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Rudolf Frisius
IANNIS XENAKIS - DER KONSTRUKTIVISTISCHE FAUVIST
BR Sa 23. 10. 99, 113´30
Z: Metastsaseis Anfang: Glissando - Cluster arco, mit Pizz, Tremolo
(ausblenden auf Triangelschlag) 1´29. CD Le Roux oder - besser - Rosbaud (u. U. beide, wechseln)
Musik aus einem Ton:
46 Streicher beginnen auf g, dem tiefsten Ton der Violinen.
Nach diesem gemeinsamen Beginn
werden alle 46 Partien individuell verschieden weitergeführt:
Alle Spieler, einer nach dem anderen,
verlassen den Ausgangston und leiten ihn in ein Glissando über -
die 32 höheren Streicher (24 Geigen und 8 Bratschen) aufsteigend,
die 14 tieferen Streicher (8 Celli und 6 Kontrabässe) absteigend.
So verwandelt sich der ausgehaltene Ton
Schritt für Schritt in eine dichte Glissando-Struktur.
Z: Metastaseis Anfang kürzer: Glissando - Cluster arco (ab 0´55)
ausblenden vor erstem woodblock-Schlag bei 1´05
Ein Ton verwandelt sich in eine dichte Tontraube,
aus dem einzelnen Elemente entwickelt sich eine dichte Masse:
Dieser kühne Formprozess war ein neues Signal in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts.
Er steht am Anfang eines Orchesterstückes,
das 1955 auf den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführt worden ist.
Der Titel des Werkes: Metastaseis.
Der Komponist des Werkes ist der 1922 geborene Grieche Iannis Xenakis.
Die skandalumwitterte Uraufführung von "Metastaseis" war eines der wichtigsten Ereignisse
in der bisherigen Geschichte der Donaueschingen Musiktage -
ein Beispiel dafür, daß auch mit konventionellen Orchesterinstrumenten
völlig neuartige Klang- und Formwirkungen möglich sind.
Schon der Anfang des Stückes
mit den dichten Glissandi im total unterteilten Streichorchester
gehört zu den originellsten und markantesten Einfällen dieses Jahrhunderts:
Der Streichersatz löst sich von allen Relikten
der traditionellenTonsprache und selbst ihrer modernen, z. B. seriellen Fortentwicklungen:
Es gibt keine festen Tonhöhen mehr:
In den Glissandokurven findet man weder Melodie noch Harmonie noch Rhythmus.
Alles ist im Fluß, und alle aus der Tradition bekannten Werte und Abstufungen sind aufgehoben.
Statt dessen entwickelt sich im mächtigen Crescendo
eine Verdichtung, verbunden mit einer Ausweitung im Tonraum,
die schließlich in einem dichten Cluster mündet:
dem ersten Ereignis, das der Komponist für einige Zeit unverändert läßt.
Z: Anfang bis Triangelschlag (ausblenden ab 1´30, Blendo herunter vor 1´34 Einsatz von Tönen
oder evtl. nur bis vor 1´11 (vor Anfang Pizz) oder vor 1´18 (vor Anfang Tremolo)
Glissandi hat später
(auf einem Gespräch mit dem Autor dieser Sendung)
den Anfang von "Metastaseis" mit folgenden Worten beschrieben:
Die Entdeckung dieser Glissandi war etwas vollständig Neues:
die Idee der Masse als ein Resultat vieler Einzelelemente;
man hört das Globale (=Glissando),
ohne die Details (= einzelne aufsteigende Töne) zu erkennen.
So wird beispielsweise die Veränderung
sowohl als kontinuierlicher wie als diskontinuierlicher Vorgang wahrgenommen.
Schon in den ersten Takten von "Metastaseis" artikuliert sich ein völliger musikalischer Neubeginn:
Die Verwandlung des einzelnen Tones in einen den gesamten Tonraum ausfüllenden Zusammenklang
zeigt auf knappstem Raum die Möglichkeit einer Musik,
die neuartig, aber gleichzeitig auch prägnant und plausibel klingt:
Der expansive Formprozeß läßt sich vom Hörer ohne weiteres mit- und nachvollziehen,
auch in seiner direkten Expressivität erfassen.
Der Hörer könnte allenfalls fragen, ob mit dieser allumfassenden Steigerung
nicht schon alles gesagt ist -
ob diese Musik den Anspruch, den sie mit ihren ersten Takten anmeldet,
im weiteren Verlauf überhaupt erfüllen kann.
Wenn nach einer knappen Minute bereits so viele Töne erreicht sind
und sich auf einer stehenden Klangfläche beruhigen -
warum sollte die Musik danach überhaupt noch weitergehen.
Wenn die Bewegung sich so rasch beruhigt -
wie ist es möglich, daß das Klanggeschehen danach wieder in Bewegung gebracht wird?
Z: Metastaseis Anfang, ausblenden 1´30 Triangeleinsatz bis vor 1´34 neue Töne
"Metastaseis" beginnt als komponierte klangliche Bewegung.
Zuerst bewegen sich einzelne Töne, in (auf- oder absteigenden) Glissandi.
Danach, wenn die Tonbewegung sich zum Stillstand gekommen ist
und eine dichte Klangfläche sich gebildet hat,
setzt sich die Bewegung in anderen Bereichen fort:
Einerseits in der Fortsetzung des bisherigen Crescendos,
andererseits in inneren Veränderungen des stehenden Klanges.
Die Töne bleiben längere Zeit unverändert,
aber dann wird für kurze Zeit der homogene Streicherklang aufgebrochen
durch einige eingestreute Pizzicati.
Es folgt, nach einer kurzen Zäsur,
ein Wechsel der Klangfarbe in allen Streichinstrumenten:
Den gestrichenen und gezupften Tönen
folgt schließlich ein Tremolo aller Streicher.
Z: Metastaseis: Klangfläche arco (ab 0´55) - mit Pizz (ab 1´11) und Tremolo (ab 1´18)
Einblende ab 0´55 - Ausblende 1´30-1´34 (ausblenden vor Einsatz neuer Töne)
Die harmonische Starre des dichten Klanges
wird aufgebrochen durch allmähliche und plötzlichen Veränderungen in anderen Bereichen:
Allmähliches Anwachsen der Lautstärke -
plötzliche Veränderungen der Klangfarbe (durch neue Spielweisen der Streicher).
Spannungsverläufe und Bewegungsprozesse,
wie man sie auch aus älterer Musik kennt,
z. B. aus sinfonischer Musik des 19. Jahrhunderts,
kehren hier in veränderter Gestalt wieder -
auch dies übrigens ein Novum in der damaligen seriellen Entwicklung,
die nicht von dramatischen Formprozessen geprägt war,
sondern von fein ziselierten seriellen Konstruktionen
(wie z. B. "Le marteau sans maitre" von Pierre Boulez).
Z (evtl.): Le marteau sans maitre (Anfang)
Die erste Uraufführung, mit der Iannis Xenakis 1955 sogleich großes Aufsehen erregte,
präsentiert eine Musik, die sich deutlich unterscheidet
selbst von exponierten Werken anderer Komponisten aus jener Zeit -
z. B. von der in demselben Jahre uraufgeführten Kantate
"Le marteau sans maitre" von Pierre Boulez.
Bei Xenakis kommt es, anders als bei Boulez,
nicht in erster Linie auf die einzelnen Töne und Klänge an,
die in verschiedenen Eigenschaften und Gruppierungen sorgfältig austariert sind.
Die Musik von Xenakis ist einfacher und komplizierter zugleich
als die meiste serielle Musik jener Jahre:
Einerseits im plakativ deutlichen Ausgang vom einzelnen Ton -
andererseits in der deutlich heraushörbaren prozeßhaften Formentwicklung.
Je stärker sich in dieser Musik dichte Massenstrukturen durchsetzen,
um so weiter treten die einzelnen Töne und Tonkonstellationen zurück.
Diese Musik kann der Hörer in vielen Passagen
nicht Ton für Ton, Klang für Klang entziffern,
sondern nur in allgemeineren Charakteristika ihrer Massenstrukturen.
Z: Metastaseis 1. Teil vollständig 0-2´50 (wenige lange Töne in weitem Abstand - Pause)
Man könnte meinen,
daß die Musik von Iannis Xenakis sich von vielen seiner Zeitgenossen unterscheidet
als Musik der direkten Rede:
Auch in komplexen Gestaltungen und Formprozessen
artikuliert sie sich plastisch und unmißverständlich.
Wenn man hier von "Musik der direkten Rede" spricht -
also von einer Musik ohne komplex vorkonstruierte
grammatische und syntaktische Gliederungen,
ohne hierarchisch abgestufte Haupt- und Nebensätze, Haupttexte und Exkurse und so weiter -
dann könnte dies nur insofern fragwürdig erscheinen,
als diese Musik eigentlich gar keine Rede ist:
Sprachliche oder von Sprache inspirierte Gliederungsformen,
wie sie bei wichtigen Exponenten der Musik nach 1945 noch eine große Rolle spielen,
findet man bei Xenakis selten oder nie.
Die weit verbreitete Auffassung, Musik sei eine Sprache, hat Xenakis stets bestritten.
Seine Massenstrukturen und seine Formprozesse erinnern weniger an Sprache
als an Gestaltungsprozesse in den bildenden Künsten:
Xenakis war in den späten 1940er und in den 1950er Jahren Mitarbeiter des Architekten Le Corbusier.
Die gleitenden Tonbewegungen seiner Orchesterkomposition "Metastaseis",
die Iannis Xenakis zunächst nicht in traditioneller Notenschrift,
sondern graphisch auf Millimeterpapier entworfen hatte,
inspirierten den Komponisten später zu architektonischen Skizzen
für die geschwungenen Gleitflächen des Philips-Pavillons der Weltausstellung 1958.
So kam es erstmals dazu, daß ein Künstler
avancierte neue Ideen fast gleichzeitig und auf gleichem professionellen Niveau
in verschiedenen Sinnesbereichen und Künsten realisierte.
Glissandolinien und -bündel werden also in einer Musik realisiert,
die den Hörer zur Rückbesinnung auf die graphischen Notationen
und auf ihnen entsprechende visuelle Strukturen anregen kann.
