Das Klavierlied UN GRAND SOMMEIL NOIR

und, wohl in viel stärkerem Maße, die symphonische Dichtung BOURGOGNE,

stammen aus einer Zeit,

in der Varèse Anschluß zu finden begann

an die modernsten Tendenzen der damaligen Neuen Musik -

im direkten Kontakt mit prominenten Komponisten

wie Claude Debussy, Richard Strauss und Feruccio Busoni.

Mit Claude Debussy hat Varèse, wie er später erzählte,

ausgiebig diskutiert und korrespondiert;

später, nachdem Varèse in Berlin

die neuesten Tendenzen der deutschen Musik kennengelernt hatte,

hat Varèse seinem einstigen Mentor Debussy

sogar die Partitur der atonalen Orchesterstücke op. 16 von Schönberg gezeigt.

Varèse selbst hat wohl den Eindruck gewonnen,

daß Debussy den Radikalismus des Jüngeren als wesensfremd empfand,

ähnlich wie den damaligen Radikalismus von Igor Strawinsky.

Von Richard Strauss, der ihm Schüler vermittelte und auch als Komponisten förderte,

hat Varèse sich distanziert, als er im ROSENKAVALIER sich zurückwandte zur Tradition.

Feruccio Busoni faszinierte den jungen Varèse weniger durch seinen klassizistischen Musikgeschmack als durch seine kühnen theoretischen Spekulationen,

die auf eine Überwindung des traditionellen Tonsystems,

auf neue, elektronisch erzeugte Klänge

und auf völlig neuartige, von Konventionen und Regeln befreite

Gestaltungsprinzipien zielten.

Varèse selbst hat sich noch 1959 daran erinnert:

Als ich 1907 nach Berlin ging,

wo ich mich in den kommenden Jahren hauptsächlich aufhielt,

hatte ich das große Glück, ein intimer Freund von Feruccio Busoni zu werden

(trotz der großen Ungleichheit des Alters und der Bedeutung):

Die Lektäre seines Buches

"Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst"

hatte mich begeistert,

sie war für mich ein Meilenstein in meiner musikalischen Entwicklung.

Als ich seinen Ausspruch stieß:

"FREI IST DIE TONKUNST GEBOREN UND FREI ZU WERDEN IHRE BESTIMMUNG",

war ich erstaunt und wirklich sehr erregt...

Es war auch Busoni, der sagte:

"DIE AUFGABE DES SCHAFFENDEN BESTEHT DARIN, GESETZE AUFZUSTELLEN,

UND NICHT, GESETZEN ZU FOLGEN.

WER GEGEBENEN GESETZEN FOLGT, HÖRT AUF, EIN SCHAFFENDER ZU SEIN."

Das von Busoni Postulierte hat später Varèse in die kompositorische Praxis umzusetzen versucht.

Die Kühnheit der Innovation verbindet er mit der Skepsis gegenüber voreiliger Rationalisierung.

Er sagt:

Kunst wird nicht aus der Ratio geboren.

Der Schatz ist im Unbewußten vergraben -

in jenem Unbewußten, das mehr Verstand hat als unser Scharfsinn.

In der Kunst ist ein Übermaß an Vernunft tödlich.

Schönheit resultiert nicht aus einer Formel.

Imagination gibt Träumen die Form.

Wie der junge Varèse mit innovativen Anregungen umging,

läßt sich, da sein Frühwerk weitgehend verloren ist,

erst aus der Sicht späterer Jahre beurteilen.

1914, beim Ausbruch des ersten Weltkrieges,

hatte er fast alle seine Partituren in Berlin zurücklassen müssen

und war nach Frankreich zurückgekehrt.

Später mußte er erfahren, daß seine Partituren in einem Brand vernichtet worden waren.

Nur eine einzige Orchesterpartitur aus seiner Berliner Zeit blieb erhalten,

und diese hat Varèse fast ein halbes Jahrhundert später, kurz vor seinem Tode, vernichtet.

Als erstes Werk, das der Nachwelt erhalten bleiben sollte,

wollte er ein großes Orchesterstück gelten lassen,

das entstanden ist, nachdem er 1915 in die Vereinigten Staaten ausgewandert war:

AMÉRIQUES.

Z: Amériques Anfang ausblenden auf einer Wiederkehr der Melodie

Amériques ist das erste Werk von Varèse,

das sich mit seinen ästhetisch-kompositorischen Utopien konkret vergleichen läßt.

Das Stück entstand in den Jahren 1919 bis 1922.

Schon drei Jahre vor Beginn der Komposition

konnte man im New Yorker Morning Telegraph nachlesen,

wie Varèse sich die Zukunft der Musik vorstellte.

Dort sagte er, ganz im Sinne von Busoni:

Unser musikalisches Alphabet muß erweitert werden.

Wir haben auch neue Instrumente bitter nötig...

In meinen eigenen Werken fühlte ich stets die Notwendigkeit neuer Ausdrucksmedien...,

die sich jedem Ausdruck des Denkens fügen und mit dem Denken Schritt halten können.

Eine ergänzende Bemerkung Varèses hierzu findet sich 1922 im Christian Science Monitor.

Dort heißt es:

Der Komponist und der Elektrotechniker werden zusammenarbeiten müssen, um das zu erreichen.

AMERIQUES, der Titel des ersten erhalten gebliebenen großen Orchesterwerkes von Varèse,

ist ein Werktitel im Plural.

Varèse interpretiert ihn in erster Linie nicht als Beschwörung seiner neuen Heimat,

sondern vor allem als Ankündigung erträumter neuer Klangwelten.

