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7.25.3 HarmonieBrüssel200b.doc


Rudolf Frisius

AUF DER SUCHE NACH DER VERLORENEN HARMONIE 1032 1. Abs./ 623 Wö / max ca2000

3950 Wörter, davon 623 alte Fassung am Schluß (maximal 2000)

Der Begriff "Harmonie" bezieht sich dem Wortsinne nach auf zueinander Passendes:

Auf Teile eines größeren Ganzen, die, in "passender" Weise,

im bezogenen Kontrast miteinander verbunden sind.

Was hier mit Begriffen wie "passend" oder "harmonisch" gemeint ist,

läßt sich umschreiben mit Begriffen wie:

Wohlordnung, Ebenmaß, Übereinstimmung, Eintracht.

Die aufeinander bezogenen Teile

und das größere Ganze, in dessen Kontext sie aufeinander bezogen sind,

werden unterschiedlich definiert -

je nach dem Sachzusammenhang, in dem der Begriff "Harmonie" verwendet wird;

z. B. in integrativen Konstellationen der Mythologie anders als in Differenzierungen

der Kunst (einschließlich ihrer ästhetischen Reflexion) einerseits

und der Wissenschaft

(insbesondere der mathematischen Strukturierung

und der auf ihr basierenden Beschreibung

naturwissenschaftlicher, z. B. astronomischer Phänomene) andererseits.

Im Zusammenhang der Musik

spielen musikübergreifende Aspekte des Harmonie-Begriffes dann eine Rolle,

wenn sie primär unter allgemein ästhetischen Aspekten reflektiert wird.

Dies hat sich auch in Musik und Musiktheorie des 20. Jahrhunderts

im Vergleich mit früheren Jahrhunderten nicht grundlegend verändert:

Musikalische und musikübergreifende Aspekte der Harmonie

verbinden sich im Kontext einer Entwicklung,

deren Wurzeln sich zurückverfolgen lassen

bis in die griechische Antike und andere antike Hochkulturen

und die sich in der Geschichte der Künste

bis ins 20. Jahrhundert weiter verfolgen lassen,

beispielsweise bis hinein

in architektonische und musikalische Gestaltungsideen von Le Corbusier und Iannis Xenakis

oder in Versuche der musikpraktischen oder theoretischen

Integration von Klang- und Farbvorstellungen

etwa bei Arnold Schönberg und Olivier Messiaen.

Im entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang der Musik und ihrer Theorie

wird der Begriff "Harmonie" meistens stärker eingegrenzt:

auf bezogene Kontraste nicht nur in Hörereignissen (unter verschiedenen Aspekten),

sondern auch, noch enger gefaßt,

auf Kontraste in einem speziellen musikalischen Ordnungsbereich:

auf bezogene Tonhöhen-Kontraste bzw. auf Tonhöhen-Beziehungen.

Die Eingrenzung des Harmonie-Begriffes auf den Tonhöhen-Aspekt

unterscheidet sich von weiter gefaßten Verwendungen dieses Begriffes

weniger in ihren kulturgeschichtlichen Wurzeln

als in ihrerer Entwicklung während des 20. Jahrhunderts.

In der Musikentwicklung dieses Jahrhunderts

und in Versuchen ihrer zusammenfassenden theoretischen Reflexion

haben sich vor allem eng auf Tonbeziehungen eingegrenzte Versuche als problematisch erwiesen.

Dies ergab sich einerseits daraus,

daß selbst im engeren Zusammenhang der Tonbeziehungen

die für frühere Jahrhunderte gültigen Harmonie-Kriterien fragwürdig geworden waren.

Die aktuelle Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts

warf ein neues Licht auf Schwierigkeiten,

mit denen der Harmonie-Begriff schon in früheren Jahrhunderten belastet gewesen war.

Damals wie heute erwies es sich als äußerst schwierig,

harmonische Tonbeziehungen präzis zu definieren:

Welche Intervalle und Intervallkonstellationen sollten als harmonisch anerkannt werden,

und welche nicht?

Und wie sollte man sie sich konkret vorstellen:

Als abstrakten Tonvorrat -

oder in einer genauer umrissenen zeitlichen Konfiguration der Töne, simulan oder sukzessiv?

Der historisch älteste Ansatz der theoretisch fundierten Definition harmonischer Tonbeziehungen

ist der Versuch der proportionalen Intervallmessung.

