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Rudolf Frisius
MUSIK - AKUSTISCHE KUNST?
In bestimmten musikgeschichtlichen Situationen können sich Fragen stellen, die zunächst relativ einfach erscheinen mögen, aber gleichwohl als Impuls für weitere Überlegungen möglicherweise nützlich sind. Vielleicht gilt dies auch für die Musik in den frühen neunziger Jahren. Wenn man fragen wollte, ob diese Zeit eher als Abschluß eines zu Ende gehenden Jahrhunderts oder als Vorbereitung eines neuen begriffen werden kann, dann muß man sich allerdings auch über Fragwürdigkeit dieser Frage im Klaren sein. Natürlich lassen sich solche Fragen nicht nur heute an unser Jahrhundert stellen, sondern auch bezogen auf frühere Jahrhunderten konnte und könnte man Anlaß finden, die neunziger Jahre ähnlich zu befragen (zum Beispiel die neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts - mag man dieses um 1900 abschließen oder, wie es z. B. aus musikhistorischer Sicht versucht worden ist, um 1914).
Die neunziger Jahre als Abschluß oder als Auftakt zum Neubeginn: Beide Möglichkeiten sind selbst für das 19. Jahrhundert beileibe noch nicht ausdiskutiert, geschweige denn für das 20. Jahrhundert, in dem die Frage nach dieser Alternative zur Zeit ohne Prophetie noch nicht beantwortet werden kann.
Wie immer man diese Fragen beantworten möchte - es liegt in jedem Falle nahe, ihnen nachhaltig zu mißtrauen: Jahrhunderte und Jahrzehnte sind willkürliche Markierungen, die sich weder für die Gegenwart noch für die Vergangenheit eignen - auch dann nicht, wenn aus dem Dezimalsystem und unserer Zeitrechnung resultierende Zeitmarkierungen aus leicht nachvollziehbaren Gründen (in der Anpassung an das Datum tatsächlich wichtiger historischer Ereignisse) gelegentlich hin- und hergeschoben werden, wenn man von bestimmten zeitgeschichtlichen oder kulturgeschichtlichen Epochen spricht - wenn man beispielsweise 1789, das Jahr des Ausbruchs der französischen Revolution, als Anfangsjahr eines Jahrzehnts oder sogar eines Jahrhunderts ansieht.
In der Musikgeschichtsschreibung sind solche Epochen(um)markierungen besonders deswegen problematisch, weil sie zwar einerseits oft von außermusikalischen Geschichtszäsuren determiniert sind, in ihnen aber trotzdem oft der Anspruch auf autonome Musikgeschichtsschreibung aufrecht erhalten bleibt. In neuerer Zeit kann diese Problematik allerdings dann an Bedeutung verlieren, wenn man nach Epochengliederungen nicht nur für die Musik im engeren Sinne, sondern für den weiteren Bereich der Akustischen Kunst fragt.
Wenn man meint, daß das Jahr 1789, das erste Jahr der französischen Revolution, eine Zäsur nicht nur für die politische Geschichtsschreibung, sondern auch für die Musikgeschichte bedeutet, dann löst man sich damit bereits in einem ersten Schritt vom Epochen-Schematismus der Jahrzehnte und Jahrhunderte. Schwieriger ist es, wenn man in einer Standortbestimmung der Musik im Jahre 1994 nach der Zäsurfunktion des Jahres 1989 fragt. 1989, das Jahr der weltweit zwischen Peking und Osteuropa ausbrechenden Krise des Kommunismus und damit des gesamten weltweiten Systems der Staat-, Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen, ist offensichtlich für die Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts nicht weniger bedeutsam als etwa das Jahr 1945. Die Tragweite der 1989 in den Vordergrund getretenen politischen Veränderungen läßt sich wahrscheinlich 5 Jahre später noch nicht einigermaßen zuverlässig abschätzen - auch nicht deren Bedeutung für die Musikgeschichtsschreibung (in der das Jahr 1945 als Zäsurpunkt weitgehend anerkannt wird). Wer die politisch-historische Tragweite des 1989 Begonnenen hoch einschätzt, wird vielleicht nach deutlich spürbaren musikgeschichtlichen Auswirkungen fragen - oder er wird vielleicht auch nachdenklich werden, wenn wichtige Auswirkungen auf die aktuelle musikalische Entwicklung einstweilen nicht auszumachen sind. Muß es den Musikinteressierten und Musikwissenschaftlicher nicht beunruhigen, wenn in Jahren weitreichender politischer Umbrüche die Musikgeschichte einfach weitergeht, als wäre nichts geschehen?
