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Rudolf Frisius
AUF DER SUCHE NACH DER VERLORENEN HARMONIE 1032 1. Abs./ 623 Wö / max ca2000
3367 Wörter, davon 623 alte Fassung am Schluß (maximal 2000)
Der Begriff "Harmonie" bezieht sich dem Wortsinne nach auf zueinander Passendes:
Auf Teile eines größeren Ganzen, die, in "passender" Weise,
im bezogenen Kontrast miteinander verbunden sind.
Was hier mit Begriffen wie "passend" oder "harmonisch" gemeint ist,
läßt sich umschreiben mit Begriffen wie:
Wohlordnung, Ebenmaß, Übereinstimmung, Eintracht.
Die aufeinander bezogenen Teile
und das größere Ganze, in dessen Kontext sie aufeinander bezogen sind,
werden unterschiedlich definiert -
je nach dem Sachzusammenhang, in dem der Begriff "Harmonie" verwendet wird;
z. B. in integrativen Konstellationen der Mythologie anders als in Differenzierungen
der Kunst (einschließlich ihrer ästhetischen Reflexion) einerseits
und der Wissenschaft
(insbesondere der mathematischen Strukturierung
und der auf ihr basierenden Beschreibung
naturwissenschaftlicher, z. B. astronomischer Phänomene) andererseits.
Im Zusammenhang der Musik
spielen musikübergreifende Aspekte des Harmonie-Begriffes dann eine Rolle,
wenn sie primär unter allgemein ästhetischen Aspekten reflektiert wird.
Dies hat sich auch in Musik und Musiktheorie des 20. Jahrhunderts
im Vergleich mit früheren Jahrhunderten nicht grundlegend verändert:
Musikalische und musikübergreifende Aspekte der Harmonie
verbinden sich im Kontext einer Entwicklung,
deren Wurzeln sich zurückverfolgen lassen
bis in die griechische Antike und andere antike Hochkulturen
und die sich in der Geschichte der Künste
bis ins 20. Jahrhundert weiter verfolgen lassen,
beispielsweise bis hinein
in architektonische und musikalische Gestaltungsideen von Le Corbusier und Iannis Xenakis
oder in Versuche der musikpraktischen oder theoretischen
Integration von Klang- und Farbvorstellungen
etwa bei Arnold Schönberg und Olivier Messiaen.
Im entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang der Musik und ihrer Theorie
wird der Begriff "Harmonie" meistens stärker eingegrenzt:
auf bezogene Kontraste nicht nur in Hörereignissen (unter verschiedenen Aspekten),
sondern auch, noch enger gefaßt,
auf Kontraste in einem speziellen musikalischen Ordnungsbereich:
auf bezogene Tonhöhen-Kontraste bzw. auf Tonhöhen-Beziehungen.
Die Eingrenzung des Harmonie-Begriffes auf den Tonhöhen-Aspekt
unterscheidet sich von weiter gefaßten Verwendungen dieses Begriffes
weniger in ihren kulturgeschichtlichen Wurzeln
als in ihrerer Entwicklung während des 20. Jahrhunderts.
In der Musikentwicklung dieses Jahrhunderts
und in Versuchen ihrer zusammenfassenden theoretischen Reflexion
haben sich vor allem eng auf Tonbeziehungen eingegrenzte Versuche als problematisch erwiesen.
Dies ergab sich einerseits daraus,
daß selbst im engeren Zusammenhang der Tonbeziehungen
die für frühere Jahrhunderte gültigen Harmonie-Kriterien fragwürdig geworden waren.
Die aktuelle Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts
warf ein neues Licht auf Schwierigkeiten,
mit denen der Harmonie-Begriff schon in früheren Jahrhunderten belastet gewesen war.
Damals wie heute erwies es sich als äußerst schwierig,
harmonische Tonbeziehungen präzis zu definieren:
Welche Intervalle und Intervallkonstellationen sollten als harmonisch anerkannt werden,
und welche nicht?