Die Zurückführung der konkreten Intervall-Wahrnehmung auf abstrakte Zahlenproportionen

verbindet sich in der Regel mit dem Versuch,

eine Hierarchie der Intervalle zu postulieren

auf der Basis einer Hierarchie der ihnen entsprechenden Zahlenproportionen

(die in den Theorien verschiedener antiker Musikkulturen

zunächst an Saitenlängen festgestellt wurden,

später, in der akustisch fundierten neuzeitlichen Harmonielehre, an Frequenzwerten;

der letztere Ansatz mündete in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts konsequent in

vollständig quantifizierten, synthetisch erzeugten Frequenzstrukturen,

etwa in der 1953 entstandenen elektronischen "Studie I" von Karlheinz Stockhausen).

In der durmolltonalen Harmonielehre wird diese Hierarchie als vorgegeben angesehen,

während sie beispielsweise in der seriellen Musiktheorie sich gegebenenfalls

(z. B. in der genannten Studie von Stockhausen,

die sich in ihrer Orientierung an Intervallproportionen

von dem ansonsten dominanten Vorbild

der Intervallkonstruktion in Anton Weberns Konzert op. 24 löst)

als Ergebnis kompositorischer Strukturierung rechtfertigen muß.

(In Stockhausens 1968 entstandenem Vokalsextett "Stimmung"

ist die Radikalität des seriellen Anspruchs

der Ableitung aller Materialstrukturierungen aus einer a priori festgelegten kompositorischen Idee

insofern eingeschränkt, als die seriellen Strukturierungen

auf einen Ausschnitt aus der Naturtonreihe angewandt werden,

so daß dieses Werk Serialität nicht als ein die Naturtonbezogenheit ablösendes,

sondern im Gegenteil dieses ausdrücklich akzeptierendes,

ja sogar radikal zu Ende denkendes musikalisches Gestaltungsprinzip präsentiert).

In den auf antike harmonikale Traditionen zurückgehenden Denkansätzen

wird die Hierarchie der harmonischen Intervalle

zunächst in "außerzeitlicher" Abstraktion vorgestellt,

d. h. unabhängig von seiner konkret wahrnehmbaren klanglichen Realisierung

z. B. entweder als sukzessives oder als simultanes Intervall.

Diese allgemein auf "außerzeitliche" Tonstrukturen ausgerichtete Harmoniekonzeption

hat Bedeutung nicht nur für die ältere, sondern auch für die neuere Musiktheorie;

die ihr entsprechende Auffassung,

daß z. B. die Theorie der Bildung von Tonsystemen und Skalen

nicht externe Voraussetzung, sondern grundlegender Bestandteil

einer theoretisch fundierten Harmonielehre sein muß,

läßt sich beispielsweise verfolgen

von der Musiktheorie der griechischen Antike

bis zu der von Iannis Xenakis entwickelten,

mathematisch (mit der Siebtheorie) fundierten Theorie der Skalenbildung

(die Xenakis allerdings,

in dieser Hinsicht den Abstraktionsgrad antiker Musiktheorie noch überbietend,

auf Voraussetzungen zurückführt,

aus denen sich Strukturierungen

nicht nur von Tonhöhen, sondern auch von Zeitwerten ableiten lassen,

so daß in diesem Ansatz

die Differenzierung "außerzeitlicher" und "zeitlicher",

simultaner und sukzessiver Strukturierung

dialektisch aufgehoben wird).

Die "außerzeitliche" Strukturierung von Tonbeziehungen

kann in verschiedenen Entwicklungsstadien der Musiktheorie

in unterschiedlichen Begründungszusammenhängen erscheinen -

z. B. entweder als Ausgangspunkt oder als Zielpunkt.

Der erstere Ansatzpunkt,

dem zentrale Bedeutung für die antike und mittelalterliche Musiktheorie zugesprochen werden kann,

aber auch später noch bis ins 20. Jahrhundert hinein wirksam geblieben ist,

konzentriert sich auf die Hierarchisierung von Zahlenproportionen,

gibt also der mathematischen Fundierung des Gehörten

den Vorrang vor dessen sinnlicher Konkretion.

Der Vorrang der Abstraktion erweist sich hier

durch die Einbindung des Hörbaren in Strukturen,

die auch in anderen Sinnes- und Erfahrungsbereichen als wirksam angesehen werden können

(insbesondere auch im visuellen Bereich)

und die auch in der Musik selbst

von der konkreten sinnlichen Erfahrung weitgehend abgegrenzt aufgefaßt werden

(in der Reduktion komplexer Hörereignisse auf Konstellation fester Tonhöhen),

z. B. auch ohne genauere Differenzierung zwischen Horizontalität und Vertikalität. -

Der zweite Ansatzpunkt ergibt sich nicht

als eine von Anfang an vorausgesetzte Abstraktion,

sondern als Ergebnis einer Entwicklung,

die sich über viele Jahrhunderte hinweg in getrennten Bereichen ausdifferenziert hat

und für die sich die Abstraktion

als Versuch der Integration des scheinbar Unvereinbaren anbietet

(z. B. in Versuchen der Erweiterung von Konzepten der seriellen oder auch der formalisierten Musik

über den Bereich des Hörbaren hinaus).