Hörbares und Sichtbares durchdringen sich wechselseitig -
die Kontinuität des imaginären Hörraumes
verweist auf die Kontinuität des real sichtbaren mehrdimensionalen Raumes.
Auch größere Formentwicklungen lassen sich beschreiben
im Vergleich verschiedener Klangstrukturen,
die so sinnfällig sind,
daß der Hörer sie leicht erkennen und auch mit graphischen Notationen identifizieren kann:
z. B. die auseinanderstrebenden Glissandi zu Beginn des Stückes -
später stehende Klänge zum dichten, den ganzen Tonraum erfüllenden Cluster -
noch später wenige gehaltene Töne in weiten Intervallabständen:
Z: Metastaseis Zusammenschnitt:
a) Anfang Glissando-Ausweitung 0 - 0´30 (aufhören vor leisem woodblock-Schlag)
b) Stehender Cluster 0´55 - 1´05 (aufhören vor woodblock-Schlag)
c) gehaltene Töne 2´38 - vor 2´50 (Pause)
Diese drei Klangbilder -
die Ton-Ausweitung im Glissando,
die weit gefächerte massive Tonschichtung im Cluster
und die Überlagerung einzelner Haltetöne in extremen Intervallabständen -
sind eingebunden in einen Formprozeß mit vielfältigen Verwandlungen,
die insgesamt den ersten Hauptteil des Stückes bilden:
Eine Musik vielfältiger Klangbewegungen und Klangverwandlungen, als fließende Zeit.
Z: Metastaseis 1. Teil fließende Zeit 0 - 2´50
Als Iannis Xenakis sein Orchesterstück "Metastaseis" komponierte,
sah er offensichtlich noch keine Möglichkeit,
mit den begrenzten Mitteln der traditionellen Orchesterinstrumente
aus den neuartigen Glissando-Strukturen einen längeren,
die gesamte Komposition umfassenden Formprozeß zu entwickeln.
Statt dessen begnügte er sich zunächst damit,
aus den Glissandi den ersten Hauptteil seines Stückes zu binden,
der mit einem markanten Crescendo und einer (Nachhall auffangenden) Pause abschloß.
So ergibt sich eine deutliche Zäsur, nach der die Musik ganz anders weitergeht:
Im Zentrum der Formentwicklungen stehen jetzt nicht mehr Klangkurven, Musik als fließende Zeit,
sondern deutlich abgestufte Töne und Tongruppen, Musik als geschnittene Zeit.
In diesem zweiten Teil finden sich, wie Xenakis selbst hervorgehoben hat,
noch deutliche Spuren des damals verbreiteten seriellen Denkens.
Z: Metastaseis geschnittene Zeit
Ende 1. Teil (ab 2´38 Haltetöne) - Zäsur - Tongruppen (2´50-5´10)
(aufhören vor lauten langen Tönen)
Der zweite Teil von "Metastaseis" beginnt im extremen Kontrast
zu vorausgegangenen ersten Teil.
Der Komponist hat darauf hingewiesen, daß dieser Teil
auch kompositionstechnisch stärker an Bekanntes erinnert,
aber gleichwohl auch auf Neues vorausweist.
Xenakis sagt:
Der Mittelteil basiert zwar auf seriellen Prozessen, Permutationen -,
aber er ist an Skalen und Zeitverläufe gebunden.
Das ist mein Ausgangspunkt,
von dem ich dann zu allgemeineren musikalischen Ereignissen komme. Erst im Gesamtzusammenhang des Stückes wird deutlich,
daß Xenakis zwischen den beiden kontrastierenden Teilen
kompositorisch zu vermitteln versucht:
Die Formentwicklung erweitert sich
durch die verwandelte Einbeziehung früherer,
bereits im ersten Teil eingeführter Gestaltungselemente,
und schließlich kehren auch die Glissandi wieder.
Z: Metastaseis Rückleitung
5´10 laute lange Töne - 7´48 Pause nach crescendierend aufsteigenden Glissandi
Am Schluß der Orchesterkomposition "Metastaseis"
kehrt die Musik wieder dorthin zurück, von wo sie ausgegangen ist:
Das Glissando,
von dem die Musik zu Beginn des Stückes im Prozeß der Ausweitung ausgegegangen war,
beginnt jetzt in weiter Lage und zieht sich dann wieder auf engerem Raum zusammen.
Die Musik mündet schließlich
auf einem einzigen (wiederum, wie zu Anfang in tiefer Mittellage erklingenden) Ton,
der von allen 46 Streichinstrumenten unisono gespielt wird:
zunächst als langer, gestrichener Ton, dann im Tremolo.
Z: letzte Glissando-Kontraktion (nach Pause) 7´59-8´55 (oder schon ab 7´48 Wiedereinsatz der Gliss.)
Der Schluß des Stückes läßt sich beschreiben
als konzentrierte und zugleich variierte Wiederaufnahme
des ersten Formprozesses zu Beginn des Stückes:
In beiden Fällen, am Anfang und am Ende,
setzen die Streicher im zusammenhängenden, gestrichenen Tönen ein,
und an beiden Stellen enden sie im Tremolo. -
Während die Abfolge der Klangfarben an Anfang und Ende ähnlich ist,
zeigt sich in anderen Bereichen,
daß der Schluß auch als rückläufige Entsprechung des Anfangs gehört werden kann:
Am Anfang breiten sich die Töne im Tonraum aus,
am Schluß ziehen sie sich wieder auf einem einzigen Ton zusammen;
und am Anfang findet sich ein ausgedehntes Crescendo,
während ganz am Schluß der allerletzte Ton, das Tremolo, im Decrescendo gespielt wird.
Im Vergleich von Anfang und Ende erkennt man,
wie die Formentwicklung sich anfangs über längere Zeit öffnet,
dann am Schluß in kürzerer Zeit wieder schließt.
Z: Metastaseis Zusammenschnitt Anfang und Schluß
a) 0 - 1´34 (Blende herunter ab 1´30, aufhören vor neuen Tönen)
b) 7´59 (nach Pause) bis 8´55 (Schluß)
Wenn man Anfang und Ende des Orchesterwerkes "Metastaseis" miteinander vergleicht,
kann man erkennen,
daß hier bei Iannis Xenakis noch letzte Spuren einer geschlossenen Formentwicklung erkennbar sind,
die am Schluß wieder auf den Anfang zurückkommt -
allerdings in verwandelter, dabei auch durch Vorausgegangenes geprägter und modifizierter Form.
Solche formalen Entsprechungen zwischen Anfang und Ende
spielen in späteren Werken von Xenakis keine Rolle mehr.
Vielleicht hat Xenakis sich davon abgewandt,
weil solche formalen Entsprechungen
noch relativ stark an traditionelle Formbildungen erinnern.
Die klanglichen Details allerdings und ihre Konstellationen
unterscheiden sich grundsätzlich von aller zuvor entstandenen,
auch von der mit determinierenden Parameter-Reihen arbeitenden seriellen Musik:
Die musikalischen Massenstrukturen lassen sich nicht mehr in klassischer Weise
durch Reihungen und Überlagerungen von Parameterwerten, Tönen und Klängen erklären;
an die Stelle der von Detailbestimmungen ausgehenden kausalen Logik
setzt Xenakis vielmehr eine von Häufigkeitsverteilungen ausgehende Wahrscheinlichkeitslogik -
zunächst intuitiv, später auch mathematisch genauer begründet.
Vor allem am Anfang und am Schluß wird deutlich,
daß Xenakis hier produktive Kritik an der damals neuesten Musik übt.
Die Zeit der einzelneln Tönen und Tongruppierungen
deterministisch abgeleiteten Musik,
also auch die Zeit der seriellen Musik hielt er für abgelaufen.
1955, im Jahr der Uraufführung von "Metastaseis",
kritisierte er traditionelle Relikte im seriellen Musikdenken
und entwarf Alternativen,
die weit hinausführten auch über seine eigene kompositorische Praxis jener Zeit.
Über serielle Musik mit polyphon überlagerten Reihen-Verläufen schrieb Xenakis:
Die lineare Polyphonie zerstört sich selbst
durch die Komplexität, die ihr gegenwärtig eigen ist.
Was man beim Hören wahrnimmt,
ist im Grunde genommen nichts anderes
als eine Anhäufung von Tönen in vielfältigen Registern.
Diese ungeheure Komplexität verhindert den hörenden Nachvollzug der verwickelten Linien
und zeitigt als makroskopischen Effekt
eine irrationale, zufällige Streuung der töne im gesamten Tonspektrum.
Somit besteht ein Widerspruch zwischen dem linear-polyphonen System und dem Hörergebnis:
Flächen und Massen.
Z: evtl. Boulez Structure Ia (oder Goeyvaerts Sonate oder Stockhausen Kreuzspiel)
Xenakis diagnostizierte eine Krise der seriellen Musik,
ihre Verwandlung in Hörphänomene,
die den deterministischen Denkansätzen widersprechen
und diese von innen heraus zersetzen
in einer Musik der Flächen und Massen.
In dieser Diagnose erkennt Xenakis bereits den ersten Ansatz der Therapie,
wenn er schreibt:
Dieser derPolyphonie inhärente Widerspruch wird erst aufgelöst werden,
wenn die Unabhängigkeit der Töne untereinander absolut sein wird.
(In der Tat, was zählen wird,
wenn die linearen Kombinationen und ihre polyphonen Kombinationen
nicht mehr wirksam sein sollten,
ist das statistische Mittel(, der Mittelwer)t der isoliert betrachteten
Transformations-Zustände der Komponenten zu einem bestimmten Zeitpunkt.
Der makroskopische Effekt wird somit
über den Mittelwert der Bewegung von n ausgewählten Objekten kontrolliert werden müssen.)
Die Konsequenz daraus bildet die Einführung
des Begriffs der Wahrscheinlichkeit (in die Musik),
einschließlich - in diesem speziellen Fall -
der (mathematischen) Kombinatorik.
Die Kritik der seriellen Musik führt Xenakis hier
zur Entwicklung einer neuen, mathematisch fundierten Musik-Konzeption.
Diese beschreibt er als logische Konsequenz aus der Krise der seriellen Musik.