Sind Ereignisse, die unsere Lebenswirklichkeit, unsere Erfahrung grundlegend zu verändern beginnen, nicht auch für die Musik von Bedeutung - oder sind für solche Erfahrungen die Grenzen der Musik zu eng, so daß man eher nach einer weiter gefaßten Kunst fragen sollte, etwa nach der Akustischen Kunst, in der, anders als in traditionell verstandener Musik, alle Hörereignisse, also z. B. auch alle Hördokumente der politisch-gesellschaftlichen Realität gleichwertig verwendet werden können?
Musik und akustische Kunst im politischen Wandel
Die musikgeschichtliche und politische Bedeutung des Jahres 1989 ist in gewisser Hinsicht paradox: Das erste weltweit bedeutsame Ereignis in diesem Jahr des Umbruchs war der Pekinger Studentenaufstand. Diese Revolution scheiterte im ersten Anlauf, aber sie gab gleichwohl das Signal für einschneidende Veränderungen im gesamten kommunistischen Machtbereich - Veränderungen, die in Deutschland leider allzu oft nur in verengter Perspektive wahrgenommen werten, im Zeichen des Untergangs der DDR und der deutschen Wiedervereinigung.
Wir wissen allerdings, daß, einige Monate vor der deutschen "Wende", Egon Krenz, damals noch Stellvertreter des Staatsratsvorsitzenden Honecker, die Niederschlagung des Pekinger Aufstandes als auch für die DDR in vergleichbarer Situation beispielgebend bezeichnet hat. Gleichwohl haben die politischen Ereignisse in der DDR sich in den folgenden Monaten ganz anders entwickelt als in der Volksrepublik China, obwohl auch in der DDR für kurze Zeit eine ähnliche Entwicklung drohte.Es hat in Ostdeutschland kein Massaker nach Pekinger Muster gegeben.
Trotz mancher Unterschiede im Detail spricht vieles dafür, das Jahr 1989 in seiner weltgeschichtli-
chen Bedeutung mit dem Jahr 1789 zu vergleichen. Wer dies akzeptiert, kann es auch für akzeptabel halten, danach zu fragen, ob es heute schon möglich ist, beide Jahre auch in ihrer Bedeutung für die Musikgeschichte miteinander zu vergleichen. (Die Meinung, beide Jahreszahlen seien für die Musikgeschichte völlig bedeutungslos, kann man, insbesondere im Falle der ersten, wohl als pointierte Überspritzung einer streng autonomen musikalischen Geschichtsauffassung zunächst einmal außer Acht lassen.)
Die Tragweite vor allem der französischen Revolution für die musikgeschichtliche Entwicklung ist allzu offensichtlich, als daß man sie einfach abstreiten könnte. Im Falle des Jahres 1989 allerdings könnte die Situation sich etwas anders darstellen: Sind die musikalischen Auswirkungen der damaligen politischen Ereignisse nicht tatsächlich einigermaßen bescheiden geblieben? Kann dies nicht zu Fragen führen, die weniger die Relevanz der damaligen politischen Ereignisse anzweifeln als die Sensibilität der Musik und der Verantwortlichen des Musiklebens (besonders in westlichen, von den politischen Veränderungen zunächst scheinbar weniger stark betroffenen Ländern), darauf zu reagieren?