Die Frage nach der Abgrenzung

des Harmonischen - des zueinander Passenden, des aufeinander Abgestimmten -

ist problematisch nicht nur im Vergleich der Musik mit anderen Sinnes- und Erfahrungsbereichen,

sondern auch in der Musik selbst.

Dies wird besonders dann deutlich,

wenn Musiktheorie nicht a priori,

sondern auf der Basis konkreter Klangerfahrung

und bezogen auf einen konkret definierbaren Entwicklungsstand entwickelt wird.

Sinnfälligstes Indiz der Abstraktion

in der auf rationalen Intervallproportionen basierenden Harmonielehre

ist die Tatsache,

daß die theoretische Begriffsbildung von der harmonischen Verbindung ausgeht, vom Intervall -

aber nicht vom einzelnen Ton, der mit einem oder mehreren anderen Tönen verbunden werden soll.

Wenn man diesen Ansatz auf die Realität der erklingenden Musik bezieht, erkennt man,

daß er einem nicht an einzelnen Tonhöhen (z. B. im absoluten Gehör),

sondern an Tonverbindungen orientierten Hören entspricht.

Das im Sinne dieser Theorie geschulte musikalische Gehör

orientiert sich nicht nur bei einzelnen Tönen, sondern auch bei deren Verbindungen

primär nicht an der exakt bestimmten realen Tonlage,

sondern an globalen oder relativen Bestimmungen.

Die Abstraktion von der präzisen Lagebestimmung läßt sich auch anders beschreiben:

Als Annahme des Prinzips der Transponierbarkeit, dem zufolge

Tongruppierungen ihren Charakter nicht wesentlich verändern,

wenn sie auf eine andere Tonstufe transponiert werden.

Wenn diese Annahme richtig wäre, müßte man annehmen,

daß melodische oder harmonische Intervalle, Tonfolgen oder Zusammencharakter

sich bei Transposition um ein beliebiges Intervall nicht wesentlich verändern würden.

Diese Annahme liegt nahe in einem musiktheoretischen Denken,

das einerseits sich auf Tonhöhenbeziehungen konzentriert,

andererseits aber über die Töne selbst keine differenzierenden Aussagen macht.

Daß dieses Denken nicht uneingeschränkt richtig sein kann,

wird deutlich, wenn man es an extremen Konsequenzen überprüft:

Offensichtlich eingeschränkt ist das Transponierbarkeit

durch die Begrenzung des Tonraumes

und durch veränderte Bedingungen des Hörens in extrem hohen und tiefen Lagen.

Es ist fragwürdig, bei extremen Aufwärts- oder Abwärtstranspositionen

einer Tonfolge oder eines Zusammenklanges davon auszugehen,

daß die betreffende Tongruppierung dabei unverändert dieselbe bleibt.

Was für große Transpositionsintervalle offensichtlich ist,

erweist sich bei genauerem Hören auch für kleinere als gültig.

Hiervon abstrahiert ein traditionellen Spuren folgendes musiktheoretisches Denken schon dann,

wenn einzelne Töne als unterschiedslos transponierbar angesehen werden,

so daß die Verbindung verschiedener Transpositionsstufen einer Ausgangstonhöhe

z. B. in einer Skala oder in einem Akkord

als Zusammenstellung völlig gleichartiger Töne vorgestellt wird.

Die Fragwürdigkeit dieses Denkens

ist spätestens in einigen exponierten Aspekten der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts

deutlicher zu Tage getreten.

(In der traditionellen Musik finden sie sich nur vereinzelt -

etwa in satztechnischen Einschränkungen

der Verwendung kleiner harmonischer Intervalle in tiefen Lagen

oder, z. B. bei Berlioz, in harmonischen Überlagerungen verschiedener Paukentöne,

die in tiefer Lage in engen Intervallabständen ein so komplexes Klangbild ergeben,

daß die notierten Tonhöhen und ihre traditionelle harmonische Klassifizierung

für den traditionellen Höreindruck weitgehend unwesentlich werden.)

Im 20. Jahrhundert wurden die Grenzen des nivellierenden Tonhöhendenkens

selbst in musikpraktischen Zusammenhängen deutlich,

die zuvor als prototypisch für ein Denken in festen Tonhöhen gegolten hatten.

Die Schwierigkeit, Hörereignisse ohne Identitätsverlust in andere Tonlagen zu transponieren,

wurde vor allem dann deutlich, wenn deren Tonhöhe nicht eindeutig bestimmbar war,

wenn es sich also um Geräusche handelte.