Und wie sollte man sie sich konkret vorstellen:
Als abstrakten Tonvorrat -
oder in einer genauer umrissenen zeitlichen Konfiguration der Töne, simulan oder sukzessiv?
Der historisch älteste Ansatz der theoretisch fundierten Definition harmonischer Tonbeziehungen
ist der Versuch der proportionalen Intervallmessung.
Die Zurückführung der konkreten Intervall-Wahrnehmung auf abstrakte Zahlenproportionen
verbindet sich in der Regel mit dem Versuch,
eine Hierarchie der Intervalle zu postulieren
auf der Basis einer Hierarchie der ihnen entsprechenden Zahlenproportionen
(die in den Theorien verschiedener antiker Musikkulturen
zunächst an Saitenlängen festgestellt wurden,
später, in der akustisch fundierten neuzeitlichen Harmonielehre, an Frequenzwerten;
der letztere Ansatz mündete in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts konsequent in
vollständig quantifizierten, synthetisch erzeugten Frequenzstrukturen,
etwa in der 1953 entstandenen elektronischen "Studie I" von Karlheinz Stockhausen).
In der durmolltonalen Harmonielehre wird diese Hierarchie als vorgegeben angesehen,
während sie beispielsweise in der seriellen Musiktheorie sich gegebenenfalls
(z. B. in der genannten Studie von Stockhausen,
die sich in ihrer Orientierung an Intervallproportionen
von dem ansonsten dominanten Vorbild
der Intervallkonstruktion in Anton Weberns Konzert op. 24 löst)
als Ergebnis kompositorischer Strukturierung rechtfertigen muß.
(In Stockhausens 1968 entstandenem Vokalsextett "Stimmung"
ist die Radikalität des seriellen Anspruchs
der Ableitung aller Materialstrukturierungen aus einer a priori festgelegten kompositorischen Idee
insofern eingeschränkt, als die seriellen Strukturierungen
auf einen Ausschnitt aus der Naturtonreihe angewandt werden,
so daß dieses Werk Serialität nicht als ein die Naturtonbezogenheit ablösendes,
sondern im Gegenteil dieses ausdrücklich akzeptierendes,
ja sogar radikal zu Ende denkendes musikalisches Gestaltungsprinzip präsentiert).
In den auf antike harmonikale Traditionen zurückgehenden Denkansätzen
wird die Hierarchie der harmonischen Intervalle
zunächst in "außerzeitlicher" Abstraktion vorgestellt,
d. h. unabhängig von seiner konkret wahrnehmbaren klanglichen Realisierung
z. B. entweder als sukzessives oder als simultanes Intervall.
Diese allgemein auf "außerzeitliche" Tonstrukturen ausgerichtete Harmoniekonzeption
hat Bedeutung nicht nur für die ältere, sondern auch für die neuere Musiktheorie;
die ihr entsprechende Auffassung,
daß z. B. die Theorie der Bildung von Tonsystemen und Skalen
nicht externe Voraussetzung, sondern grundlegender Bestandteil
einer theoretisch fundierten Harmonielehre sein muß,
läßt sich beispielsweise verfolgen
von der Musiktheorie der griechischen Antike
bis zu der von Iannis Xenakis entwickelten,
mathematisch (mit der Siebtheorie) fundierten Theorie der Skalenbildung
(die Xenakis allerdings,
in dieser Hinsicht den Abstraktionsgrad antiker Musiktheorie noch überbietend,
auf Voraussetzungen zurückführt,
aus denen sich Strukturierungen
nicht nur von Tonhöhen, sondern auch von Zeitwerten ableiten lassen,
so daß in diesem Ansatz
die Differenzierung "außerzeitlicher" und "zeitlicher",
simultaner und sukzessiver Strukturierung
dialektisch aufgehoben wird).
Die "außerzeitliche" Strukturierung von Tonbeziehungen
kann in verschiedenen Entwicklungsstadien der Musiktheorie
in unterschiedlichen Begründungszusammenhängen erscheinen -
z. B. entweder als Ausgangspunkt oder als Zielpunkt.