Wenn man über die Wechselwirkungen zwischen politischen und kulturellen (insbesondere musikalischen) Entwicklungen in den Stichjahren 1789 und 1989 genauer nachdenkt, stößt man auf die Tatsache, daß 1789 die politisch relevanten Bereiche des aktuellen Musiklebens stärker tangiert waren als 1989: In den ersten Jahren der französischen Revolution läßt sich eine intensive Entwicklung des massenwirksamen politischen Liedes beobachten, während 1989 der politisch wohl bedeutsamste Bereich des Musiklebens - nämlich die Verbreitung von Musik über die Massenmedien, deren technische Möglichkeiten überdies eine enge Koordination von Musik im engeren Sinne mit gesungener oder gesprochener Sprache und mit Geräuschen, also eine Erweiterung der Musik zur Akustischen Kunst und überdies ihre audiovisuelle, spezifisch filmische Einbettung erlauben - sich nicht in vergleichbarem Ausmaße zu verändern begonnen hat. Was damals im Bereich von Musik und Akustischer Kunst weitgehend ausgeblieben ist, kann man im Vergleich mit einem früheren Revolutionsjahr und dessen Auswirkung auf die Veränderung eines anderen Sinnesbereiches erläutern: Die russische Revolution hinterließ unauslöschliche, die gesamte Seherfahrung einer weltweiten Öffentlichkeit nachhaltig verändernde Spuren im modernen Stummfilm, etwa in Eisensteins "Panzerkreuzer Potemkin"; ähnlich weitreichende Konsequenzen des Jahres 1989 im Bereich der technisch produzierten Kunst, insbesondere von Musik und Akustischer Kunst, sind einstweilen nicht zu erkennen.Die Schwierigkeiten einer intensiven politisch-kulturellen Wechselwirkung im heutigen Musikleben werden besonders deutlich im Bereich der aktuellen Entwicklung künstlerisch ambitionierter Komposition, der "avantgardistischen E-Musik". In diesem Bereich wird die aktuelle Entwicklung in hohem Maße geprägt durch Auftragskompositionen. Die meisten dieser Auftragskompositionen sind stark auf traditionelle Klangmittel ausgerichtet (z. B. viele Auftragswerke für die Donaueschinger Musiktage auf das Sinfonieorchester). Kompositionsaufträge werden langfristig erteilt und müssen bereits längere Zeit vor dem Termin der Uraufführung ausgeführt sein, damit noch genügend Zeit für die Einstudierung bleibt. Unter diesen Bedingungen wird es selten möglich, daß eine musikalische Uraufführung als Auseinandersetzung mit der aktuellen politischen Situation zutreffend interpretiert werden könnte. Hinzu kommt, daß bei live aufzuführender Musik durch die Aufführungsbedingungen, z. B. durch die Bindung an bestimmte Interpreten, der thematischen und klanglichen Flexibilität in der Auseinandersetzung mit weltweit relevanten aktuellen zeitgeschichtlichen Ereignissen Grenzen gesetzt sind. In der Lautsprechermusik und in der Akustischen Kunst machen es allerdings die technischen Produktions- und Verbreitungsbedingungen möglich, diese Begrenzungen zumindest teilweise zu überwinden. In diesen Bereichen ist es möglich, neu produzierte Werke aus aller Welt rasch und relativ unaufwendig zu verbreiten.