Er sagt:
Wozu konnten die gleichwertigen, voneinander unabhängigen
80 Töne des temperierten Musikbereiches (...) noch dienen,
nachdem die polyphone Technik -
mit sicherer Hand die melodischen Linien führend -
sich sogleich der Zwölftonmusik bemächtigt hatte?
Eine "gedankliche Grenze" verhinderte so die Totalauswertung der Dodekaphonie.
Die Wahrscheinlichkeitsrechnung und -theorie heben dieses Hindernis hinweg,
indem sie erlauben, ebenso mit 80 als wie mit 1000 Tönen in globaler Weise zu arbeiten,
d. h. auch als Masse und nicht nur bloß linear.
Das würde dazu führen,
daß die Polyphonie ebenso zu einem bloßen Spezialfall dieser neuen Musik würde,
wie diese selbst eine neue Klangplastik hervorrufen müßte.
(Gr 4, 28)
Im Vorwort der Partitur zu "Metastaseis" heißt es:
Titelerläuterung:
Meta=nach und staseis=Ruhezustände (Urzustand)
= dialektische Umformung
Metastaseis ist ein Bindeglied zwischen der klassischen Musik
(dazu gehört auch die serielle Musik)
und der formalisierten Musik, die der Komponist in seinen Werken eingeführt hat.
Die Verbindung von Massenstrukturen,
wie man sie an Anfang und Ende findet,
mit seriellen Strukturen,
wie sie zu Beginn des zweiten Teiles erscheinen
beschreibt der Komponist selbst hier
als Resultat einer kompositorischen Übergangssituation:
Die musikalischen Traditionen, von denen Xenakis sich hier verabschiedet,
bleiben in der Musik selbst noch hörbar.
(Die strenge Abstraktion des mathematisch fundierten Ansatzes
steht im deutlichen Kontrast zur expressiven Kraft der daraus entwickelten Musik -
einer Kraft, auf die der Komponist nur in seltenen Ausnahmefällen zu sprechen gekommen ist,
beispielsweise im Programmtext zur Donaueschinger Uraufführung von "Metastaseis".
Dort heißt es:
Der Hörer muss gepackt und, ob er will oder nicht, in den Kreis der Töne gezogen werden,
ohne dass er deswegen eine besondere Ausbildung brauchte.
Der sinnliche Schock muss ebenso fühlbar sein
wie beim Anhören des Donners oder beim Blick in den unendlichen Abgrund.
Die Klangmaterie der "Métastassis" mit ihren Ordnungen und Gegensätzlichkeiten
soll den Hörer zunächst unmittelbar ansprechen.
Sie hören die Komposition "Metastaseis" im Zusammenhang.
Es spielt das Orchestre National de l´ORTF unter Maurice Le Roux
((oder: ..., in einem Mitschnitt der Uraufführung,
das Sinfonieorchester des Südwestfunks unter Hans Rosbaud))
Z: Metastaseis vollständig 8´55
oder längerer Ausschnitt: Anfang mindestens bis 2´50 Ende 1. Teil
oder Schluß ab 5´10 laute lange Töne
(Sie hörten "Metastaseis" von Iannis Xenakis.
Es spielte ...
unter der Leitung von ...)
Wenn man von der Großform des Stückes absieht,
kann man viele Besonderheiten in "Metastaseis" entdecken,
die sich auch für spätere Kompositionen von Xenakis als bedeutsam erwiesen haben.
Im Vergleich mit späteren Werken
zeigen sich allerdings nicht nur Entsprechungen, sondern auch Veränderungen.
Besonders deutlich zeigt sich dies an der wohl spektakulärsten Neuerung,
die Xenakis in "Metastaseis" eingeführt hat: am Glissando.
Während im frühen Orchesterstück die Glissandi noch dicht massiert sind,
hat Xenakis erst später mit individuellen Glissandi einzelner Instrumente gearbeitet,
z. B. in dem 1962 uraufgeführten Streichquartett ST 4:
Z: ST 4 Anfang bis 2´12 (aufhören vor Klopfgeräuschen)
oder mit längeren Glissandi (verbunden mit Repetitionen), z. B. bis 2´50 (Pause)
Einen Extremfall der bis zur Einstimmigkeit ausgedünnten Glissandokomposition
bildet die 1971 entstandene Komposition "Mikka" für Violine solo.
In diesem Werk arbeitet Xenakis nicht mit einfachen geraden Glissandolinien,
sondern mit ständig wechselnden Glissando-Geschwindigkeiten,
bei denen die Töne bald rasch auf- und abwärts jagen,
bald sich langsamer bewegen oder für einige Zeit auf einer festen Tonhöhe verharren.
In diesem Stück geht es weniger um großflächige Formentwicklungen
als um vielfältige Differenzierungen einer einzigen melodischen Bewegungsform.
Sie hören die vollständige, etwa dreieinhalb Minuten lang dauernde
Komposition "Mikka" von Iannis Xenakis.
Es spielt Irvine Arditti.
Z: Mikka Arditti, 3´38. Montaigne 782 005
Die kurze Solokomposition "Mikka" gehört, in der Beschränkung auf die Glissandobewegung,
zu den formal geschlossensten Werken von Xenakis.
Andererseits ist unverkennbar, daß großflächige Glissando-Formentwicklungen
wie zu Beginn von "Metastaseis" hier nicht mehr zu finden sind.
In "Mikka" sind alle Einzelheiten der differenzierten Formentwicklung,
der Glissandi mit mikrotonal gestuften Wendepunkten, genau verfolgbar.
Als Nachfolgestück zu "Mikka" entstand 1976 ein zweites Solostück für Violine: "Mikka S."
In diesem Stück arbeitet Xenakis mit einer in Glissandokurven aufgelösten Zweistimmigkeit,
bei der beide Stimmen mit wechselnden Richtungen und Geschwindigkeiten der Tonbewegung
kontrastierend aufeinander bezogen sind.
(Sie hören "Mikka S", gespielt von Irvine Arditti.)
Z: Mikka S, Arditti. 4´10. Montaigne 4´10 (evtl. nur bis 2´58 e2, Ende der 2st.k., Schluß vor forte a)
Falls nur Ausschnitt, entfällt der vorausgegangene Ansage-Satz in Klammern
Individuelle oder in größeren Massen kumulierte Glissandi,
wie sie sich in vielen älteren und neueren Werken von Iannis Xenakis finden,
lassen sich zurückverfolgen bis in den Anfang von "Metastaseis":
Dort hört man Glissandi zunächst vereinzelt, dann mehr und mehr sich überlagernd.
Der Ton, das kleinste Gestaltungselement der traditionellen Instrumentalmusik,
verwandelt sich bruchlos in masssiv gebündelte Tonbewegungen.
(Z: Metastaseis Anfang Glissandi - Blende herunter vor 0´31 1. woodblock-Schlag)
"Metastaseis" ist ein erster Höhepunkt in der kompositorischen Entwicklung von Xenakis.
Das Stück ist als großer Entwurf eines neuen musikalischen Ansatzes singulär.
Andererseits finden sich hier trotzdem etliche Besonderheiten,
die auch für spätere Werke von Xenakis bedeutsam geblieben sind.
Auffällig sind vor allem die großangelegten Entwicklungs- und Verwandlungsprozesse,
wie man sie nicht nur zu Beginn von "Metastaseiss" finden,
sondern auch in vielen späteren Werken - oft schon gleich zu Anfang.
Auch das auf "Metastaseis" folgende Orchesterstück beginnt mit einem solchen Formprozeß.
Das Werk heißt "Pithoprakta".
Z: Pithoprakta Anfang Verwandlungsprozeß: Anfang
ab 2´30 Klangfläche langsam ausblenden (auf den hohen Repetitionsgruppen mit Zwischenpausen)
(Blende herunter vor 2´47 Pizz-Repetitionen)
CD Le Roux oder - besser - 1957 München Scherchen
"Pithoprakta" ist, nach "Metastaseis", das zweite Werk für großes Orchester,
mit dem Iannis Xenakis in den 1950er Jahren Aufsehen erregt hat.
Nachdem "Metastaseis" 1953-1954 entstanden und 1955 uraufgeführt worden war,
folgte 1955-1956 die Komposition
und am 3. März 1957 die Münchener Uraufführung von "Pithoprakta".
"Metastaseis" wurde vom Sinfonieorchester des Südwestfunks unter Hans Rosbaud gespielt -
in einer Aufführung, die der Komponist auch Jahrzehnte später, nach vielen weiteren Aufführungen,
immer noch für die beste gehalten hat.
"Pithoprakta" wurde vom Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks aus der Taufe gehoben,
unter der Leitung von Hermann Scherchen,
einem der wichtigsten Mentoren und Förderer, die Xenakis in jenen Jahren hatte.
Das Neuartige dieser Musik wurde auch damals schon bemerkt.
Viele verstanden allerdings nicht genau
den konstruktiven und ästhetischen Hintergrund dieser Musik.
Die provokativen Holzgeräusche der Streicher zu Beginn von "Pithoprakta"
ließen sich interpretieren als Artikulation einer wilden, ungezähmten Tonsprache.
Es sollte nicht lange dauern, bis Xenakis erfahren konnte, daß seine Musik offensichtlich
Eindruck auf experimentelle junge polnische Komponisten gemacht hatte -
z. B. auf Krzystof Penderecki, der 1960 in "Anaklasis"
ebenfalls mit geräuschhaften und verfremdenden Streicher-Effekten arbeitete.
Z (evtl.): Anaklasis Anfang (bis zu drei aufsteigenden Clustern, letzter vibrierend - ausblenden)
Mit "Anaklasis"
hat Krzystof Penderecki auf den Donaueschinger Musiktagen beträchtliches Aufsehen erregt.
Wohl nur wenige Donaueschinger Hörer konnten bei dieser Uraufführung nachvollziehen,
was Xenakis dachte, als ihm Freunde von seinem Einfluß
auf die junge polnische Avantgarde erzählt hatten:
Xenakis konnte nicht verstehen, daß andere Klangeffekte aus seiner Musik nachahmen wollten.
Für ihn waren neue Klangfarben und Klangeffekte keine isolierten Phänomene,
sondern Konsequenzen eines neuen Musikdenkens.