Der erstere Ansatzpunkt,
dem zentrale Bedeutung für die antike und mittelalterliche Musiktheorie zugesprochen werden kann,
aber auch später noch bis ins 20. Jahrhundert hinein wirksam geblieben ist,
konzentriert sich auf die Hierarchisierung von Zahlenproportionen,
gibt also der mathematischen Fundierung des Gehörten
den Vorrang vor dessen sinnlicher Konkretion.
Der Vorrang der Abstraktion erweist sich hier
durch die Einbindung des Hörbaren in Strukturen,
die auch in anderen Sinnes- und Erfahrungsbereichen als wirksam angesehen werden können
(insbesondere auch im visuellen Bereich)
und die auch in der Musik selbst
von der konkreten sinnlichen Erfahrung weitgehend abgegrenzt aufgefaßt werden
(in der Reduktion komplexer Hörereignisse auf Konstellation fester Tonhöhen),
z. B. auch ohne genauere Differenzierung zwischen Horizontalität und Vertikalität. -
Der zweite Ansatzpunkt ergibt sich nicht
als eine von Anfang an vorausgesetzte Abstraktion,
sondern als Ergebnis einer Entwicklung,
die sich über viele Jahrhunderte hinweg in getrennten Bereichen ausdifferenziert hat
und für die sich die Abstraktion
als Versuch der Integration des scheinbar Unvereinbaren anbietet
(z. B. in Versuchen der Erweiterung von Konzepten der seriellen oder auch der formalisierten Musik
über den Bereich des Hörbaren hinaus).
Die Frage nach der Abgrenzung
des Harmonischen - des zueinander Passenden, des aufeinander Abgestimmten -
ist problematisch nicht nur im Vergleich der Musik mit anderen Sinnes- und Erfahrungsbereichen,
sondern auch in der Musik selbst.
Dies wird besonders dann deutlich,
wenn Musiktheorie nicht a priori,
sondern auf der Basis konkreter Klangerfahrung
und bezogen auf einen konkret definierbaren Entwicklungsstand entwickelt wird.
Sinnfälligstes Indiz der Abstraktion
in der auf rationalen Intervallproportionen basierenden Harmonielehre
ist die Tatsache,
daß die theoretische Begriffsbildung von der harmonischen Verbindung ausgeht, vom Intervall -
aber nicht vom einzelnen Ton, der mit einem oder mehreren anderen Tönen verbunden werden soll.
Wenn man diesen Ansatz auf die Realität der erklingenden Musik bezieht, erkennt man,
daß er einem nicht an einzelnen Tonhöhen (z. B. im absoluten Gehör),
sondern an Tonverbindungen orientierten Hören entspricht.
Das im Sinne dieser Theorie geschulte musikalische Gehör
orientiert sich nicht nur bei einzelnen Tönen, sondern auch bei deren Verbindungen
primär nicht an der exakt bestimmten realen Tonlage,
sondern an globalen oder relativen Bestimmungen.
Die Abstraktion von der präzisen Lagebestimmung läßt sich auch anders beschreiben:
Als Annahme des Prinzips der Transponierbarkeit, dem zufolge
Tongruppierungen ihren Charakter nicht wesentlich verändern,
wenn sie auf eine andere Tonstufe transponiert werden.
Wenn diese Annahme richtig wäre, müßte man annehmen,
daß melodische oder harmonische Intervalle, Tonfolgen oder Zusammencharakter
sich bei Transposition um ein beliebiges Intervall nicht wesentlich verändern würden.
Diese Annahme liegt nahe in einem musiktheoretischen Denken,
das einerseits sich auf Tonhöhenbeziehungen konzentriert,
andererseits aber über die Töne selbst keine differenzierenden Aussagen macht.