Musik, die im Zeichen einer zum Scheitern verurteilten Revolution konzipiert wurde, können wir in früherer musikgeschichtlicher Zeit beispielsweise am Beispiel von Richard Wagners "Ring des Nibelungen" studieren. Ein ähnlich weitreichendes kompositorisches Konzept, das von Erfahrungen des Jahres 1989 geprägt ist, ist bis heute nicht bekannt geworden. Die Musikentwicklung des Jahres 1989 verlief, zumindest in westlichen Ländern, weitgehend "nach Plan", d. h. unbeeinflußt von der politischen Tagesaktualität. Erst die Zufälle eines an unser Dezimalsystem gebundenen Gedenkjahres führten dazu, daß Komponisten zum Gedenken an das Jahr 1789 Werke schrieben, die dann in der politischen Realität des Jahres 1989 überraschende Aktualität gewinnen sollten - zum Beispiel Wolfgang Rihm mit seinem Werk "Frau - Stimme", in dem der Komponist einen auf die französische Revolution bezogenen Text von Heiner Müller verwendet (allerdings in extrem fragmentierter, kaum noch identifizierbarer Gestalt), oder Mauricio Kagel mit seiner "Fragenden Ode", einer vieldeutig-skeptischen Vertonung des wohl schwierigsten Schlagwortes der französischen Revolution: liberté. Die Stücke Rihms und Kagels entstanden als längerfristig verabredete Kompositionsaufträge. Ihre aktuelle politische Brisanz ist erst im Nachhinein deutlich geworden - bei der Uraufführung in einem Gedenkjahr, das inzwischen zum ersten Jahr einer neuen Revolution zu werden begonnen hatte. Bei beiden Stücken haben die für die Avantgardemusik dieser Zeit verbindlichen Kompositions- und Aufführungsbedingungen gleichwohl eine Reaktion auf aktuelle politische Ereignisse unmöglich gemacht. Um so wichtiger war es, daß jenseits dieses engeren musikalischen Bereiches künstlerische Arbeiten entstehen konnten, die sich der politisch reflektierten Kunst intensiver näherten: Im Bereich der Akustischen Kunst, der unter technischen Bedingungen erweiterten und von traditionellen Begrenzungen emanzipierten Hörkunst.
Ein scheinbar zufälliges Zusammentreffen verschiedener Umstände hat dazu geführt, daß das Jahr 1989 starke Spuren in der Akustischen Kunst hinterlassen hat - im Rahmen eines Projektes, das ursprünglich im Bereich der Musik konzipiert wurde, das dann aber bei der Realisierung sich bald über die Grenzen der Musik hinaus entwickelte, und zwar nicht nur in der ästhetischen Disposition, im Wechsel von musikalischen zu musikübergreifenden Aspekten, sondern auch in der Tehmenstellen: Christian Clozier und Francoise Barrière, die Leiter des elektroakustischen Experimentalstudios in Bourges und des von diesem alljährlich veranstalteten internationalen internationalen Festivals elektroakustischer Musik, hatten Komponisten aus verschiedenen Ländern eingeladen zur Teilnahme an der kollektiven Komposition einer Suite zum Thema "1789". Ursprünglich war also ein historisch orientiertes Projekt zum 200. Gedenkjahr der französischen Revolution geplant. In der aktuellen Situation des Jahres 1989 ergab sich dann aber, daß statt einer Reihe historischer Gedenkstücke ein Zyklus mit vielen Anspielungen auf die aktuelle politische Situation entstanden war. Dies ergab sich vor allem daraus, daß zahlreiche Beiträge aus damals noch kommunistisch regierten Ländern eingegangen waren. Die Veranstalter in Bourges waren einerseits Patrioten, die die revolutionäre Tradition ihres Landes bejahten. Andererseits verstanden sie sich auch, in einem nationale Aspekte übergreifenden Sinne, als Sozialisten. An der französischen Revolution interessierte sie die Verbindung nationaler und internationaler Aspekte. Dies spiegelt sich deutlich im optimistischen Pathos der kompositorischen Beiträge von Christian Clozier und Francoise Barrière zu diesem Gemeinschaftsprojekt. Wahrscheinlich hatten Clozier und Barrière positiv orientierte musikalische Beiträge zum Thema "Französische Revolution" auch aus anderen Ländern erwartet. Die Stücke, die dann aus aller Welt eintrafen, nicht zuletzt aus kommunistischen Ländern von Kuba über Osteuropa bis zur Sowjetunion, fielen dann aber ganz anders aus als erwartet.