Z: Amériques: überlappende Fortsetzung der vorigen Zuspielung. aber Wiederkehr Anf.melodie

Die kompositorische Phantasie von Edgard Varèse artkuliert sich prägnant und lebendig,

in zahlreichen eruptiven Wechseln, in schroffer Opposition zu vorgegebenen Regeln.

Schon in seinem ersten erhaltenen Orchesterstück

führt dies zu vielfältigen, organischen, durchaus unschematischen Formgestaltungen

mit ständig variierten Melodien, Akkordballungen, Klang- und Geräusch-Schichtungen.

Immer wieder setzt die Musik neu an,

um dann nach einiger Zeit erneut auszubrechen

in Kontrasten oder überraschenden Verwandlungen, Klangblöcken und Klangprozessen.

In den vielfältig variierten Klangzellen des Stückes

hört man nicht nur spannungsgeladene Dissonanzen,

sondern auch kompakte Passagen mit Schlaginstrumenten, dichte Geräuschstrukturen.

Varèse selbst hat seinen Ansatz der expressiven Emanzipation des Geräusches

in prägnanter Metaphorik beschrieben:

Ich wurde eine Art teuflischer Parsifal,

nicht auf der Suche nach dem heiligen Gral,

sondern nach der Bombe, die das musikalische Universum sprengen könnte,

um alle Klänge durch die Trümmer hereinzulassen,

die man - bis heute - Geräusche genannt hat.

Z: Amériques, Passage mit Schlagzeug

(z. B. mit Schlagzeug angereicherte Variante der/eines Teiles der vorigen Zuspielung)

Das Spontane, Unberechenbare in der kompositorischen Erfindung von Edgard Varèse

kann so weit führen, daß nach vielfältigen Kontrasten

plötzlich - in überraschender Weise -

ein zuvor gehörtes Element variiert wiederkehrt.

Noch weiter geht Varèse, wenn er bestimmte Passagen

aus einem Werk in ein anderes überträgt -

wenn er diese Passagen also gleichsam transplantiert.

Beispielsweise finden sich bestimmte Orchesterpassagen aus AMÉRIQUES

auch in einer fast gleichzeitig entstandenen vokal-instrumentalen Musik:

In den 1921 entstandenen OFFRANDES für Sopran und Kammerorchester.

Z: Zusammenschnitt 2 entspr. Passagen: Amériques - Offrande

Die Formgestaltung in der Musik von Varèse ist offen -

offen sogar in Korrespondenzen zwischen verschiedenen Werken,

bei denen bestimmte Passagen klanglich umgeformt werden, aber doch noch erkennbar bleiben.

Verbindungen zwischen verschiedenen Werken

ergeben sich nicht nur in Klangstrukturen, die von einem Werk in ein anderes wandern,

sondern auch in der Formgestaltung -

beispielsweise in einstimmigen Anfängen,

die ausgehen von einem langen ausgehaltenen, eventuell auch rhythmisierten Ton,

und die sich dann weiter entwickeln in komplexere Zusammenhänge hinein.

Dies zeigt sich schon beim Vergleich von Anfangstakten -

beispielsweise beim Vergleich der Anfänge

des Orchesterstückes AMÉRIQUES und des instrumental begleiteten Sopranliedes OFFRANDES.

Z: Anfänge (Ausgangston - melodischer Fluß - Komplexität)

Amériques

Offrandes

Die OFFRANDES sind ein Werk der ambivalenten Verbindung von Sprache und Musik:

Die vielfältigen Beziehungen zwischen dieser Komposition und dem Orchesterstück AMÉRIQUES

werfen Fragen nach der Funktion des Textes auf:

Welche Bedeutung haben musikalische Passagen,

die sich in den OFFRANDES mit gesungenem Text verbinden,

die aber, kaum verändert, in den AMÉRIQUES auch rein instrumental vorkommen?

Behält die Affinität zwischen Text und Gesang ihre Bedeutung auch dann,

wenn die orchestrale Begleitung ohne Gesang zitiert wird?

Oder fungiert der Gesangstext als autonome, gleichsam kontrapunktische Ergänzung

zu einer Musik, die auch ohne ihn ihre eigenständige Bedeutung erhält?

Diese Fragen sind schwer zu beantworten -

zumal nicht auszuschließen ist,

daß die Antworten an verschiedenen Stellen der beiden Orchesterlieder

durchaus unterschiedlich ausfallen können.

Z: Offrandes I T. 21, Zählzeit 3b - 33

Anfang: La Seine dort... (evtl. vorher einblenden)

ausblenden vor oder evtl. auf oktaviertem Halteton d

La seine dort sous l´ombre de ses ponts.

Die Seine schläft unter dem Schatten ihrer Brücken.

Diese Zeilen finden sich in einem Gedicht

des 1893 geborenen chilenischen Dichters Vicente Huidobro.

Es heißt:

Chanson de Là-haut

Lied aus der Höhe

1921 hat Edgard Varèse dieses Gedicht in Musik gesetzt.

Die Vertonung bildet den ersten Teil der zweiteiligen Komposition OFFRANDES

für Sopran und Kammerensemble.

Nach einem längeren Vorspiel setzt die Singstimme ein.

Das Orchester begleitet sparsam:

mit einem Tremolo des Cellos,

mit Schlagzeug-Rhythmen

und mit klanglich extremen Harfen-Glissandi.

Dann setzt ein Trompetensolo ein, begleitet von markigen Akzenten der Streicher und Bläser.

Die Trompetenmelodie ist ein verfremdetes Zitat:

ein Melodiefetzen aus der Marseillaise.