Daß dieses Denken nicht uneingeschränkt richtig sein kann,
wird deutlich, wenn man es an extremen Konsequenzen überprüft:
Offensichtlich eingeschränkt ist das Transponierbarkeit
durch die Begrenzung des Tonraumes
und durch veränderte Bedingungen des Hörens in extrem hohen und tiefen Lagen.
Es ist fragwürdig, bei extremen Aufwärts- oder Abwärtstranspositionen
einer Tonfolge oder eines Zusammenklanges davon auszugehen,
daß die betreffende Tongruppierung dabei unverändert dieselbe bleibt.
Was für große Transpositionsintervalle offensichtlich ist,
erweist sich bei genauerem Hören auch für kleinere als gültig.
Hiervon abstrahiert ein traditionellen Spuren folgendes musiktheoretisches Denken schon dann,
wenn einzelne Töne als unterschiedslos transponierbar angesehen werden,
so daß die Verbindung verschiedener Transpositionsstufen einer Ausgangstonhöhe
z. B. in einer Skala oder in einem Akkord
als Zusammenstellung völlig gleichartiger Töne vorgestellt wird.
Die Fragwürdigkeit dieses Denkens
ist spätestens in einigen exponierten Aspekten der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts
deutlicher zu Tage getreten.
(In der traditionellen Musik finden sie sich nur vereinzelt -
etwa in satztechnischen Einschränkungen
der Verwendung kleiner harmonischer Intervalle in tiefen Lagen
oder, z. B. bei Berlioz, in harmonischen Überlagerungen verschiedener Paukentöne,
die in tiefer Lage in engen Intervallabständen ein so komplexes Klangbild ergeben,
daß die notierten Tonhöhen und ihre traditionelle harmonische Klassifizierung
für den traditionellen Höreindruck weitgehend unwesentlich werden.)
Im 20. Jahrhundert wurden die Grenzen des nivellierenden Tonhöhendenkens
selbst in musikpraktischen Zusammenhängen deutlich,
die zuvor als prototypisch für ein Denken in festen Tonhöhen gegolten hatten.
Die Schwierigkeit, Hörereignisse ohne Identitätsverlust in andere Tonlagen zu transponieren,
wurde vor allem dann deutlich, wenn deren Tonhöhe nicht eindeutig bestimmbar war,
wenn es sich also um Geräusche handelte.
Luigi Russolo versuchte, diese Schwierigkeit in seiner Geräuschmusik
dadurch zu beheben,
daß er Instrumente konstruierte,
die die Transposition von Geräuschen (in Stufenabständen einer Vierteltonskala) erlaubten.
Dabei ging er von der fragwürdigen Voraussetzung aus,
daß selbst in komplexen Geräuschen immer eine dominierende Tonhöhe erkennbar bleibt,
die sich auch auf anderen Transpositionsstufen noch identifizieren läßt.
Den neuartigen Anforderungen der Geräuschkomposition wurde diese Konzeption
(die eigentlich eher der Fiktion des Geräuschklaviers verhaftet blieb,
die also traditionellem Musikdenken entspricht,
allerdings auch vorausweist auf dessen erst später entwickelte moderne technische Varianten
z. B. bei Tonbandgeräten mit variabler Wiedergabegeschwindigkeit oder bei Samplern)
nicht voll gerecht.
Die seit dem zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts entwickelten
Ansätze futuristischer Geräuschkomposition blieben in ihrer kompositorischen Konzeption umstritten.
Selbst avancierte professionelle Komponisten bemühten sich um andere Ansätze,
die weniger von der instrumentalen Innovation
als vom Versuch der grundlegenden und effizienten
Veränderung kompositorischen Denkens ausgingen -
sei es auch um den eventuellen Preis des Festhaltens an traditionellen Instrumenten.