Das 1989 realisierte 1789-Projekt war nicht die erste in Bourges initiierte internationale Gemeinschaftsarbeit. Schon 1981 war dort ein internationales Projekt zum Thema "Menschenrechte" aufgeführt worden. Damals wurde deutlich, daß musikübergreifende Themen auch im Prozeß der klanglichen Realisation über die engen traditionellen Grenzen der Musik hinauswachsen können: Es beteiligten sich nicht nur experimentelle Komponisten, sondern auch experimentelle Literaten (z. B. Henry Chopin, die Leitfigur und der Monograph der "poésie sonore", der die Fragwürdigkeit der Menschenrechtssituation mit technisch verfremdeten Rezitationen der UN-Menschenrechtsdeklaration akustisch konkretisierte). Damals waren die verschiedenen Beiträge in der Bindung an das übergeordnete Thema noch eher locker koordiniertt. 1989 gaben die Veranstalter eine genauere thematische Strukturierung vor, aus der sich die Mitwirkenden Themen heraussuchen konnten, und sie boten Klangmaterialien zur Verwendung und Verarbeitung an (z. B. Rezitationen von Verfassungstexten oder politische Lieder aus der Revolutionszeit). Wie unterschiedlich die Interessen der Beteiligten waren, läßt sich daraus ablesen, daß beispielsweise einerseits Francoise Barriere ein Gedenkstück über Robbespierre und Christian Clozier ein Werk über dessen politische Idee des (bürgerlichen) Glückes realisierten, während der polnische Komponist Eugeniusz Rudnik statt dessen lieber ein schwarzes Stück "Variationen über die Guillotine" realisierte und der russische Komponist Edouard Artemiev (der Realisator verschiedener Musiken von Filmen Tarkowkis) ein traumatisches dreiteiliges Stück über Revolution, Terror und Katastrophe beisteuerte. Der Ostberliner Komponist Georg Katzer realisierte unter dem Titel "Mein 1789" eine sarkastische, durch pessimistische Philosophie des Aufstiegs und Verfalls eingeleitete Destruktion der historischen Revolutionsparolen und ihrer Bedeutung für spätere Zeiten bis in die unmittelbare Gegenwart hinein. Die den realen politischen Ereignissen vorauseilende politische Bedeutung dieser Stücke war so offensichtlich, daß Clozier und Barrière später, nach den revolutionären Ereignissen in fast allen kommunistischen Ländern Europas, Komponisten aus den wichtigsten daran beteiligten Ländern dazu einluden, die Ereignisse nachträglich musikalisch aufzuarbeiten. So kam es zu einem neuen Gemeinschaftsprojekt im Jahre 1990, zu dem beispielsweise der tschechische Komponist Milan Slavicky ein optimistisches, karikierend dokumentierendes Stück über den Prager Herbst 1989 beisteuerte, während Georg Katzer in "Mein 1989" ein eher skeptisches, auch an weniger rühmliche deutsche Massenphänomene aus früheren Jahrzehnten erinnerndes Stück über die ostdeutsche Revolution und den Fall der Mauer beisteuerte. Der Beitrag von Eugeniusz Rudnik verzichtete auf eine positive Darstellung der polnischen "Wende" und konzentrierte sich statt dessen auf ein besonderes dunkles, jahrzehntelang unterdrücktes Kapitel der jüngsten polnischen Vergangenheit: Auf die Morde in Katyn. Besonders bemerkenswert war es, daß Clozier für 1990 einen Beitrag realisierte, der die optimistische Klangfülle seiner Revolutionsmusik von 1989 ausdrücklich dementiert: "119 et 21 ans après" stellt in asketischen, widerborstigen Klangstrukturen Zusammenhänge her zwischen 1989, 1968 (dem Jahr des sowjetischen Einmarsches in der Tschechoslowakei) und 1870 (dem Jahr des gescheiterten Kommune-Aufstandes). In den Beiträgen zu den Gemeinschaftsprojekten der Jahre 1989 und 1990 wurde deutlich, wie vor allem im Bereich der Akustischen Kunst spezifische Möglichkeiten genutzt werden können, auf aktuelle zeitgeschichtliche Entwicklungen rasch zu reagieren und musikübergreifende Sinneseindrücke und Erfahrungen einzubeziehen. Hier werden Berührungszonen zwischen Musik und politischer Wirklichkeit erkennbar, die sonst nur eher ausnahmsweise in der Musik seit 1945 eine Rolle gespielt haben (etwa in Karlheinz Stockhausens "Hymnen", in einigen Hörspielen von Mauricio Kagel oder in der politisch engagierten Musik von Luigi Nono).