Z: vorige Zuspielung verkürzt: Trompetenfanfare Marseillaise Refrain, 2 Takte

Offrandes I, T. 24-26

Der Text spricht von der Seine -

von dem Fluß, der durch Paris fließt, die Hauptstadt Frankreichs.

Die Musik zitiert die Nationalhymne dieses Landes -

als musikalisches Symbol, allerdings in ungewöhnlichem Kontext:

Eingeleitet mit avantgardistischen Schlagzeugrhythmen und Glissandi,

überlagert mit scharf rhythmisierten atonalen Akkorden.

Danach erscheinen im Text neue Sprachbilder:

Je vois tourner la terre

et je sonne mon clairon vers toutes les mers.

Ich sehe die Erde sich drehen,

und ich lasse meine Trompete erschallen zu allen Meeren hin.

Die Fortsetzung des Textes macht es möglich,

daß das plakative Zitat der Marseillaise nachträgliche auch noch eine andere Bedeutung bekommt:

Die Trompete erscheint im größeren Zusammenhang dieses Liedes

auch als Instrument, das das lyrische Ich, die Stimme des Dichters repräsentiert.

Die Musik zeigt dies schon in den ersten Takten des Liedes:

Eine Solo-Melodie der Trompete beginnt auf dem hohen d -

also auf demselben Ton, auf dem später auch das Zitat der Marseillaise einsetzt.

Z: Offrandes I Vorspiel, T. 1-21 (ausblenden vor dem Einsatz der Singstimme)

Die Musik beginnt mit einem hohen Ton und kehrt immer wieder zu ihm zurück.

Dies zeigt sich nicht nur in den melodischen Details,

sondern auch im Gesamtaufbau des Liedes:

Das Zitat der Marseillaise beginnt mit diesem Ton,

und anschließend führt die Musik wieder zu demselben Ton zurück.

Mit der oktavierten Wiederkehr des Anfangstones beginnt dann reprisenartig

die zweite Strophe des Gedichtes und der zweite Teil seiner Vertonung,

in dem der Text überwechselt von der Darstellung von Stadt und Umwelt

zur Anrufung der Geliebten.

Sur le chemin de ton parfum

toutes les abeilles et les paroles s´en vont.

Reine de l´Aube des Poles,

Rose des Vents que fáne l´Automne.

Auf den Weg Deines Duftes

machen sich alle Bienen und Worte,

Königin der Morgenräte der Pole,

Rose der Winde, die im Herbst verblüht.

Z: Offrandes I 2. Teil einblenden auf dem langen oktavierten d

Beide Teile dieses Liedes beginnen mit einer einstimmigen Melodie.

Schon nach wenigen Takten gerät diese Melodie

in polyphone und mehrschichtige Klangkonstellationen.

Immer wieder kehrt die Musik in diesem Stück zur Einstimmigkeit zurück,

der dann später wieder komplexe, sich ineinander schiebende Klangschichten folgen.

Gleichzeitig behauptet sich im gesamten Stück

die Ambivalenz einerseits wortgebundener, andererseits autonom sich gebärdender Musik.

Facetten der Verwandlung des rein Melodischen in komplexe Klangschichtungen,

wie man sie aus den ersten Partituren AMÉRIQUES und OFFRANDES kennt

finden sich auch in anderen instrumentalen Hauptwerken der zwanziger Jahre:

In den Instrumentalwerken HYPERPRISM erstmals in Verbindung mit den für Varèse charakteristischen Sirenenklängen; später auch in den Ensemblestücken OCTANDRE und INTÉGRALES.

Z: Anfänge Hyperprism, Octandre, Intégrales (1 Ton - Übergang zu kompl. Klangschichtungen)

Auch ARCANA, das 1925-1927 entstandene zweite Werk für großes Orchester,

das uns von Varèse erhalten ist,

beginnt mit einstimmiger Musik -

diesmal ausgehend nicht von einem gehaltenen oder rhythmisierten,

gleichsam gesanglichen Ton in höherer Lage,

sondern mit einer stampfenden, kreisenden Bewegung lauter Baßtöne;

auch hier schlägt die Musik später um in komplexe Klangschichtungen.

Z: Arcana Anfang: Tiefe Stampftöne - Umschlag in komplexe Klangschichtungen

Die 1930-1931 entstandene Komposition IONISATION für 13 Schlagzeugspieler

markiert im oeuvre von Edgard Varèse

ein weiteres Stadium der klanglich-kompositorischen Radikalisierung:

Die exzessive Schlagzeug-Besetzung

und der fast vollständige Verzicht auf Instrumente mit bestimmten Tonhöhen

(mit Ausnahme von Klavier und Röhrenglocken im Schlußabschnitt)

ermöglichen eine fast vollständige Loslösung von melodisch-harmonischen Tonstrukturen.

Nur in den rhythmischen Gestalten und Konstellationen zeigen sich noch Spuren des Tradierten:

Sie erscheinen bald vorbereitend, bald exponierend oder kontrastierend -

in vielfältigen Konstellation sich teils wiederholend, teils verändernd -

teilweise sogar in der Differenzierung zwischen Haupt- und Begleitstimmen.

Z: Ionisation Anfang: Einleitung - Hauptthema und Wiederholung

Die Anfangstakte der 1931 vollendeten Komposition IONISATION für Schlagzeugensemble

sind eines der bekanntesten Beispiele für musikalisch neuartige Klänge,

durch deren Verwendung Varèse seit den zwanziger Jahren berühmt geworden ist: Sirenenklänge.