Die Geräusche zu Beginn von "Pithoprakta" beispielsweise erschienen ihm notwendig,
um mit einem gleichbleibenden Instrumentarium, nämlich mit den Streichinstrumenten,
den Übergang vom Geräusch zum Ton darzustellen:
Von kurzen Klopfimpulsen Schritt für Schritt übergehend
zu gezupften oder gestrichenen Tonimpulsen und schließlich zu ausgehaltenen Tönen.
Z: Pithoprakta Anfang bis Klangfläche und hohe Repetitionen mit Zwischenpausen
(ausblenden ab 2´30 bis spätestens vor 2´47 Einsatz der Pizz-Repetitionen)
Schon in seinen ersten veröffentlichten Orchesterwerken hat Xenakis
sinnfällige Möglichkeiten dafür gefunden,
größere Formprozesse nicht nur in sich auszugestalten,
sondern sie auch in anderen Formprozessen adäquat fortzusetzen.
Besonders deutlich zeigt sich dies in "Pithoprakta":
In diesem Stück sind verschiedene Verwandlungsprozesse miteinander verkettet.
Z: Pithoprakta Anfang: Geräusch- und Tonimpulse
0 bis 2´12 (Pause nach schnellen Arco-Tönen)
Die kurzen Geräuschimpulse, von denen die Formentwicklung des Stückes ausgeht,
verdichten sich und verwandeln sich nach und nach in Tonimpulse
mit bald gezupften, bald gestrichenen Tönen.
Nach einer Pause wird diese Entwicklung polarisierend weitergetrieben:
Man hört dicht massierte Töne
zunächst asynchron, als dichte Wolke vieler kurzer Pizzikato-Töne,
dann synchron, als Überlagerung zu einer dichten Klangfläche langer, gestrichener Töne.
Z: Pithoprakta Fortsetzung: Pizzikatowolke - Klangfläche (mit Xyl-Rep)
2´14 - 2´30 (Einsatz Klangfläche mit Xyl) - ausblenden vor 2´47 (Pizz)
Auf der Klangfläche der Streicher kommt die Bewegung der Klänge und Töne erstmals zur Ruhe.
Gleichzeitig beginnt eine rhythmische Pulsation im Xylophon,
die die Homogenität des Streicherklanges aufbricht
und gleichzeitig einen Wendepunkt der Formentwicklung markiert:
Als erster Impuls zu einem neuen Formprozeß, der die Entwicklung wieder in Bewegung bringt.
Was die hohen Tonrepetitionen des Xylophons ankündigen, erfüllt sich im weiteren Verlauf:
Sie werden übernommen und verdichtet in Pizzikato-Tönen der Streicher,
die Schritt für Schritt die dichte Klangfläche aufbrechen.
Der rhythmischen Bewegung folgt dann die Bewegung der Töne:
Im Streichersatz setzen sich Glissandi durch.
Z: Klangfläche mit Einzel-Tonimpulsen (Xyl) - Impuls-Verdichtung (Pizz) - Glissandi
2´30 - 4´34 (Pause)
Die Musik entwickelt sich von Geräusch-Pulsationen über pulsierende Töne
bis zu ausgehaltenen und gleitenden Tönen.
So zeichnet sich schon in den ersten Formteilen des Stückes
ein Endstadium der Formentwicklung ab,
der dann später am Schluß des Stückes noch deutlicher hervortritt:
Die Verwandlung von Geräuschen in Tönen führt,
verbunden mit Verdichtung und anschließender Verdünnung,
schließlich dazu, daß nur noch vereinzelte Glissandi in hoher Lage übrig bleiben:
Bewegte Klangmassen haben sich so schließlich verwandelt
sparsam gesetzte, isolierte Einzelelemente, in kurze, extrem hohe Flageolett-Glissandi.
Z: Pithoprakta Schluß: (8´33 Klangfläche - 8´44 Glissandoknäuel verdünnt sich)
9´00 - 9´45 hohe Glissandi (gegliedert 9´12 durch woodblock-Akzent)
Die Formentwicklung in "Pithoprakta" ist ähnlich großflächig und prozeßhaft angelegt
wie im vorausgegangenen Orchesterstück "Metastaseis".
Während allerdings in "Metastaseis"
eine geschlossene Formentwicklung
am Ende wieder zum Ausgangsstadium, zum Einzelton zurückführt,
bleibt am Schluß von "Pithoprakta" die Formentwicklung offen,
da sie hier mit wenigen stockenden Tönen
ein ganz anderes Stadium erreicht hat als am heftig geräuschhaften Beginn des Stückes.
Man kann sich dies verdeutlichen, indem wenn man
drei Stadien des Formprozesses in "Pithoprakta" miteinander vergleicht:
Die Geräuschimpulse zu Anfang -
später die Verbindung von Tonimpulsen mit langen Tönen einer dichten Klangfläche -
der Schluß mit ebenfalls ausgehaltenen, jetzt aber isolierten und gleitenden Tönen:
Z: Pithoprakta Zusammenschnitt
a) Anfang (kurz, z. B. bis zur 1. Pause, Takt 4)
b) Zentrum: Klangfläche mit Xylophon-Repetitionen 2´30 - 2´47 (aufhören vor Pizz)
c) Schluß: hohe einzelne Flageolett-Glissandi 9´00-9´45
Man erkennt eine Abfolge verschiedener Bewegungsformen
im Spannungsfeld zwischen Geräusch und Ton,
zwischen Bewegung und Starre,
zwischen diskontinuierlicher und kontinuierlicher Klangverbindung.
Dies sind die wichtigsten Stadien der Formentwicklung des gesamten Stückes.
Xenakis selbst hat den kompositorischen Ansatz dieses Werkes
mit folgenden Worten beschrieben:
Der Komponist (...) bemüht sich um eine Gegenüberstellung von Kontinuität und Diskontinuität,
repräsentiert durch Glissandi und Pizzicati,
Schläge mit der Bogenstange oder sehr kurze Bogenschläge,
desgleichen durch Schläge mit der Hand
auf den Korpus der extrem geteilten Streichinstrumente. (...)
Mit den Glissandi -
im Bereich des Sichtbaren etwa geraden Linien vergleichbar -
werden in kontinuierlicher Umwandlung begriffene Klangvolumina geschaffen.
Durch eine große Anzahl punktueller, über die ganze Breite des Spektrums verstreuter Töne
entsteht eine dichte "Granulation", eine veritable Wolke aus bewegter Klangmaterie (...)
So verliert der einzelne Klang
zugunsten eines en bloc, in seiner Totalität wahrzunehmenden Ganzen an Bedeutung.
Der Autor strebt also danach, eine neue "Morphologie" des Klangs aufzudecken,
die sowohl durch ihren abstrakten Aspekt
(Wahrscheinlichkeitstheorie)
als auch durch ihren konkreten Aspekt (Wahrnehmung bislang noch nicht gehörter Materien)
zu fesseln versteht.
(BN 74)
Die Verbindung zwischen abstrakter Konzeption und konkreter sinnlicher Erscheinung der Musik
ergibt sich für Xenakis daraus, daß er komponierte Massenstrukturen
auch als Spiegel der außermusikalischen Realität definiert.
In einem Brief an Hermann Scherchen schreibt er:
Massenzustände,
wie sie von großen politischen Manifestationen,
soziologischen, ökonomischen, physischen und astrophysischen Tatsachen her bekannt sind,
haben uns mit Zuständen vertraut gemacht,
denen statische Mittel und Massierungen das "Gesicht" verleihen,
wobei sie zugleich das konstituierende Individuum gestalten
(man denke nur an die verheerende Wirkung einer gewaltigen Menge,
die der Ordnungswerte beraubt ist).
(Gr VI, 35)
(Sie hören die vollständige Komposition "Pithoprakta".
Es spielt das Orchestre National de l´ORTF unter der Leitung von Maurice Le Roux)
(oder evtl:
Es spielt das Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks
unter der Leitung von Hermann Scherchen).
Z: Pithoprakta vollständig 9´45
(oder evtl., dann ohne Ansage, nur ein längerer Ausschnitt, je nach Sendezeit)
(Sie hörten die Komposition "Pithoprakta" von Iannis Xenakis.
Es spielte ...
unter der Leitung von... )
Xenakis entwickelt seine musikalischen Konzeptionen in der Auseinandersetzung
nicht nur mit der musikalischen Tradition,
sondern vor allem auch in Beobachtung und theoretischer Reflexion
von Phänomenen der anorganischen oder organischen Natur
oder der politisch-gesellschaftlich geprägten Realität.
Sowohl im nächtlichen Gesang großer Zikadenschwärme
als auch bei der Teilnahme an Athener Massendemonstrationen
gegen die deutschen Besetzer während des zweiten Weltkrieges
hat Xenakis Phänomene der Interaktion vieler Einzelwesen entdeckt,
bei dienen nicht die Aktion jedes einzelnen deterministisch beschrieben werden kann,
sondern nur der globale Formprozeß, der sich aus dem Zusammenwirken vieler einzelner ergibt.
"Pithoprakta" nimmt unter den Werken, vor allem in der Instrumentalmusik von Iannis Xenakis insofern eine Ausnahmestellung ein,
als sich hier Ansätze eines zusammenhängenden Formprozesses erkennen lassen,
der sich über das gesamte Stück erstreckt.
Die größeren Zusammenhänge der Formentwicklung
werden hier beherrscht vom Prinzip der Kontinuität, der allmählichen Veränderung.
Andererseits wird schon zu Beginn des Stückes, in den Klangwolken der Geräuschimpulse deutlich,
daß es Xenakis hier nicht um bruchlosen Klangfluß, um reine Kontinuität geht,
sondern um die dialektische Spannung zwischen Diskontinuität und Kontinuität.
Dies zeigt sich auch in größeren formalen Zusammenhängen,
wenn dichte Klangstrukturen plötzlich durch Pausen aufgebrochen werden,
wenn an bestimmten Stellen sich eine Zäsur bildet
und ein Klangblock von einem anderen abgelöst wird;
schließlich auch an manchen Stellen,
die weniger durch prozeßhafte Veränderungen gekennzeichnet sind
als durch blockhafte Zuständlichkeit, durch massive Statik.