Das wichtigste Kriterium technisch produzierter Kunst ist die adäquate Nutzung ihrer technischen Möglichkeiten. Experimentelle Literaten müssen in Akustischer Kunst nicht mehr unbedingt ihre Texte zunächst aufschreiben, damit sie dann später adäquat gelesen und angemessen rezpiert werden können. In entsprechender Weise sind experimentelle Komponisten in Akustischer Kunst nicht mehr unbedingt darauf angewiesen, Klänge und Klangverbindungen entsprechend ihren Vorstellungen im voraus aufzuschreiben, damit sie später von Spielern oder Sängern notengetreu aufgeführt werden können. In Akustischer Kunst können beliebe Klänge von Stimmen, aus der realen Hörwelt, aus vorgefundener oder neu gestalteter Musik aufgenommen und technisch verarbeitet werden - unabhängig davon, ob sie womöglich im Rohzustand eher der Musik oder der alltäglichen Hörwelt oder der Sprache zuzurechnen sind. Bei der Arbeit im Tonstudio ist es für die Technik der Aufnahme und der klanglichen Verarbeitung zunächst weitgehend unwesentlich, ob man ausgeht von Stimm - oder Geräuschaufnahmen, von bekannten oder unbekannten musikalischnen Klängen oder Klangkonstellationen. Das Tabu einer autonomen, von anderen Künsten klar abgrenzbaren Musik wird damit in Frage gestellt - und dies hat sich für die Musikentwicklung ind der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts wahrscheinlich als ebenso bedeutsam erwiesen wie die Liquidation der Tonalität in der ersten Jahrhunderthälfte.
Natürlich ist es schwierig, bei der Behandlung eines weit zurückliegenden historischen Themas moderne Möglichkeiten der elektroakustischen Produktion und Verarbeitung von Klängen in angemessener Weise einzusetzen. Die akustische Realität einer Zeit, die vor der Erfindung der Tonaufzeichnung liegt, läßt sich nicht angemessen rekonstruieren - selbst dann nicht, wenn etwa in modernen Aufnahmen älterer Musik eine historisch möglichst authentische Qualität des Klangbildes angestrebt wird. Moderne Hörbilder über die Zeit der französischen Revolution sind nicht weniger fiktiv als historische Programmusik über historische Sujekts, sei sie älteren oder neueren Datums. Überdies sind auch elektroakustische Klangmittel nicht vor von vorneherein dagegen gefeit, für altbekannte ästhetische Positionen der illustrativen oder programmgebundenen Musik eingesetzt zu werden. Aus verschiedenen Gründen wird also deutlich, daß ein internationales Kompositionsprojekt zum Gedenken an die französische Revolution im Jahre 1989 durchaus problematisch erscheinen kann - und dies läßt sich an verschiedenen Beiträgen dieses Projektes auch konkonkret belegen, z.B. an rein elektronischen Beiträgen, in denen der Bezug zum Thema allenfalls aus dem beigefügten programmatischen Text deutlich werden konnte: Rein elektronische und insoweit abstrakte, der allgemeinen Hörerfahrung ferner stehende Klänge und Klangstrukturen setzen der semantischen Dechiffrierung oft ähnliche Schwierigkeiten entgehen wie rein instrumentale Programmusik.
Viel leichter könnte die Deutung dann erscheinen, wenn ein Komponist in sein Stück verständliche Sprache, identifizierbare Geräusche oder aus der Erfahrung weitgegehend bekannte vorgeformte Musik einbezieht - z. B. Trommelwirbel oder revolutionäre Lieder. Allerdings könnte man sich fragen, ob die Verwendung solcher leicht erkennbaren Klangsignale oder Klangsymbole auf dem heutigen differenzierten Entwicklungsstand der elektroakustischen Musik überhaupt noch zeitgemäß sein können - oder ob solche akustischen (Quasi-)Zitatte, um überhaupt verständlich zu bleiben, gewissermaßen im ästhetischen Rohzustand belassen werden müssen.