Auf diese Klänge war Varèse aufmerksam geworden,

nachdem er ein klassisches Standardwerk der musikalischen Akustik gelesen hatte:

"Die Lehre von den Tonempfindungen" von Hermann von Helmholtz.

Während aber von Helmholtz Sirenen

ausschließlich als akustische Versuchsinstrumente verwendet hatte,

war Varèse auf die Idee gekommen, sie als Musikinstrumente einzusetzen -

sie einzusetzen für neuartige, explosive musikalische Klangwirkungen.

Erste Beispiele hierfür gibt es schon in dem 1922 vollendeten Orchesterstück AMÉRIQUES.

Z: Amériques Aufn. Boulez 3´ (Melodie) - vor 4´ (Zäsurton der wiedergekehrten Melodie)

Entscheidend ist nicht allein, daß Varèse Sirenenklänge verwendete.

Viel wichtiger ist es, wie er dies tat.

Worauf es ankommt, kann man im Vergleich erkennen -

zum Beispiel daran, daß wir aus den zwanziger Jahren

auch ganz andere Aufnahmen mit Sirenenklängen kennen.

Z: SOS Rao Rao Foyn (Friedrich Wolf): Sirenenklänge

1929 konnten die deutschen Rundfunkhörer

ein neues Hörspiel mit Sirenenklängen hören:

"SOS Rao Rao Foyn" von Friedrich Wolf.

Hier erscheinen die Sirenenklänge nicht als Musik, sondern als Hörspielgeräusche:

Als Alarmsignale, während einer Polarexpedition,

die in eine Krisensituation geraten war

und deren Forscher mit einer internationalen Krisensituation gerettet werden mußten.

Mit solchen pseudo-realistischen Sirenensignalen

haben die Sirenenklänge bei Varèse nichts zu tun:

Sie haben nichts mit narrativer Hörspieldramaturgie zu tun,

sondern mit einer völlig neuartigen Musik.

Z: Evtl. weiteres Sirenen-Beispiel bei Varèse

z. B. andere Stelle Amériques (Boulez-Aufnahme) oder Hyperprism oder evtl. Intégrales

Die Sirene, ein aus der alltäglichen Erfahrung im technischen Zeitalter wohlbekanntes Instrument,

hat Varèse für die Musik gleichsam neu entdeckt.

Entscheidend war die neue Idee, Sirenen als neue Musikinstrumente in das Orchester aufzunehmen;

verwirklichen ließ sich diese Idee relativ leicht.

Schwieriger wurde es allerdings, wenn Varèse über dieses Stadium hinauszugehen versuchte -

über das Stadium der Umfunktionierung von alltäglichen Klangerzeugern zu Musikinstrumenten.

Der Wunsch, darüber hinaus

Musikinstrumente neuer Art, elektronische Musikinstrumente zu verwenden

wie sie schon 1906 Busoni gefordert hatte, -

dieser Wunsch lag für Varèse nahe; er ließ sich aber nicht so leicht erfüllen.

In theoretischen Beschreibungen erschienen die neuen elektronischen Musikinstrumente

oft verlockender als bei der tatsächlichen klanglichen Erprobung.

Dies mußte auch Varèse schon bald nach seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten feststellen,

und dies hatte Konsequenzen auch für seine kompositorische Arbeit:

Für seine Komposition ECUATORIAL, die in ihrer ursprünglichen Fassung

in den Jahren 1933 und 1934 entstand,

hatte Varèse sich die Einbeziehung elektronischer Musikinstrumente vorgenommen.

Zunächst versuchte er es mit zwei Theremin-Instrumenten.

Es erwies sich aber als schwierig,

mit diesen Instrumenten die präzisen Anforderungen

der traditionell notierten Partitur zu erfüllen.

In einer revidierten Fassung, die 1961 uraufgeführt wurde,

hat Varèse deshalb diese Instrumente ersetzt -

und zwar durch andere elektronische Instrumente,

die sich inzwischen in der orchestralen Praxis besser bewährt hatten.

Diese Veränderung der Instrumentation war nicht sonderlich problematisch,

weil in diesem Stück die Vokalpartie

und die Partien für konventionelle Musikinstrumente

ohnehin eine viel wichtigere Rolle spielen als die elektronischen Musikinstrumente.

Auch ECUATORIAL ist ein Beispiel dafür,

daß beim Umgang mit alten und neuen Instrumenten

nicht nur utopisch, sondern auch durchaus pragmatisch denken konnte:

Seine Musik wird zur Ankündigung neuer Klangwelten auch dann,

wenn sie mit bekannten Tönen und Rhythmen, Instrumenten und Klangfarben arbeitet.

Die 1933-1934 entstandene Komposition ECUATORIAL ist in mehrfacher Hinsicht

ein Werk der Grenzüberschreitung:

Einerseits in der erstmaligen Einbeziehung elektronischer Musikinstrumente -

andererseits in einer neuen Konzeption der Verbindung von Musik und Sprache.

Im Zusammenwirken von Sprache und Musik

ergibt sich eine eigentümliche Ambivalenz

zwischen archaisch-atavistischer Wildheit und zukunftsorientierter Phantasie

Z: Ecuatorial Anfang (Instrumental, vokal)

(Vokal-instrumentale Werke wie OFFRANDES und ECUATORIAL

nehmen im oeuvre von Varèse eine Ausnahmestellung ein.

Seine Kompositionsweise, in der der spontanen Phantasie so große Bedeutung zukommt,

paßt sich nicht ohne weiteres der vorgegebenen Struktur eines literarischen Textes an.