Auch dadurch wird deutlich, daß Xenakis in seinem Musikdenken
keineswegs Vereinheitlichung um jeden Preis anstrebt,
sondern Prozesse und Kontraste, allmähliche und plötzliche Veränderungen
miteinander verbindet.
Seine Werke sind nicht Verkündigungen einer allumfassenden Versöhnung,
sondern Klangbilder einer vielschichtigen, vielgesichtigen, konfliktgeladenen Welt.
Kraft der gestalterischen Vereinheitlichung
und die Kraft der Exposition auch des Widersprüchlichen, scheinbar Unvereinbaren:
Beides ist für die Musik von Iannis Xenakis charakteristisch
und prägt dieses in produktiver Spannung.
So kann diese Musik sich einerseits in direkter Kontinuität aus gleitenden Tonlinien entwickeln
(wie in "Metastaseis"),
andererseits aber auch aus der Kontinuität des Diskontinuierlichen,
aus der dichten Häufung isolierter Klangimpulse
(wie in "Pithoprakta").
Beide Möglichkeiten finden sich nicht nur in instrumentalen Werken von Xenakis,
sondern auch in seiner elektroakustischen Musik.
Die 1957 entstandene Tonbandmusik "Diamorphoses"
ist die erste elektroakustische Komposition von Iannis Xenakis.
Sie eröffnet eine Reihe von Werken, die in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren
in dem (von Pierre Schaeffer begründeten)
Versuchsstudio für konkrete Musik am Pariser Rundfunk entstanden sind.
Die erste Studioproduktion von Iannis Xenakis steht,
ähnlich wie sein erstes veröffentlichtes Orchesterstück,
im Zeichen der Kontinuität.
Für die Entwicklung kontinuierllicher Klangveränderungen
boten sich Xenakis im Studio weiter reichende Möglichkeiten
als in einer konventionellen Orchesterbesetzung,
bei der die Streicher im Tonraum auf- und absteigende Glissandolinien auszuführen hatten:
In der elektroakustischen Musik lag es dagegen nahe,
nicht nur einzelne Töne gleitend zu verändern,
sondern auch komplexere, z. B. geräuschhafte Klänge.
Dabei wurde es beispielsweise auch möglich,
aus der Hörwelt bekannte, sogenannte "anekdotische" Klänge
durch gleitende elektroakustische Transformationen
allmählich in unbekannte Klänge zu verwandeln.
Den kompositorischen Ansatz dieses Stückes
hat Xenakis mit folgenden Worten beschrieben:
"Dieser Versuch zielte darauf ab,
den Ursprung jener Klänge anekdotischen Charakters,
die hier zum größten Teil verwendet werden,
vergessen zu machen.
Ein anderer wichtiger Versuch bestand darin, gerichtete Klangfarben zu schaffen,
das heißt solche,
die ausgehend von ganz anders strukturierten elementaren Klängen
richtungsbetonte Raster und besonders kontinuierliche Bewegungen der Klangmaterie aufweisen.
Der Gegensatz zwischen Kontinuität und Diskontinuität zeigt sich daran,
daß gewisse Klänge in andere, sehr entgegengesetzte übergehen,
(und er wird ganz besonders durch die Organisation
der kontinuierlichen Veränderungen
der durchschnittlichen (oder wenn man will: statistischen) Tonhöhen herausgearbeitet)
Z: Diamorphoses Anfang 1´10 (Ausschnitt Klett) (2. Ausschnitt ab 4´21) (Dauer 6´53)
Olivier Messiaen, der einstige Lehrer von Iannis Xenakis, hat diese Musik genauer beschrieben,
und er hat sie in diesem Zusammenhang auch
mit den ersten veröffentlichten Instrumentalwerken des Komponisten verglichen:
als geometrisch-architektonisch-musikalische Struktur.
(Messiaen sagt):
In seinen "Diamorphoses"
kommt Xenakis (wieder) auf die geometrischen Gesetze
und die architektonische Gestaltung zurück,
die seine Orchesterwerke
("Metastasis", "Pithoprakta", "Achorrripsis")
geleitet hatten:
auf dem Phonogen transponiert er Glockenklänge
und transformiert sie in ein Flechtwerk aus Glissandi,
in ein außergewöhnliches und geräuschvolles Flimmern.
Das sind gigantische und vielfarbige Spinnennetze,
deren Konstruktionsformeln sich in Klangfreuden von stärkster Poesie verwandeln.
Schon Beginn des Stückes zeichnet sich ab,
daß hier kontinuierliche Übergänge
zwischen konkret-darstellenden und abstrakt-elektronischen Klängen und Klangabläufen
im Vordergrund stehen.
Darstellende Musik verwandelt sich allmählich
in nicht-gegenständliche, nicht-illustrative Musik;
im Anfangsstadium der Formentwicklung
sind realistische Bezüge aber noch deutlich erkennbar.
Zu Beginn des Stückes
verbinden sich dumpfe, an fernen Donner erinnernde Geräuschflächen und Geräuschakzente
mit Glissandobewegungen, die im Folgenden mehr und mehr in den Vordergrund treten
(aufwärts führend:
zunächst in kurzen Ansätzen, dann in einer zusammenhängenden längeren Kurve,
die viele Hörer an "Düsenjäger-Heulen" erinnert).
Die kurzen Glissandi erhielt Xenakis
(wie Olivier Messiaen, sein einstiger Kompositionslehrer, in seinem Kommentar erwähnt)
durch gleitende Transpositionen aufgenommener Glockenklänge.
Z: Diamorphoses Anfang: Verwandlung bekannter in unbekannte Klänge
1´10 Ausschnitt Klett (evtl. länger)
Im späteren Verlauf des Stückes
verlieren "realistische" Assoziationen an Hörereignisse des Alltags mehr und mehr an Bedeutung.
Statt dessen konzentriert sich die Musik auf die prozeßhaften Veränderungen der Känge.
Man hört aufwärts und abwärts wandernde Glissandi im weiten Tonraum,
schnell abreißend oder in langen Zügen,
mit erkennbaren Tonhöhen oder mit Übergängen ins Geräuschhafte,
im Ablauf eng verschmolzen durch Blendungen und Überlagerungen.
Nur wenige Geräuschakzente gliedern den fließenden Formverlauf.
Z: Diamorphoses späterer Verlauf (Schluß):
Dominierende Glissandi 4´31 ab höhere kreisende komplexe Glissandi - Schluß 6´53)
evtl. schon früher anfangen
Die Tonbandkomposition "Diamorphoses"
ist Musik einer zugleich völlig neuartigen Musik,
die vielfältige Klangmaterialien in einen einheitlichen Formprozeß integriert.
(Sie hören die vollständige Komposition "Diamorphoses",
die der Komponist 1957 im Studio des Groupe de Recherches Musicales Paris realisiert hat.)
Z: Diamorphoses 6´53 vollständig (oder evtl. längerer Ausschnitt von Anfang oder vom Ende)
(Sie hörten die Tonbandmusik "Diamorphoses" von Iannis Xenakis,
eine Realisation aus dem Jahre 1957.)
Als Gegenstück zu "Diamorphoses", zur kontinuierliehcn Musik der Klangbahnen und Klangflächen,
schuf Iannis Xenakis die kurze Tonbandkomposition "Concret PH",
in der Kontinuität auf andere, scheinbar paradoxe Weise sich bildet:
Aus einzelnen, extrem kurzen Klangpunkten, Impulsen.
Diese werden in so großer Dichte überlagert,
daß ein quasi kontinuierlicher Klangeindruck entsteht:
nicht eine glatte Klangfläche, sondern eine poröse, rauhe Klangwand -
die passende Musik die Xenakis als Eingangsmusik
für die Besucher des (von ihm entworfenen) Pavillons für die Brüsseler Weltausstellung
1958 realisiert hatte.
Z: Concret PH 2´42. (EMF CD 003, EMF INA - entspr. auch die übrigen Ausschnitte)
Musik, die aus isolierten, diskontinuierlichen Impulsen entsteht (wie in "Concret PH"),
läßt sich beschreiben als Kontrastmodell zu einer Musik,
die sich aus gleitenden Veränderungen von Klanglinien oder Klangflächen entwickelt
(wie in "Diamorphoses").
Die Polarität zwischen Kontinuität und Diskontinuität,
die sich beim Vergleich der ersten beiden elektroakustischen Werke von Xenakis zeigt,
findet sich in seinen ersten großen Instrumentalwerken
nicht selten auch als Kontrastbildung innerhalb eines einzigen Stückes.
Dies zeigt sich schon in den Anfangstakten des Orchesterstückes "Metastaseis":
Xenakis hat hier den Fluß der gleitenden Klänge aufgebrochen,
indem er an einigen Stellen überraschende Akzente hinzufügt:
Schläge eines woodblocks - in verschiedenen Abständen und Lautstärken.
Der Komponist vergleicht diese die Zeit gliedernden Akzente
mit einer unregelmäßig tickenden Uhr.
Z: Metastaseis Anfang: Glissando - Anfang Klangfläche (mit woodblock-Akzenten)
(ausblenden auf oder vor Triangelschlag, vor 1´30 bzw. vor 1´34 Töne)
Ähnliche isolierte woodblock-Azente
finden sich auch zu Beginn von "Pithoprakta" -
auch hier als Einzelereignisse,
deutlich kontrastiert zu den Massenstrukturen der Streichinstrumente
(die hier keine Glissandi spielen, sondern kurze Geräusche und Töne).
Auch hier zeigen sich Ansätze einer Musik, die sich nicht auf Massenereignisse konzentriert,
sondern ausgeht vom Einzelereignis, vom einzelnen Klangpunkt.
Z: Pithoprakta Anfang - 2´12 Pause von Pizzicato-Klangwolke
Differenzierungen zwischen Klangkurven und Klangpunkten,
wie sie sich beim Vergleich der beiden frühen Orchesterstücke
"Metastaseis" und "Pithoprakta" anbieten,
hat Iannis Xenakis schon in den späeren 1950er Jahren weiter entwickelt.