Selbst Edgard Varèse hat
in seiner von Theorien Feruccio Busonis inspirierten experimentellen Klangkunst
weitgehend an traditionellen Orchesterinstrumenten festgehalten
und, trotz maßgeblicher Beiträge zur Emanzipation des Geräusches,
in seiner Instrumentalmusik (mit Ausnahme von "Ionisation")
die Arbeit mit festen Tonhöhen niemals vollständig aufgegeben,
obwohl er andererseits z. B. mit komponierten Sirenen-Glissandi
oder differenzierten Hüllkurven für ausgehaltene Töne oder Geräusche
wichtige Ansätze zur Entwicklung kontinuierlicher,
sich von festen Skalenordnung lösender Musik entwickelt hatte -
Ansätze, die später in instrumentalen und technisch produzierten Glissando-Strukturen
z. B. von Iannis Xenakis weiter entwickelt worden sind.
Diese Musik erfordert
(selbst dann, wenn sie noch mit eindeutig bestimmten Tonhöhen arbeitet
wie in den Streicherglissandi von "Metastaseis";
noch deutlich wenn es sich um komplexe elektroakustische Glissandi handelt
wie in "Diamorphoses")
eine Verallgemeinerung harmonischen Denkens,
das sich von festen Skalen- und Intervallstrukturen löst
bzw. feste vertikale Tonstrukturen nur noch in Grenzfällen annehmen kann,
z. B. entweder in infinitesimaler Verkürzung auf extrem kurze Zeitabschnitte,
oder an Ausgangs-, Wende- oder Endpunkten kontinuierlicher Entwicklungen.
Versuche der Loslösung vom traditionellen Tonhöhendenken unter neuren Aspekten
werden seit in den 1930er und 1940er Jahren
in Kompositionen und theoretischen Reflexionen von John Cage und Pierre Schaeffer erkennbar.
John Cage radikalisierte die schon bei Varèse vereinzelt (etwa in "Ionisation") absehbare Konsequenz
der Komposition mit Klängen mit nicht eindeutig bestimmter Tonhöhe:
Für Schlaginstrumente oder experimentelle Klangerzeuger (incl. elektroakustischer Geräte)
reduzierte sich die kompositorische Fixierung
bei der Klangmaterie auf die Angabe der Klangquelle,
ggf. mit präzisierenden spieltechnischen und dynamischen Angaben (einzelner Lautstärkewerte)
(und evtl. verbunden mit einer mehr oder weniger groben Fixierung der Tonlage, des Registers),
beim Klangverlauf auf Zeitwerte und ggf. dynamische Angaben (von Hüllkurven).
So ergab sich die Konzeption
einer vor allem in der Zeitorganisation präzise durchorganisierten Komposition
mit ansonsten mehr oder weniger unbestimmten Klängen -
eine Konzeption, die zunächst instrumental entwickelt wurde
und die später auch auf live bediente technische Medien
("Imaginary Landscape no. 1", "Credo in Us", "Imaginary Landscape no. 4")
im Extremfall ("Imaginary Landscape no. 5", "Williams Mix")
sogar auf Tonbandmusik übertragen werden konnte.
Diese kompositorische Entwicklung
verweist auf die Notwendigkeit einer Harmonielehre mit
Unbestimmtheitsgranden und -relationen -
einer Harmonielehre also, die das traditionelle Denken noch radikaler in Frage stellt
als die im Spätwerk von Cage entwickelte "Anarchic Harmony",
die zwar im Klangverlauf Variabilität und (teilweise) Unbestimmtheit
vor allem in der Zeitstruktur
(durch die "time brackets") deutlich herausstellt,
die aber in der Klangmaterie
durch die antithetische Trennung zwischen bestimmten und unbestimmten Tonhöhen
(mit weitgehend traditioneller, an das überlieferte Zwölftonsystem
oder an seine mikrotonalen Aufspaltungen gebundener
kompositorischer Fixierung der ersteren
und meistens nur grober Fixierung der letzteren)
teilweise wieder zu traditionellen Kategorien zurückkehrt.
Einen Sonderfall im Musikdenken von John Cage
stellt seine Musik für präpariertes Klavier dar.