Um so wichtiger wurde es für Varèse,

in seiner kompositorischen Entwicklung

neue Modelle der Verbindung von Sprache und Musik zu finden.

Er suchte nach Texten, die in scharf geschnittenen Kontrasten verschiedener Sprachbilder

eine abwechslungsreiche und undogmatische Vertonung erlauben.

Überdies versuchte er, den Text in der Musikalisierung aufzusplittern,

seine Teile zu isolieren, teilweise magisch-rituell zu wiederholen,

unter Umständen sogar aufzubrechen durch den Einschub heterogener Elemente -

zum Beispiel durch nonverbale Sprachlaute in seiner letzten Komposition,

die 1960-1961 auf Texte aus The Hous of Incest von Anais Nin komponiert wurde

und unvollendet blieb.

Z: NOCTURNAL Anfang

und (Zusammenschnitt) We belong to the night)

Die Musik von Edgard Varèse hat viele Gesichter.

Selbst in der Bereitschaft zu extremer Radikalität läßt sie sich nicht auf einen Nenner bringen.

Sogar die Grenzsituationen, in die sie sich begibt, sind extrem unterschiedlich.

Klar und kompromißlos ist diese Musik selbst dann, wenn sie sich als reine Melodie artikuliert;

in ihr finden sich aber auch ganz andersartige musikalische Gestalten und Klangbilder -

z. B. schroffe, heftige, allen instrumentalen Wohlklang verschmähende Geräuschkaskaden.

Z: Déserts, 1. Tonbandinterpolation Anfang, Ausschnitt CD NZfM

Die 1954 uraufgeführte DÉSERTS

ist eines der radikalsten Beispiele Neuer Musik im 20. Jahrhundert.

Der Skandal, den die Pariser Uraufführung dieses Stückes auslöste,

ist ohne Beispiel in der wahrlich an Skandalen reichen Musikgeschichte dieses Jahrhunderts.

Sogar der spektakuläre Pariser Uraufführungsskandal um Strawinskys "Le Sacre du Printemps"

sowie das tumultuöse Konzert Schönbergs und seiner Schüler 1913 in Wien

werden von jenen Proteststürmen weit in den Schatten gestellt,

die die Uraufführung der DÉSERTS im Pariser Rundfunk provoziert -

im ersten Konzert, das der französische Rundfunk live übertrug

und in dem außerdem die "Symphonie pathétique" von Tschaikowsky auf dem Programm stand.

Den heftigsten Tumult provozierten nicht die Orchesterpassagen,

sondern die Interludien mit Tonbandmusik.

Orchestermusik im mehrfachen Wechwsel mit extrem geräuschhaften Klängen aus dem Lautsprecher

erschien dem damaligen Pariser Publikum, das so etwas vorher noch nicht hatte erleben können,

offenbar als in besonderer Weise skandalös.

Edgard Varèse ist einer der radikalsten, wenn nicht überhaupt der radikalste

Neuerer in der Musik des 20. Jahrhunderts.

Die explosive Kraft seines künstlerischen Ansatzes zeigt in vielen seiner Werke

in extremen Gegensätzen -

in Gegensätzen, die oft schon dann unverhüllt zu Tage treten,

wenn man die Anfänge seiner Stücke mit dem vergleicht, was folgt.

Seine Musik beginnt oft mit knappen, aber prägnanten und eingängigen Tongestalten:

Meistens sind es unbegleitete Melodien;

im Anfangsteil von DÉSERTS sind es ruhige Töne und Akkorde.

Nach solchen Anfängen ist die Kontrastwirkung um so heftiger,

wenn heftige Dissonanzen, komplexe Geräuschrhythmen oder Klangschichtungen erscheinen.

evtl. Z: Anfang Déserts - heftige Forsetzung 0 - 2´04. aufhören vor c3

Wohl in keinem anderen Stück von Varèse

finden sich so extreme Gegensätze zwischen Anfang und Fortsetzung wie in DÉSERTS:

Gegensätze, die am schärfsten dann in Erscheinung treten,

wenn der Orchesterpart abreißt und unterbrochen wird von Tonband-Interpolationen.

Dies geschieht im Stück drei Mal.

Schon beim ersten Mal wirkt dies wie Einbruch einer radikal anderen Klangwelt -

und dies, obwohl auf der Tonbandaufnahme in manchen Momenten

auch Aufnahmen instrumentaler Musik (z. B. von Schlagzeuginstrumenten)

für den Hörer identifizierbar erscheinen.

Im Kontrast zwischen Orchesterpart und Tonbandklängen

artikuliert sich vor allem die extreme Spannweite der Musik dieses Jahrhunderts.

Z: Déserts: Schluß 1. Orchesterpassage - Anfang 1. Tonband-Interpolation

(diese evtl. auch vollständig)

Harmonische, ausgeglichene Anfänge und konfliktgeladene Fortsetzungen

erscheinen in der Musik von Varèse oft als kaum lösbare Widerspruch:

- einerseits der Weg der Musik zu sich selbst,

z. B. in melodischer Musik als wortloser Gesang

Musik, die sich auf Klangzentren konzentriert;

- andererseits der Weg der Musik über den Bereich des schon Bekannten hinaus:

Musik der freigesetzten Klänge, Musik als Geräusch.

Z: Déserts Übergang Orchester - Anfang 1. Interpolation

und, evtl. oder: Schluß 1. Interpolation, Anfang orchestrale Fortsetzung

Musik als Geräusch

läßt sich beschreiben als Kontrastmodell zur traditionell melodischen und harmonischen Musik,

etwa unter den Stichworten:

Musik auf dem Wege über sich selbst hinaus, Musik als Grenzüberschreitung.