Die Differenzierung zwischen einer Musik der gleitenden oder akkumlierten Tonmassen einerseits
und einer Musik aus isolierten Klangpunkten andererseits -
eine Differenzierung, die schon in beiden Orchesterstücken ansatzweise zu erkennen ist,
hat Xenakis erst sehr viel später radikalisierend weiter entwickelt -
zumindest im letzteren Bereich,
d. h. einer aus perkussiven Klangpunkten entwickelten Rhythmusmusik.
Erst 1969 entstand eine Schlagzeug-Komposition,
in der Klangpunkte und andere vergleichbar einfache perkussive Gestaltelemente
entscheidend für die gesamte musikalische Formgestaltung werden:
"Persephassa" für 6 Schlagzeuger.
Z: Persephassa Anfang: Wirbel - Beschleunigung - Periodik - aperiod. Auflösung (ausblenden)
T. 1 - 81 (Blende ab 78 auf leichter und dünner Stelle, ausblenden vor Neueinsätzen T. 82)
(Aufnahme Percussions de Strasbourg oder Sadlo, nur zur Not Wolff HM 881 644-909)
(Strasbourg notfalls von LP Philips oder CD bzw. LP NoKo
Die Musik beginnt, quasi-kontinuierlich, mit einem Einleitungssignal:
Mit einem Wirbel, der anschwillt, dann ab- und wieder anschwillt.
Z: Persephassa Wirbel
T. 1-5
Strasbourg 0 - 0´11
Nach diesem synchronen und quasi-kontinuierlichen Anfang
setzt sich die Musik diskontinuierlich fort:
Zunächst hört man zwei einzelne Trommelschläge -
beide laut, durch eine längere Nachhall-Pause getrennt;
beide solistisch, vom ersten Schlagzeuger, gespielt.
Dann folgen zwei Schläge, die unmittelbar aufeinanderfolgen,
aber auf verschiedene Weise ausgeführt werden:
Der erste Schlag solistisch, nur vom ersten Schlagzeuger (wie zuvor),
der zweite Schlag im Tutti, von allen sechs Spielern.
Z: Persephassa: 2 Schläge Solo (mit Zwischenpause), 2 Schläge Solo-Tutti (mit Zwischenpause)
T. 6-15
Strasbourg 0´12 - 0´18
Die Musik geht von einfachsten Elementen aus
und unterwirft diese dann vielfältigen Variationen:
Die Klangpunkte erscheinen in verschiedenen Zeitabständen
und in verschiedenen Klangdichten
(d. h. mit unterschiedlich vielen Spielern - einmal nur einer, dann einmal alle sechs).
Ähnlich sinnfällig entwickelt sich die Musik auch im Folgenden:
Man hört zwei Gruppen, jede mit drei Anschlägen:
Die erste Gruppe wird wieder solistisch ausgeführt, vom ersten Spieler.
Man hört drei kurze Ereignisse, mit Zwischenpausen in verschiedenen Abständen:
Einen Schlag - einen kurzen Wirbel - wieder einen Schlag.
Z: Persephassa: 3 Kurz-Ereignisse solo: Punkt - Wirbel - Punkt
T. 16-19
Strasbourg 0´20 - 0´23
Diesen drei solistischen Ereignissen folgt wiederum eine Gruppe,
die solistisch beginnt und im Tutti aller sechs Spieler schließt:
Zunächst hört man - solistisch, vom ersten Spieler -
zwei akzentuierte Schläge, die unmittelbar aufeinander folgen;
dann folgt, nach einer kurzen Pause,
ein kurzer Wirbel im Tutti aller sechs Spieler.
Dieser kurze Wirbel ist viel leiser als die vorausgegangenen Schläge.
Mit ihm ändert sich also nicht nur die Klangdichte,
sondern (erstmals) auch die Lautstärke.
Z: Persephassa: 3 Kurzereignisse solo (2 Akzente direkt nacheinander) - Tutti (kurzer Wirbel)
T. 20-21
Strasbourg 0´24 - 0´25
Auch der weitere Verlauf wird bestimmt
vom Wechsel zwischen Wirbeln und Klangpunkten, zwischen Solo und Tutti.
Schon der erste Wirbel ist deutlich länger als die vorausgegangenen,
dies wird dadurch verdeutlicht, daß er nicht mit gleichbleibenden Lautstärke gespielt wird,
sondern mit einer dynamischen Hüllkurve:
Zunächst anschwellend, dann abschwellend.
Dieser Schwellwirbel wird später auch von anderen Spielern übernommen,
und gleichzeitig zu dieser rhythmischen Begleitung
hört man einen Hauptrhythmus im (begleiteten) Solo des ersten Spielers:
Konstellationen aus kurzen Wirbeln oder Klangpunkten -
nicht nur vereinzelt, sondern auch in verschieden langen Gruppen
mehrerer Anschläge, die unmittelbar (periodisch) aufeinander folgen.
So ergibt sich, neben Klangpunkten und Wirbeln, eine dritte Erscheinungsform:
Rhythmische Gestalten.
Der Abschnitt schließt mit zwei leisen Schlägen im Tutti.
Z: Persephassa: Rhythmische Gestalten (über (Schwell-)Wirbeln)
T. 22-28
0´26 - 0´33
(Wirbel, Klangpunkte und rhythmische Gestalten und ihre Veränderungen in verschiedenen Merkmalen
prägen die Formentwicklung in "Persephassa".
Diese Musik artikuliert sich also als Organisation klingender Zeit -
also gewissermaßen als Gegenstück zu einer Musik der Bewegungen im Tonraum,
wie sie Iannis Xenakis seit den frühen 1950er Jahren komponiert hat.
Die Trommelstrukturen zu Beginn von "Persephassa"
markieren 1969 einen Neubeginn in der kompositorischen Entwicklung von Iannis Xenakis -
in seiner Bedeutung vergleichbar
den Glissando-Strukturen zu Beginn von "Metastaseis" in den frühen 1950er Jahren.)
In "Persephassa" komponiert Xenakis
nicht Bewegungen im Tonraum mit den Klangmitteln eines großen Orchesters,
sondern rhythmische Strukturen für ein kleineres Ensemble von Schlaginstrumenten -
Strukturen, die sich allerdings für den Hörer einer Konzertaufführung
mit räumlichen Bewegungen verbinden können,
da die sechs Schlagzeuger hexagonal um das Publikum herumgruppiert sind.
Diese Bewegungen beginnen - in "Persephassa" ebenso wie in anderen Stücken des Komponisten -
häufig mit klar erkennbaren Einzelelementen,
die sich erst allmählich in dichtere und komplexere Strukturen verwandeln.
In "Persephassa" geschieht dies so,
daß - nach dem einleitenden Wirbel aller Instrumente -
sich aus Klangpunkten und und rhythmischen Gestalten
allmählich eine durchlaufende periodische Schlagfolge entwickelt,
in der alle sechs Schlagzeuger synchron spielen -
bald einzeln, bald gemeinsam von allen sechs Raumpunkten aus,
teilweise vermischt mit im Raum kreisenden Wirbeln.
Sobald eine einheitliche Periodizität erreicht ist, beginnt sie sich wieder aufzulösen:
Ein Spieler nach dem anderen verläßt das gemeinsame Tempo,
so daß Synchrones sich wieder in Asynchrones verwandelt.
So ergibt sich, nach dem einleitenden Wirbel,
eine zusammengesetzter Formverlauf -
ein Prozess des Zusammenfindens, danach des Auflösens der erreichten Synchronität.
Z: Persphassa Wirbel - Synchronisierung - Auflösung in Asynchronität
Strasbourg 0 - 1´39
"Persephassa" ist in erster Linie eine Rhythmuskomposition.
Dies wird vor allem daran deutlich,
daß Xenakis hier auf Klangfarben-Kontraste weitgehend verzichtet
und statt dessen mit gleichartigen Instrumenten arbeitet:
Jeder Spieler arbeitet mit sechs, im Register abgestuften Fellinstrumenten.
Das für Xenakis maßgebliche Formprinzip ist die Ausgestaltung der Periodizität
im Spannungsfeld zwischen exakter Wierholung und komplexer Abwandlung.
In wechselnden Prozessen der Synchronisierung und Asynchronisierung
entfaltet sich das Stück auch im größeren Formzusammenhang,
bis es in verwandelter Form zum Anfangsstadium zurückführt:
Zum dynamisch an- und abschwellenden Wirbel.
Z: Persephassa größerer Ausschnitt (Anfang) bis 2. Wirbel mit Hüllkurve, T. 1-150
Die Gliederung der Schlagzeugkomposition "Persephassa"
hat Iannis Xenakis mit folgenden Worten beschrieben:
Das Werk als Ganzes hat drei Teile:
- einen klar rhythmischen Teil zu Beginn (...);
Z: kurzer Ausschnitt aus dem ersten Teil (z. B. Anfangswirbel
oder späterer, etwa durch Pausen getrennter Ausschnitt)
evtl. Verwandlung - asynchron in verschiedenen Tempi
Wulff ab 5´08 (ausblenden je nach Sendezeit)
- einen Mittelteil, der im Unterschied zum Anfang neue Klangfarben bringt,
also nur auf die Erzeugung eines neuen Klangreichtums angelegt ist;
Z: Persephassa Mittelteil Anfang, T. 227-251, z. B. Wulff ab 11´14 - 13´06 Pause
oder 2. Hälfte: Ausschnitt Klett NoKo 0´58, Wulff 13´56 - 15´20 Gong
- einen dritten und letzten Teil.
Hier dominieren die Fellklänge, die teilweise von Spieler zu Spieler
um die Zuhörer herum wandern, also rotieren.
Z: Persephassa Ausschnitt aus 3. Teil
von Anfang oder vom Ende - Länge je nach Sendezeit
z. B. Wulff 26´56 (nach Pause) - 27´50 Schluß
oder ab 26´40 (Sirene) - 27´50 Schluß
oder ab 18´18 Anfang 3. Teil je nach Sendezeit (ausblenden)
In der kompositorischen Entwicklung von Iannis Xenakis gibt
die Wandlung vom Komponisten komplexer Massenstrukturen (seit den 1950er Jahren)
zum Komponisten perkussiver Rhythmusmusik (seit 1969) manche Rätsel auf.