Gerade in der Bindung an ein traditionelles,
eigentlich vollständig auf feste, eindeutig bestimmte Tonhöhen fixiertes Instrument
wird um so deutlicher,
wie sich hier das aus der Tradition bekannte
Verhältnis zwischen kompositorischer Konzeption und klanglicher Realisation
grundlegend in Frage gestellt ist -
und mit ihm die Möglichkeit standardisierter musiktheoretischer Beschreibung
insbesondere der Tonordnung, von Melodie und Harmonie:
In der traditionell notierten Partitur
lassen sich allein die rhythmischen Werte
noch auf der Basis einer traditionell geschulten Klangvorstellung entziffern.
Die notierten Tonhöhen aber werden weitgehend oder vollständig fiktiv,
wenn die entsprechenden Saiten durch Präparation
mehr oder weniger stark geräuschhaft verfremdet sind,
so daß die Anordnung der Tastatur
nicht mehr die skalare Anordnung eindeutig bestimmter Tonhöhen garantiert.
Beim Anschlag verschiedener Tasten können sich so unterschiedliche komplexe Klänge ergeben,
daß diese nicht mehr als verschiedene Stufen derselben Skala wahrgenommen werden können,
sondern nur noch als individuelle, heterogene Klangobjekte.
Damit ergibt sich neue Rahmenbedingungen
für die Erfindung, die klangliche Realisation und das Hören von Musik,
die, über den Bereich der Live-Musik hinaus,
vor allem für den Bereich der im Studio produzierten elektroakustischen Musik
bedeutsam werden sollten.
Pierre Schaeffer hat schon 1948,
im ersten Produktionsjahr der (von ihm erfundenen) konkreten Musik, bemerkt,
daß die meisten technisch produzierten Klänge
sich nicht mehr im Sinne tradierter
musiktheoretischer bzw. kompositionstechnischer Ansätze
in Skalen anordnen,
ohne Verlust ihrer klanglichen Identität
beliebig transponieren oder anderweitig klanglich transformieren lassen.
Er und Pierre Henry lösten das Problem
der (nach klassischen musiktheoretischen Kategieen) unbestimmten Klänge
anders als Cage:
Nicht in Partituren, deren Angaben für die Live-Interpretation
Spielräume der klanglichen Unbestimmtheit belassen,
sondern in Studioproduktionen,
in denen der Komponist selbst, ohne Mitwirkung eines Interpreten,
alle Details der Klangproduktion
(evtl. auch der klanglichen Projektion, z. B. spektrale, dynamische und räumliche Aussteuerung)
festlegen kann.
In dieser Perspektive ergaben sich neue Aspekte
nicht aus Aspekten der Unbestimmtheit im Verhältnis zwischen Komposition und Interpretation,
also unter Beibehaltung der traditionellen Arbeitsteilung
zwischen Komponist und Interpret (und Hörer),
sondern aus der Auseinandersetzung
mit der Phänomenologie gehörter, aufgenommener und technisch veränderter Klänge.
In dieser Perspektive ergibt sich ein neues Zentralproblem einer verallgemeinerten Harmonielehre:
Die Frage nach harmonischen und harmonisch verbundenen Klangobjekten.
Als Verallgemeinerung der traditionellen Unterscheidung
zwischen sukzessiver und simultaner Tonverbindung
bietet sich die Unterscheidung zwischen Schnitt und Montage an,
als Verallgemeinerung der traditionellen Transformationstechniken
z. B. für Motive und Akkorde und deren Gruppierungen
der Versuch einer Systematisierung elektroakustischer Transformationstechniken.
Die Ablösung der Befolgung vorgegebener Regeln
durch individuell entwickelte kompositorische Zusammenhänge,
die auch in tonhöhengebundenen,
aus Tonhöhenkonstruktionen durch Verallgemeinerung entstandenen Ansätzen des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielt,
wird hier bis zur äußersten Radikalität weiter getrieben -
in der definitiven Verwandlung traditioneller Tonkunst in autonome Klangkunst.