Neue Musik, die sich zum Geräusch öffnet,

artikuliert sich nicht nur als Alternative zur traditionellen abendländischen Tonkunst,

sondern auch als Prozeß der Verwandlung in etwas anderes:

der Verwandlung von Musik in Akustische Kunst.

Varèse war einer der ersten Komponisten,

der hinausgedacht hat über die aus der Tradition bekannten klanglichen Möglichkeiten:

Stimmen und herkömmliche Instrumente genügten ihm nicht mehr,

um seine neuartigen klanglichen Vorstellungen zu verwirklichen.

Dennoch mußte er sich jahrzehntelang mit herkömmlichen Klangmitteln begnügen,

da er kein geeignetes Studio fand, in dem er mit elektroakustischen Klängen hätte arbeiten können.

Erst in den frühen fünfziger Jahren fand Varèse neue Möglichkeiten:

1952 begann er, mit aufgenommenen und technisch manipulierten Klängen zu arbeiten,

die dann zu Tonbandsequenzen montiert und als Interludien

in sein Orchesterstück DÉSERTS eingefügt werden sollten,

nachdem dessen Orchesterpartitur bereits fertiggestellt war.

1959, 5 Jahre nach der Pariser Uraufführung,

hat Varèse die klangliche Konzeption für DÉSERTS folgenden Worten beschrieben:

Das Werk verwendet Instrumentalklänge

und reale (aufgenommene und verarbeitete) Klänge,

Klänge, die die Instrumente nicht zu produzieren vermögen. (...)

Die Musik, die das Instrumentalensemble hervorbringt,

entwickelt aus gegenübergestellten Flächen und Blöcken

die Vorstellung der Bewegung oder des Raumes. (...)

Was die Tonband-Interpolationen betrifft, so ist hervorzuheben,

daß die erste und dritte auf industriellen Klängen basieren

(Klängen des Reibens, Schlagens, Pfeifens, Mahlens, Blasens),

die durch elektronische Verfahren gefiltert, verwandelt, transponiert und gemischt

und nachher, gemäß dem festgelegten Plan des Werkes, zusammengesetzt werden.

In Verbindung mit diesen Klängen

gibt es als stabilisierendes Strukturelement (besonders in der dritten Einschaltung)

instrumentale Schlagzeugpartieren,

von denen einige sich in der Partitur finden, daneben aber auch andere, neue.

Die zweite präparierte Tonbandeinschaltung zieht ein Ensemble von Schlagzeuginstrumenten heran.

Z: Déserts: Schluß 2. Orchesterteil und Anfang der 2. Interpolation

(evtl. im Zusammenschnitt mit 3. Interpolation)

(zuvor Schluß 3. Orchesterteil und Anfang 3. Interpolation

oder Schluß 3. Interpolation und danach Fortsetzung 4. Orchesterteil Anfang)

Die Doppelgesichtigkeit im oeuvre von Varèse,

seine Ansätze zur Befreiung und zur Grenzerweiterung

zeigen sich nicht nur im Vergleich verschiedener Werke,

sondern auch an verschiedenen Stellen desselben Werkes.

In DÉSERTS beispielsweise erscheinen Orchestermusik und Tonbandmusik

weitgehend heterogen (und dies wegen der schroffen Aufnahmetechnik, sogar dann,

wenn auf dem Tonband aufgenommene Instrumentalpartien zu hören sind).

evtl. Z: Déserts 3. Interpolation

entweder Schluß 3. Orchesterteil und Anfang 3. Interpolation

oder Schluß 3. Interpolation und Anfang 4. Orchesterteil

Die Kunst von Edgard Varèse zeigt sich janusköpfig im Verhältnis

nicht nur zur Musik im bisher bekannten Sinne,

sondern auch zu verschiedenen Möglichkeiten ihrer Grenzerweiterungen -

zu Phänomenen etwa der Klangkunst oder der Akustischen Kunst.

Sein Ausgangspunkt war in diesem Zusammenhang eindeutig:

Ihm ging es zunächst primär um die die Musik -

nicht um musikübergreifende Veränderungen oder um Veränderungen in anderen Künsten.

Selbst dann, wenn er über die traditionellen Grenzen der Musik hinausging

und andersartige, scheinbar musikfremde Materialien verwendete,

vesuchte er vor allem, diese nach musikalischen Kriterien zu komponieren.

Literarische oder filmische Strukturprinzipien haben für seine Arbeit keine wesentliche Bedeutung.

Verbindungen seiner Musik zur Literatur in wenigen Werken -

und selbst in diesen verbleiben beide Bereiche meistens in bekannten Konstellationen

(wie man sie aus Text-Vertonungen in traditioneller Vokalmusik kennt).

Verbindungen seiner Musik mit dem Film

hat Varèse nur in seltenen Ausnahmefällen in Betracht gezogen.

Beispielsweise hätte er sich einen Film zur Musik DÉSERTS gewünscht -

d. h. eine Konstellation,

in der Musik die Filmbilder nicht nachträglich illustriert,

sondern ihnen gegenüber autonom bleibt -

vielleicht sogar dominant.

Z: evtl. DÉSERTS Schluß

Das Späterwerk DÉSERTS (Wüsten) hat - ähnlich wie viele andere unter seinen Werken -

ein Titelwort im Plural, das ambivalente Assoziationen freizusetzen vermag.

Das Titelwort bezieht sich nicht nur auf äußere Erfahrung, auf Natur;

Varèse interpretiert es auch als Chiffre innerer Erfahrung, von Isolation und Depression.