Aus der Perspektive der heute relativ leicht zugänglichen technischen Mötglichkeiten wäre es ja durchaus nicht schwierig, vorgegebene Klänge auf vielfältige Weise zu verfremden, zu verarbeiten oder zu verwandeln. Um so mehr kann es überraschen, daß solche Möglichkeiten in der kompositorischen Praxis bisher nur relativ behutsam und selten angewendet worden sind. Man kann verschiedener Meinung darüber sein, ob dies eher mit dem derzeitigen Erfahrungsstand der Komponisten zu erklären ist oder mit dem Erfahrungsstand der Hörer, an die sie sich wenden.
Vieles spricht für die Annahme, daß die neuen technischen Möglichkeiten der elektroakustischen Musik die allgemeine Hörerfahrung bisher wesentlich weniger verändert haben als die kompositorische Praxis. Wenn Komponisten spüren, daß das von ihnen Intendierte nicht oder nur unvollkommen oder falsch verstanden wird, dann kann dies, gerade im Falle einer politisch intendierten Musik, nachhaltige Auswirkungen haben. Wer klar identifizierbare, der Hörwelt entnommene Klänge bevorzugt, muß sich womöglich von Andersdenkenden der ästhetischen Regression zu realistischen ästhetischen Positionen bezichtigen lassen - des Verrats der kompositorischen Differenzierung von Gestalten und Formen an eine auf vordergründige Verständlichkeit zielende inhaltliche Aussage. Wer andererseits diesen Preis nicht zu zahlen bereit ist, kann womöglich nicht damit rechnen, ohne weiteres inhaltlich verstanden zu werden. Im einen wie im anderen Falle stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls in welcher Weise Antinomien zwischen neuen Formen und neuen Inhalten überwunden werden können. Auffällig ist, daß viele für das Projekt von Bourges komponierte Tonbandstücke mit historisch geprägten Klangmaterialien in einer Weise umgehen, die zum Vergleich herausfordert mit älteren Vorbildern, insbesondere mit Stockhausens "Hymnen", in denen historisch geprägte Klangmaterialien (auch die "Marseillaise") sowie deren differenzierte Verarbeitung und Integration bereits eine wesentliche Rolle spielen. Die relativ kurzen verschiedenen kompositorischen Beiträge zum Bourges-Projekt erscheinen im Vergleich damit eher als partielle Aufarbeitungen einzelner technischer, musikalischer und thematischer Aspekte unter einem Thema, das ein wichtiges geschichtliches Ereignis eines einzelnen Landes betrifft - allerdings auch dessen historische Auswirkungen, die über die russische Revolution des Jahres 1917 und deren weltgeschichtliche Konsequenzen bis zum Jahr 1989 führen.
Im Bourges-Projekt geht es um ein Weltbild aus der Sicht eines historisch wichtigen Ereignisses. Stockhausen hingegen geht in seinen "Hymnen" von verschiedenen Erfahrungsbereichen aus. Ihm geht es nicht um die Darstellung einer einzigen, "richtigen" musikalischen Weltauffassung, sondern um produktive Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Erfahrungsbereichen und Konzeptionen, also um eine ästhetisch und kompositorisch viel komplexere Positionsbestimmung. Stockhausens Konzeption verlangt den Umgang mit vielen verschiedenartigen, gleichwertigen, nicht auseinander ableitbaren Klangmaterialien. Stockhausen geht in diesem, sich der Akustischen Kunst nähernden Werk über ältere, der Instrumentalmusik näher stehende Konzepte hinaus, die aus einer einzigen strukturellen Keimzelle entwickelt sind. In den "Hymnen" interessiert ihn vorrangig die Vielfalt des gleichwertig Verschiedenen und die Möglichkeit ihrer jegliche Nivellierung vermeidenden Integration. Es bleibt abzuwarten, ob diesem ebenfalls in einer historischen Umbruchsphase entstandenen Hauptwerk der Musik und Akustischen Kunst in den neunziger Jahren vergleichbar komplexe Realisationen folgen werden, die den neuen Gegebenheiten einer wiederum vollständig veränderten Wirklichkeit der sinnlichen Erfahrung und den aktuellen Möglichkeiten ihrer künstlerischen Aufarbeitung adäquat sind.
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