Die Entwicklung
des Musikdenkens sowie der Erfindung und klanglichen Realisation der Musik im 20. Jahrhundert
läßt sich beschreiben in der Polarität
einerseits der Radikalisierung des Denkens in abstrakten Tonstrukturen,
in der Verallgemeinerung des abstrakten Tonhöhendenkens
zum mehrdimensionalen abstrakten parametrischen Denkens;
andererseits der Konzentration auf den real gehörten, konkreten Klang.
Die Abstraktion vom realen Klang läßt sich, vor allem im Bereich der Harmonie,
nicht nur musiktheoretisch, sondern auch kompositionstechnisch belegen
spätestens seit dem Generalbaßzeitalter,
in dem die Komponisten bei der Baßbezifferung
von der realen Lage und Intervallstruktur des Akkordes,
sogar (in der Variabilität oktavverdoppelter Töne)
von der Tonzahl, der vertikalen Dichte des Akkordes abstrahierten,
um dem Ausführenden begrenzte improvisatorische Freiheiten
bei der klanglichen Realisation der Akkorde offenzuhalten.
Die Auflösung des Generalbaßdenkens führte dazu,
daß die Einzelheiten der Akkordaussetzung (von der Intervallstruktur bis zur Instrumentation)
genauerer kompositorischer Kontrolle unterworfen
und die improvisatorischen Freiheitsspielräume des Interpreten
entsprechend eingeschränkt wurden.
Eine dieser kompositorischen Entwicklung Rechnung tragende Musiktheorie
hätte dementsprechend genauer auf Einzelheiten des Akkordaufbaus
(und evtl. auch der Akkordverbindung) eingehen,
also sich den konkret hörbaren harmonischen Merkmalen zuwenden müssen.
Statt dessen geschah jedoch spätestens im 19. Jahrhundert,
z. B. bei der Entwicklung von Stufentheorie (Weber) und Funktionstheorie (Riemann)
genau das Gegenteil:
Die Abstrahierung von den real hörbaren Tonhöhen und Tonbeziehungen,
vor allem ihre Reduktion auf einfache Akkordschemata nach dem Prinzip der Oktavverwandtschaft,
löste sich von den individuellen Besonderheiten des konkret Hörbaren
in der Rückführung auf einfache Muster der Akkorde und Akkordfolgen.
Real hörbare Zusammenklänge wurden erklärt
entweder bezogen auf Stammakkorde und daraus abgeleitete Varianten
(der Lage, der realen Intervallkonstellationen,
der Oktavverdopplung oder evtl. auch der Auslassung einzelner Töne)
oder als sekundäre, nur im größeren formalen Zusammenhang verständliche Bildungen
(z. B. mit Vorhalts-, Wechsel- oder Durchgangsnoten).
Beides wurde problematisch, sobald die traditionelle harmonische Hierarchie
in Frage gestellt wurde
sei es durch die Lösung von vorgegebenen harmonischen Ablaufsmustern,
sei es durch die kompositorische Emanzipation dissonanter Harmoniebildungen.
Komposition als Individualisierung vorgegebener harmonischer Ablaufsregeln
wurde abgelöst durch Komposition als individuelle Klangerfindung,
durch die Komposition autonomer komplexer Klangzentren.
Diese wiederum konnten im Höreindruck nur dann deutlich wahrgenommen werden,
wenn sie nicht nur im abstrakten Akkordschema,
sondern auch im konkreten Intervallaufbau und in der Instrumentation
unverwechselbar deutlich ausgeprägt waren.
Dies gelang dann, wenn die traditionellen Prozeduren
der variablen Aussetzung in verschiedenen Oktavlagen
vorsichtiger angewendet wurden als in traditioneller Musik
und so auch neuartige harmonische Bildungen sich für den Hörer deutlich profilieren konnten
(z. B. in verschiedenen Beispielen
bei Charles Ives, Arnold Schoenberg, Alban Berg und Anton Webern).