Er schrieb:

Ich habe DÉSERTS als Titel gewählt,

weil dies für mich ein magisches Wort ist, das Beziehungen zum Unendlichen suggeriert.

DÉSERTS bezeichnet für mich nicht allein Wüsten der Natur, Sand, Meer, Berge und Schnee,

den äußeren Raum, verlassene Straßen in den Städten,

nicht nur diese von der Natur entblößten Aspekte,

die Sterilität, Entfernung, Existenz außerhalb der Zeit evozieren,

sondern auch diesen weit entfernten inneren Raum, den kein Teleskop erreichen kann,

wo der Mensch allein ist in einer Welt des Geheimnisses und

in einer den Kern seines Wesens treffenden Einsamkeit.

Z: DÉSERTS ab ca. 1´00 wiederholtes fis1 - 1´36 Ende take 16

aufhören vor Einsatz der folgenden Tonband-Interpolation

Die Entstehungsgeschichte des Werkes war von vielen Schwierigkeiten belastet.

Ein für 1953 geplante Aufführung der Orchesterpartitur

ohne die Tonband-Interludien, die damals noch nicht fertig waren,

kam nicht zustande.

Die Beziehung zur Pierre Schaeffer,

dem Leiter des Pariser Versuchsstudios, der Varèse zur Realisation des Tonbandes eingeladen hatte,

blieben frostig - so frostig, daß Schaeffer sich später offen von DÉSERTS distanzierte.

Besser gelang die Zusammenarbeit mit Pierre Henry,

dem langjährigen Mitarbeiter und kompositorischen Partner von Pierre Schaeffer,

der Varèse bei der Herstellung des Tonbandes assistierte.

Pierre Henry, der versierte konkrete Komponist und Studiomusiker,

bestand allerdings darauf, daß nur technisch hochwertige Aufnahmen verwendet wurden;

die Aufnahmen, die Varèse aus New York mitgebracht hatte

(unter anderem Klänge aus der Fabrik, Sirenenklänge und Motorengeräusche von Schiffen),

genügten ihm teilweise nicht, und er bestand darauf, daß neue Aufnahmen gemacht wurden. -

Der Skandal der Uraufführung,

mit der Varèse gegen eine Ouvertüre von Mozart

und gegen die Symphonie pathétique konkurrieren mußte, war so ungeheuer,

daß selbst Olivier Messiaen, der Varèse sonst hoch schätzte,

an dessen kompromißloser Radikalität irre wurde.

Unter den jüngeren Komponisten reagierte Pierre Boulez mit Respekt,

aber auch - vor allem bezogen auf die Tonband-Interpolationen - ohne Enthousiasmus.

Er hat später bei einer Schallplattenaufnahme gern von Varèses Erlaubnis Gebrauch gemacht,

die Tonband-Interpolationen wegzulassen. -

Stark beeindruckt von der Uraufführung war der junge Xenakis,

der an diesem Tag zu Hause blieb,

um dieses erste stereophon übertragene Konzert der französischen Rundfunkgeschichte

auf seinem Tonbandgerät mitzuschneiden.

Xenakis hat am Tage nach der Uraufführung die Tonbandaufnahme vorgespielt

und dabei gemerkt, wie schwer die überaus feindselige Aufnahme

den in seine Heimat zurückgekehrten Komponisten getroffen hatte.

Weniger turbulent als die Pariser Uraufführung geriet eine zweite Aufführung in Hamburg,

bei der statt Pierre Henry ein anderer profilierter jüngerer Komponist

am Mischpult saß: Karlheinz Stockhausen.

evtl. Z: Déserts (mit einer der Interpolationen, evtl auch vorher oder nachher kurz Orch.)

In einem neuen, 1957 begonnenen und 1958 vollendeten Werk

ging Varèse in seiner klanglichen und kompositorischen Radikalität

noch einen Schritt weiter:

Mit dem POÈME ELECTRONIQUE schuf er ein rein elektroakustisches Werk,

in dem alle Ereignisse auf Tonband fixiert sind.

Das Werk entstand auf Initiative des mit Varèse befreundeten Architekten Le Corbusier,

der für die Weltausstellung 1958 in Brüssel

den Auftrag für den Pavillon der Firma Philips erhalten hatte

und in dessen Auftrag Iannis Xenakis, damals noch sein Mitarbeiter,

die Architektur des Pavillons entworfen hatte.

Xenakis komponierte auch eine kurze elektronische Einleitungsmusik

für die Besucher des Pavillons.

Das Projekt POÈME ELECTRONIQUE hatte Le Courbusier

multimedial in der Kombination von Bildern und Lichtgestaltung entworfen.

Die Musik sollte Varèse komponieren.

Le Corbusier hat den Auftrag an Varèse

auch gegen beträchtlichen Widerstand der Auftraggeber

und ihrer technischen Mitarbeiter durchgesetzt.

So entstand die erste rein elektroakustische Komposition von Edgard Varèse -

autonome Musik, die auch in Verbindung mit anderen Bereichen künstlerischer Gestaltung

ihr Eigengewicht behielt.

Hierfür hatte Le Corbusier seinem Komponistenfreund auch weitgehende Freiheiten gegeben.

Dieser machte davon so intensiven Gebrauch,

daß er selbst den Wunsch, an einer bestimmten Stelle eine Pause zu machen, nicht respektierte:

Le Corbusier mußte von ihm erfahren, daß ausgerechnet an dieser Stelle

die Musik keineswegs verstummte, sondern besonders laut war.

evtl. Z: Poème electronique laute Stelle

POÈME ELECTRONIQUE blieb das einzige Werk,

in dem Varèse sich gänzlich auf die klanglichen Möglichkeiten der elektroakustischen Musik verläßt,

die er sich vorher jahrzehntelang vergeblich gewünscht hatte.