Erklären läßt er sich am ehesten mit Veränderungen der kompositorischen Faktur,
die seit den frühen 1960er Jahren einsetzen.
Besonders deutlich werden sie in Vertonungen antiker Texte.
Ein erstes Beispiel hierfür ist die 1962 entstandene Komposition "Polla ta dhina"
für einstimmigen Knabenchor und großes Orchester.
Der Text wird in diesem Stück auf einem einzigen Ton gesungen,
also nur in den rhythmischen Werten kompositorisch ausgestaltet.
Dies ist die erste Komposition von Xenakis,
in der rhythmische Gestaltung im traditionellen Sinne eine wesentliche Rolle spielt.
Der Text, der einem Standlied aus der "Antigone" des Sophokles entnommen ist,
handelt vom Menschen, der die Natur zu beherrschen sucht,
aber trotzdem dem unentrinnbaren Tode ausgeliefert bleibt.
Z: Polla ta dhina Anfang
Umschnitt von EMI C063-1001 (F) bzw. Angel S-366 56 (USA) (Dr. K. Simonovitch)
Ausschnitt von Anfang (Gesamtlänge 6´05)
oder vom Schluß (Zwischenpausen, Passagen mit Knabenstimme allein)
oder evtl. Zusammenschnitt Anfang - Ende
Auch in einem anderen vokal-instrumentalen Hauptwerk der 1960er Jahre
verbindet sich ein quasi-archaisch musikalisierter Text
mit der Wiederbelebung traditioneller Prinzipien der rhythmischen Gestaltung:
In der Komposition "Oresteia" - einer Musik,
die Xenakis für den gleichnamigen Tragödien-Zyklus des Aischylos schrieben hat.
Schon in den ersten Takten dieser Musik
finden sich einfache Rhythmen der Text-Deklamation,
verbunden mit quasi-archaischen Oktav-Akzenten, zweistimmigen Kadenzen und Melodieformeln.
Z: Oresteia Anfang: Oktaven (Forts. Tonlinien, Akzente gr. Trommel) - 0´24 Quintkadenz Blech -
0´34 zweistimmiger Männerchor, mündend im Einklang -
0´38antiphonischer einstimmiger Gesang - 1´10-1´14Kadenz Blech -
(1´14 Wiederkehr 2s. Männerchor Chor (- 1´20) - antiphonischer Gesang)
Im späteren Verlauf reduziert sich der Text-Vortrag auf die reine Sprech-Deklamation,
und wenig später greift die einfach-elementare Rhythmik vom Gesang auf die Instrumente über:
Mit einem einfach periodischen, durch wechselnde Akzente belebten Trommelrhythmus,
der sich mit anderen, ebenfalls einfachen und sich wiederholenden
instrumentalen Klangmustern verbindet.
Z: Oresteia 1. Satz (Agamemnon Anf.) ab 6´57 (rhythmisiertes Sprechen) - 9´44 Schluß
(ab 8´02 periodischer Trommelrhythmus, dazu sich wiederholende instr. Ton- und Melodiemuster)
Die Rhythmusstrukturen von Iannis Xenakis artikulieren sich,
besonders in seiner Musik über antike Themen und Texte,
nicht selten im Spannungsfeld zwischen ritueller Archaik und wilder Ekstase.
Besonders deutlich wird dies in der 1987 entstandenen Komposition
"Kassandra" für einen Baritonsänger
(der im Wechsel zwischen extrem hohen und tiefen Gesangstönen,
zwischen ekstatischem und deklamierendem Gesang
zwei verschiedene Rollen spielt und überdies seinen Gesang auf dem Psalterium begleitet)
und einen Schlagzeuger.
Z: Kassandra ab 5´16: Psalteriumtöne - hoher Gesang mit Schlagzeug (5´49-5´55 heiserer Laut) -
Psalterium, ab 6´08 tiefer Gesang - ab 6´35 rasche Wechsel hoch-tief - 7´36 tiefer Trommelschlag
(aufhören vor hohen, melodisch beweglichen Rep und 8´08 raschen Gesangssilben
mit kurzen woodblock- und Trommel-Begleitrhythmen)
5´16 - 7´36 (oder evtl. länger, maximal bis 13´47 Ende des Stückes)
In den rhythmischen Gestaltungen der Musik von Iannis Xenakis
läßt sich - deutlicher wohl als in seinen Tonkonstruktionen -
ein doppelgesichtiges Erscheinungsbild erkennen:
Rhythmus ergibt sich für ihn nicht nur als klangliche Konkretisierung mathematischer Strukturen,
sondern auch als Beschwörung der Expressivität archaischer (oder auch exotischer) Musiktraditionen.
Dies zeigt oft in den rhythmischen Strukturen,
vereinzelt auch im Instrumentarium.
Ein bekanntes Beispiel für Schlagzeugmusik mit "exotischem" Kolorit
ist eine 1989 entstandene Komposition, in der afrikanische Trommeln verwendet werden
"Okho" für 3 Djembe und Baßtrommel
Z: Okho Anfang (oder ab 2´36 rhythmisches Muster synchron)
mode 56. Pablo Rieppl, Robert Mc Ewan, David Rozenblatt (ausblenden nach 6´ Baßtrommel)
Es gibt Rhythmus-Kompositionen von Iannis Xenakis,
in denen außermusikalische Anregungen
weniger auf Kolorit oder Expression auswirken als auf abstrakte Strukturmerkmale.
Das vielleicht wichtigste Beispiel hierfür
ist die 1975 entstandene Komposition "Psappha" für Schlagzeug solo.
"Psappha" ist eine antike Form des Namens der altgriechischen Dichterin Sappho.
Xenakis wählte diesen Titel,
weil er sich für die unregelmäßigen Metren in den Gedichten Sapphos interessierte.
In der Musik selbst läßt sich dies aber nicht ohne weiteres erkennen.
Ihr Ablauf erklärt sich eher aus allgemeinen Prinzipien der Rhythmuskomposition,
nach denen ein periodischer Rhythmus variiert werden kann.
Z: Psappha Anfang: Periodisch (wechselnde Dichte) - dazu schnellerer Einschub 0´- 0´15
Gert Morthensen. BIS-CD-482
Der rhythmische Aufbau dieses Stückes läßt sich verstehen,
wenn man von der ersten Schlagfigur ausgeht:
Drei Schläge: unbetont (mit einer Hand), betont (mit beiden Händen), betont.
Z: Psappha erste drei Schläge 0 - 0´02´´
Diese rhythmische Gestalt wird im Folgenden periodisch weitergeführt,
aber mit fortwährend sich verändernden Akzentuierungen.
Eine stärkere Veränderung wird hörbar,
wenn erstmals schnellere Schläge in höherer Geräuschlage hinzukommen.
Z: Psappha Anfang: Wechselnde Akzentuierungen - schnellerer Einschub
0 - 0´15 Morthenson - oder besser Gualda
Im Folgenden entwickeln sich die beiden rhythmischen Strukturen,
die langsamere, und die schnellere in höherer Lage, weiter:
Die tiefere wird mehr und mehr von Pausen durchlöchert,
während die höhere, die anfangs nur mit kurzen Fragmenten erscheint,
sich in zunehmend längeren Passagen entwickelt und dabei auch dynamisch belebt.
Im größeren Zusammenhang wird deutlich,
daß die rhythmischen Impulse
sich fortwährend in verschiedenen Klangschichten weiter entwickeln.
Nach einiger Zeit erscheint erstmals ein lauter und tiefer Schlag:
eine Zäsur, die die bisherige Formentwicklung abschließt.
Z: Psappha Anfang: Periodik - Klangschichten - Durchlöcherung, dynamische Belebung
0 - 2´08 erster tiefer Schlag
Nach dem ersten tiefen Schlag setzt sich die Formentwicklung fort:
Man hört jetzt langsame Schläge in tiefer Lage,
etwas schnellere Schläge in mittlerer Lage
und sehr schnelle Schläge in hoher Lage.
Das Arsenal der Lagen und Geschwindigkeiten erweitert sich,
bis wiederum ein Schlußpunkt (mit anschließender Pause)
diese Entwicklung beendet.
Z: Psappha 2´08 - 3´54: 3 Lagen - 3 Geschwindigkeiten
Fortsetzung nach dem ersten tiefen Schlag -
bis Akzentpaar sehr tief - sehr hoch und anschließender Pause
2´08 - 3´54
Schon im ersten Teil des Stückes zeigt sich eine Formentwicklung,
die im Folgenden auch für die Großform maßgeblich wird:
Beschleunigung und Ausweitung im Tonraum.
Diese Entwicklung führt so weit,
daß sich die rhythmische Bewegung nach einiger Zeit auf alle Tonlagen ausbreitet.
So ergibt sich eine rhythmisch belebte, sehr rasche,
einen weiten Tonraum ausfüllende rhythmische Bewegung,
die dann erst in den letzten Takten wieder zu periodischen Einzelschlägen zurückführt:
Das Stück entwickelt sich als Expansion der Lagen, Klangfarben und vor allem Geschwindigkeiten,
bevor die formale Entwicklulng sich letztlich wieder schließt.
Z: Psappha Schluß 9´39 - 11´12 (sehr rasche Repetitionen) - periodischer Schluß
9´39 - 11´12
1978 komponierte Xenakis "Pleiades",
(die zweite Komposition für sechs Schlagzeuger nach "Persephassa").
In dieser Rhythmuskomposition arbeitet Xenakis
mit Prozessen der rhythmischen Transformation
und mit sich verändernden Elementargestalten,
die er "rhythmische Atome" nennt.
Die Schlaginstrumente sind in drei Familien aufgeteilt:
Métaux (Metallinstrumente, die in einer neuartigen Skala abgestimmt werden sollen) -
Claviers (Stabspiele mit bestimmter Tonhöhe) -
Peaux (Fellinstrumente)
Jeder Instrumentenfamilie ist ein eigener Satz zugeordnet.
In einem vierten Satz
sind alle drei Instrumentenfamilien und ihnen entsprechende rhythmische Gestalten
miteinander kombiniert.
Er heißt "Mélanges" (Mischungen).