Wenn dies nicht geschah, entfernte sich die harmonische Struktur unter Umständen beträchtlich
von der in traditionellen Harmonielehren (mehr oder weniger berechtigt)
angenommenen Angemessenheit komponierter und gehörter Harmoniegesetze -
z. B. dann, wenn Harmonien primär
als Zusammenstellungen verschiedener Tonhöhenklassen
oder auch als zeitlich nicht eindeutig fixierbare
(nicht nur vertikalisierbare, sondern auch in der Sukzession permutierbare)
abstrakte Tongruppen
(z. B. Reihensegmente in einer seriellen Konstruktion, etwa bei Pierre Boulez) angesehen wurden.
Diese Radikalisierung instrumentalen,
eigentlich aus dem Generalbaßdenkens ableitbaren Denkens
stieß auf ihre Grenzen bei der Komposition technisch produzierter Musik,
die für die traditionellen, auf dem Notenpapier ausführbaren Ableitungsprozeduren
keine adäquaten technischen Verfahren zur Verfügung stellt.
So erklärt sich, daß selbst in a priori konstruierter, z. B. serieller elektroakustischer Musik -
und auch in von dieser inspirierter "neuer" Instrumentalmusik -
sich ein verstärktes Interesse am realen,
nicht durch abstrahierende Ableitungen verfremdeten Klang nachweisen läßt -
z. B. bei Karlheinz Stockhausen
schon in den Tongemischen der ersten beiden elektronischen Studien,
später auch in deutlich auskonstruierten instrumental/vokalen oder elektronischen Klangzentren,
die sich - als moderne Äquivalente traditioneller "Stammakkorde" -
auch mit neueren Formen "harmoniefremder" Zusatzereignisse
horizontal und/oder vertikal kombinieren lassen,
z. B. Glissando-Abweichungen, Tonhöhen- oder Lautstärke-Modulationen
oder Geräusch-Anreicherungen;
hierbei können sich, etwa in den "Hymnen"
auch neuartige Integrationsmöglichkeiten
bekannter (u. U. klanglich verfremdeter) und unbekannter Klänge ergeben,
wie sie später, in den polyphonen Schichtungen des "Licht"-Zyklus
instrumental/vokal oder apparativ
sogar in kontinuierliche Formentwicklungen,
etwa in Glissando-Übergänge zwischen verschiedenen Reihentönen
eingeschmolzen werden können.
In der kompositorischen Entwicklung Stockhausens
zeigen sich immer wieder neue Ansätze
der Neuentwicklung und gleichzeitigen Integration bereits bekannter theoretischer Ansätze -
möglicherweise Versuche der Etablierung einer Harmonie zweiten Grades,
in der nicht nur verschiedene, scheinbar miteinander unvereinbare musikalische Grundmaterialien,
sondern auch vergleichbar unterschiedliche musikalische Denkweisen
sich miteinander verbinden.
Die Suche nach der verlorenen Harmonie,
die in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts
nach der Auflösung der Dur-Moll-Tonalität eingesetzt hat,
vollzog sich bald als Versuch der Entwicklung von Antithesen zum Tradierten,
bald als Versuch der integrativen Erweiterung,
vereinzelt (z. B. in der minimalistischen oder spektralen Musik)
auch als Versuch der Generalisierung einzelner Aspekte.
Im Bereich der Harmonik ergab sich eine Fülle verschiedener Neuansätze
im breiten Spektrum zwischen den Extremen
der versuchten Erweiterung (oder auch Reduktion) tradierter Tonalität einerseits
oder andererseits einer universellen Klangkunst,
in der sich Alternativen
zu älteren, quasi-grammatischen (oder -syntaktischen)
musiktheoretischen Ansätzen anbieten.
Die Suche nach der verlorenen Harmonie präsentiert sich in diesem Zusammenhang
in der Begnung mit Phänomenen,
die auch das scheinbar längst der Vergangenheit Angehörige
in der Konfrontation mit neuen Entwicklungen neu zu bewerten erlauben.
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