Die Frage, ob er mit diesem Werk alle selbst gesteckten Ziele erreicht hat,

ist schwierig zu beantworten.

Seit den zwanziger Jahren hatte Varèse elektoakustische Musik komponieren wollen

und seine traditionell notierten Partituren für mehr oder weniger konventionelle Instrumente

nur als kompositorische Notlösungen betrachtet.

Als er in den fünfziger Jahren schließlich Zugang zu elektroakustischen Klangmitteln bekam,

begnügte er sich mit einer einzigen rein elektroakustischen Tonbandkomposition.

Nach der Vollendung des POÈME ÉLECTRONIQUE hat er deutlich gemacht

daß die zuvor entstandenen DÉSERTS

seinen kompositorischen Wünschen eigentlich doch besser entsprachen:

Sie enthielten elektroakustische Klänge nicht als alternative Ablösung der alten,

sondern als deren integrative Ergänzung.

Aus diesem Grunde nahm er sich die Zeit, die Tonbänder zu DÉSERTS

in einem New Yorker Studio nochmals in mehreren Arbeitsgängen zu überarbeiten -

wobei die Frage schwierig zu beantworten ist,

ob die dabei erzielten Resultate durchweg der ursprünglichen Pariser Fassung überlegen sind.

Immerhin wurde so deutlich, daß Varèse weiterhin auf dem Weg nach neuen Lösungen blieb.

Z: Déserts mit Interludium in New Yorker Fassung (Ausschnitt mit Ringmodulation=

Das letzte Werk von Varèse, das Fragment geblieben ist

und posthum nach seinen Skizzen ergänzt wurde,

verzichtet auf die elektronische Tonbandkomposition

und kehrt zu konventionelleren Klangmitteln zurück.

Trotzdem kann die Frage offen bleiben,

ob nicht auch hier die innovatorische Kraft Varèses stark genug geblieben ist,

um seine neuartigen Vorstellungen auch mit überlieferten Klangmitteln zu realisieren.

NOCTURNAL, ein Werk über Finsternis und Nacht,

blieb ebenso unvollendet wie weitere kompositorische Pläne zu diesem Thema.

Aber in den Resten dessen, was Varèse noch vollenden konnte,

zeigen sich gleichwohl Spuren, die weiter voranweisen in die Zukunft:

Neue Verbindungen der Instrumentalmusik mit gesprochener und gesungener Sprache -

Verbindungen, in denen Varèse die Textmaterialien aus dem House of Incest von Anais Nin

in überraschender Weise aufspaltet, instrumental einkleidet

und mit neuen, nonverbalen Vokalpassagen verbindet.

So ergeben sich auch in diesem Werk wieder produktive Ambivalenzen:

Musik der Nacht, die gleichwohl vorausweist in die Zukunft.

Z: Nocturnal Anfang oder Schluß, Länge je nach Sendezeit

Die Befreiung des Klanges -

die musikalische Emanzipation des Geräusches -

die Öffnung der künstlerischen Phantasie

für innovatorische Impulse der Wissenschaft und Technik:

Diese Stichworte haben zentrale Bedeutung

für die gesamte künstlerische Entwicklung von Edgard Varèse gewonnen.

Er träumte von ästhetischen Revolutionen,

die ihre innovative Kraft gerade dadurch gewinnen würden,

daß sie die materiale Verschiedenheit der Musik

in ihrem Verhältnis zu anderen Künsten ernst nähmen -

und die gerade dadurch am besten neue Entwicklungen

auch in anderen Disziplinen anregen könnten,

vor allem in der Literatur und in den Bildenden Künsten, aber auch im Film.

Der kühne Neuerer Varèse hat schon frühzeitig sich dafür entschieden,

ständig über das bereits Bekannte und bereits Erschlossene hinaus zu denken -

auch dann, wenn er sich dabei mit beträchtlichen Schwierigkeiten auseinander setzen mußte.

Die innovatorische Energie,

die sein Leben von jungen Jahren bis in das hohe Alter hinein geprägt hat,

kennen wir aus der Beschreibung einer Romanfigur,

für die Varèse Modell gestanden hat:

"Jean Christophe" von Romain Rolland.

Den Haupthelden seines Romans beschreibt Rolland mit folgenden Worten:

Die Schwierigkeit begann, als er versuchte,

seine Ideen in approbierte musikalische Formen zu zwingen:

er machte die Entdeckung, daß ihnen keine der alten Schablonen paßte;

wenn er seine Visionen getreulich fixieren wollte, müßte er damit beginnen,

alle Musik, die er gehört hatte, und alles, was geschrieben hatte, zu vergeseen,

jeden Formalismus, den er erlernt hatte,

und jede herkömmliche Technik von der Tafel zu wischen,

die Krücken des Unvermögens fortzuwerfen und sich selbst des Bettes zu entledigen,

kurz aller Dinge, die nur der Faulheit jener dienen,

die auf der Flucht vor der Mühsal eigenen Denkens

sich auf den Gedanken anderer zur Ruhe legen.

In der Musik seines Jahrhunderts ist Edgard Varèse der Pionier wider Willen -

der unfreiwillige Prophet von Zukunftsvisionen, die hineinwirken in die Gegenwart.

Sprechregie:

Normaldruck: Autor

Kursiv: Zitat

KURSIV: ZITAT MANIFEST

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