Z: Pléiades Mélanges Mischungen
Strasbourg take 1
Metall -
Stabspiele, dazu Metall (3 Rhythmen, später einsetzend, früher aufhörend) -
Fell, später Stabspiele und Metall, Aussetzen der Stabspiele und des Fells, nur Metall cresc.-decresc.
Strasb ´- vor 2´08 (abgeblendet am Schluß-Diminuendo Metall, vor Neueinsatz Stabspiele
In einem Partitur-Vorwort zu diesem Stück
hat Iannis Xenakis die hier verwendeten Prinzipien der Rhythmuskomposition genauer charakterisiert:
Als Transformationen, als Verzerrungen, als katastrophische Veränderungen.
(Er schreibt:
Pléiades:
Das bedeutet "Vielheiten" oder "mehrere",
denn es gibt sechs Schlagzeuger und vier Sätze.
Der Rhythmus hat hier den Vorrang,
das heißt die zeitliche Ordnung der Ereignisse,
die Kombination der Dauern, der Intensitäten, der Klangfarben. (...)
Die einzige Quelle dieser Polyrhythmie ist die Idee der Periodizität,
der Wiederholung, der Verdopplung, der Rückläufigkeit,
der strengen, scheinbar strengen oder nicht strengen Wiederholung.
Beispiel: Ein Schlag, der ständig in derselben Schlagfolge wiederholt wird,
stellt die strenge Wiederholung eines rhythmischen Atoms dar
(aber ein antikes Metrum ist schon ein rhythmisches Molekül, das sich wiederholt).
Also erzeugen schon kleine Veränderungen der Schlagfolge
eine innere Lebendigkeit des Rhythmus,
ohne die zu Grundperiode abzuschwächen.
Größere und komplexere Variationen der Ausgangsperiode
erzeugen eine Verzerrung, eine Negation der Grundperiode,
die sie sogleich unerkennbar machen kann.
Noch stärkere Variationen,
die noch stärker sind oder die, was oft auf dasselbe herauskommt,
sich aus einer besonderen Zufallsverteilung ergeben,
führen zur totalen Arhythmie,
zur Wahrnehmung als Massenereignis,
zu Begriffen von Wolken, Nebeln und Galaxien
von Anschlägen, die zu großen Mengen pulverisiert und rhythmisch strukturiert sind.
Überdies erzeugen die Geschwindigkeiten dieser Transformationen neue Verzerrungen,
die sich mit den vorausgegangenen überlagern,
von kleine kontinuierlichen Beschleunigen
bis zu schnellen (immer kontinuierlichen) exponentiellen Veränderungen,
die den Hörer in Wirbel hineinreißen,
ihn mitreißen in eine unvermeidbare Katastrophe
oder in eine verkehrte Welt.)
Z: Pléiades Rhythmische Transformationen, z. B. Peaux Anfang - 2´25 (Ausblenden vor Synchr.)
0 - 2´25 - oder ab 3´39 nach Pause bis Schluß 5´44 Pause - und ab 9´12 Wirbel - Schluß 11´11 per.
Die Metaphern, mit denen Iannis Xenakis
seine Prozesse der rhythmischen Transformation beschreibt,
machen deutlich,
daß auch diese Konstruktionen nicht rein abstrakt verstanden werden müssen,
sondern auf außermusikalische Realitäten bezogen werden können.
Dies gilt selbst dann, wenn die Rhythmen sich nicht mit perkussiven Geräuschen artikulieren,
sondern in bestimmten Tonhöhen.
Vor allem in dem Satz "Claviers" (Stabspiele) wird deutlich,
daß rhythmische Prozesse der Auflösung oder der chaotischen Verdichtung,
der vielfältigen Verwandlung, Konstrastierung und Mischung
sich auch mit bestimmten Tonhöhen darstellen lassen.
Z: Claviers Anfang - 2´22 (aufsteigende Klangwolke Quasi D-Dur, dann ausblenden)
oder bis 3´07 hohe Repetitionen (aufhören vor Einsatz der neuen einstimmigen Melodie)
Rhythmusmusik mit bestimmten Tonhöhen
hat Iannis Xenakis nicht nur für Schlaginstrumente geschrieben,
sondern auch für andere Instrumentalbesetzungen -
beispielsweise 1978, in demselben Jahr wie das Schlagzeugsextett "Pléiades",
das Streichtrio "Ikhoor",
dessen Tonstrukturen sich entwickeln im Spannungsfeld
von Synchronität und Asynchronität der 3 Spieler.
Z: Ikhoor Anfang, Mitglieder des Arditti-Quartetts
0 - 3´04 Doppelgriff (ausblenden ab 3´)
Konstruierte Rhythmen und konstruierte Tonbewegungen
finden sich bei Iannis Xenakis, vor allem in seiner Instrumentalmusik,
bald vereinzelt, bald miteinander kombiniert.
Xenakis hat Konstruktionsmethoden entwickelt,
nach denen sich in beiden Bereichen
aus periodischen Grundstrukturen komplexere Konstellationen ableiten lassen -
seien es Zeitstrukturen mit unregelmäßigen Rhythmen,
seien es Tonstrukturen mit ungleichen Tonabständen innerhalb ihrer Skalen.
Anregen ließ Xenakis sich hierbei von Ansätzen der mathematischen Siebtheorie,
die von regelmäßigen Zahlengittern ausgeht
und diese Zahlenmengen dann so miteinander verknüpft,
daß daraus unregelmäßige Strukturen entstehen -
z. B. Übergang von einer Menge zu ihrer Komplementärmenge
(die alle übrigen Elemente enthält)
oder Erweiterung einer Menge durch Vereinigung mit einer anderen
oder Reduktion einer Menge
durch die Beschränkung auf diejenigen Elemente,
die gleichzeitig auch in einer anderen Menge vorkommen.
Solche mengentheoretischen Verfahren spielen vor allem in Klavierwerken von Xenakis eine Rolle,
z. B. in der 1960-1961 entstandenen Komposition "Herma"
oder, deutlicher noch, in der 1980 entstandenen Komposition "Mists".
evtl. Z: Zusammenschnitt Herma - Mists
Herma ab ausgehaltenem Klang 1´37 bis übermäß. Dreiklang 2´20 -
Mists evtl. Schluß oder verkürzter Anfang mit aufsteigenden Skalen
Vor allem im Anfangsteil von "Mists"
lassen sich auf- und absteigende Bewegungen
in verschiedenen, teilweise miteinander überlagerten Tonleitern
deutlich heraushören.
Der Teil schließt mit einer weiträumig, markant und langsam aufsteigenden Tonleiter -
einer Tonleiter mit reduziertem Tonvorrat,
die sich aus einer Durchschnittsbildung mit einer anderen Tonleiter ergibt
und so den Formteil wirkungsvoll beendet.
Z: Mists Anfang: 1. Teil bis weit aufsteigende langs. Schlußtonleiter
0 - 3´06
Die mathematischen Siebkonstruktionen,
aus denen Iannis Xenakis bestimmte unregelmäßige Rhythmen oder Skalen gebildet hat,
lassen sich ohne Kenntnis seiner Skizzen nicht ohne weiteres rekonstruieren.
Überhaupt müßte es fragwürdig erscheinen,
wenn man in jedem Falle, auch ohne Zusatzinformationen des Komponisten, versuchen wollte,
aus den fertigen Stücken
die ursprünglich angewandten kompositorischen Prozeduren wieder herauszulesen.
Noch schwieriger als in der Instrumentalmusik
erscheinen solche Rekonstruktionsversuche meistens in der elektroakustischen Musik von Xenakis.
Graphisch oder mathematisch kontrollierte Methoden der Klangkonstruktion,
wie sie Xenakis vor allem in Werken mit computergenerierten Klängen angewendet hat,
lassen sich beim Hören der Musik nicht ohne weiteres nachvollziehen.
Um so wichtiger ist es,
sich zu konzentrieren auf klangliche und formale Zusammenhänge -
beispielsweise in dem 1977 entstandenen,
rund 50 Minuten dauernden elektroakustischen Hauptwerk von Xenakis:
"La Légende d´Eer":
Planetarische Musik in einer ausgedehnten Bogenform,
für die Xenakis eigens die Zeltarchitektur- und Licht-Installation "Le Diatope" geschaffen hat.
Das Sujet dieser Musik bezieht sich nicht nur auf Platon,
sondern darüber hinaus auch auf andere kosmologische
und theologische (oder auch: anti-theologische) Quellen,
z. B. auf die "Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei"
aus dem Roman "Siebenkäs" von Jean Paul.
Diese Musik verbindet neue Klangkonstruktionen und weiträumige Formentwicklungen
mit Assoziationszusammenhängen,
die über die Grenzen der Musik und ihrer Konstruktionen hinausführen
in die Expression des Unbekannten.
Z: La légende d´Eer
(Inhaltliche Ausdeutungen der Musik von Iannis Xenakis
erweisen sich häufig als schwierig,
wenn der Komponist auf die Vertonung von Texten
oder auf die Musik begleitende Kommentare verzichtet.
Im Falle der Musik "La légende d´Eer" hat der Komponist selbst Sorge dafür getragen,
mit seiner Klang-Licht-Architektur "Le Diatope" und mit begleitenden Kommentaren
einen audiovisuellen bzw. semantischen Kontext dieser Musik
herzustellen bzw. zu verdeutlichen,
ohne daß in der Musik selbst Sprache oder gesungener Text hörbar wird.
In anderem Kontext präsentiert sich die 1980 entstandene Komposition
"Ais" für Bariton, Schlagzeug solo und Orchester.
Text und Gesang verweisen hier eindeutig auf die Bedeutung: als Todesmusik.
Die Tonstrukturen der Musik verbinden sich hier mit verbaler und nonverbaler Expressivität,
die über die Grenzen der Sprache und der Musik hinausdrängt.
Xenakis, der den Sprachcharakter der Musik radikal in Frage gestellt hat,
nähert sich hier einer Sprache jenseits der Sprache,
die sich Sachverhalten nähert,
denen Sprache und Denken sich immer wieder zu nähern versuchen, ohne sie erreichen zu können.
Z: Ais von Anfang oder evtl. von Ende (Länge je nach Sendezeit)
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