Luigi Russolo versuchte, diese Schwierigkeit in seiner Geräuschmusik

dadurch zu beheben,

daß er Instrumente konstruierte,

die die Transposition von Geräuschen (in Stufenabständen einer Vierteltonskala) erlaubten.

Dabei ging er von der fragwürdigen Voraussetzung aus,

daß selbst in komplexen Geräuschen immer eine dominierende Tonhöhe erkennbar bleibt,

die sich auch auf anderen Transpositionsstufen noch identifizieren läßt.

Den neuartigen Anforderungen der Geräuschkomposition wurde diese Konzeption

(die eigentlich eher der Fiktion des Geräuschklaviers verhaftet blieb,

die also traditionellem Musikdenken entspricht,

allerdings auch vorausweist auf dessen erst später entwickelte moderne technische Varianten

z. B. bei Tonbandgeräten mit variabler Wiedergabegeschwindigkeit oder bei Samplern)

nicht voll gerecht.

Die seit dem zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts entwickelten

Ansätze futuristischer Geräuschkomposition blieben in ihrer kompositorischen Konzeption umstritten.

Selbst avancierte professionelle Komponisten bemühten sich um andere Ansätze,

die weniger von der instrumentalen Innovation

als vom Versuch der grundlegenden und effizienten

Veränderung kompositorischen Denkens ausgingen -

sei es auch um den eventuellen Preis des Festhaltens an traditionellen Instrumenten.

Selbst Edgard Varèse hat

in seiner von Theorien Feruccio Busonis inspirierten experimentellen Klangkunst

weitgehend an traditionellen Orchesterinstrumenten festgehalten

und, trotz maßgeblicher Beiträge zur Emanzipation des Geräusches,

in seiner Instrumentalmusik (mit Ausnahme von "Ionisation")

die Arbeit mit festen Tonhöhen niemals vollständig aufgegeben,

obwohl er andererseits z. B. mit komponierten Sirenen-Glissandi

oder differenzierten Hüllkurven für ausgehaltene Töne oder Geräusche

wichtige Ansätze zur Entwicklung kontinuierlicher,

sich von festen Skalenordnung lösender Musik entwickelt hatte -

Ansätze, die später in instrumentalen und technisch produzierten Glissando-Strukturen

z. B. von Iannis Xenakis weiter entwickelt worden sind.

Diese Musik erfordert

(selbst dann, wenn sie noch mit eindeutig bestimmten Tonhöhen arbeitet

wie in den Streicherglissandi von "Metastaseis";

noch deutlich wenn es sich um komplexe elektroakustische Glissandi handelt

wie in "Diamorphoses")

eine Verallgemeinerung harmonischen Denkens,

das sich von festen Skalen- und Intervallstrukturen löst

bzw. feste vertikale Tonstrukturen nur noch in Grenzfällen annehmen kann,

z. B. entweder in infinitesimaler Verkürzung auf extrem kurze Zeitabschnitte,

oder an Ausgangs-, Wende- oder Endpunkten kontinuierlicher Entwicklungen.

Versuche der Loslösung vom traditionellen Tonhöhendenken unter neuren Aspekten

werden seit in den 1930er und 1940er Jahren

in Kompositionen und theoretischen Reflexionen von John Cage und Pierre Schaeffer erkennbar.

John Cage radikalisierte die schon bei Varèse vereinzelt (etwa in "Ionisation") absehbare Konsequenz

der Komposition mit Klängen mit nicht eindeutig bestimmter Tonhöhe:

Für Schlaginstrumente oder experimentelle Klangerzeuger (incl. elektroakustischer Geräte)

reduzierte sich die kompositorische Fixierung

bei der Klangmaterie auf die Angabe der Klangquelle,

ggf. mit präzisierenden spieltechnischen und dynamischen Angaben (einzelner Lautstärkewerte)

(und evtl. verbunden mit einer mehr oder weniger groben Fixierung der Tonlage, des Registers),

beim Klangverlauf auf Zeitwerte und ggf. dynamische Angaben (von Hüllkurven).

So ergab sich die Konzeption

einer vor allem in der Zeitorganisation präzise durchorganisierten Komposition

mit ansonsten mehr oder weniger unbestimmten Klängen -

eine Konzeption, die zunächst instrumental entwickelt wurde

und die später auch auf live bediente technische Medien

("Imaginary Landscape no. 1", "Credo in Us", "Imaginary Landscape no. 4")

im Extremfall ("Imaginary Landscape no. 5", "Williams Mix")

sogar auf Tonbandmusik übertragen werden konnte.

Diese kompositorische Entwicklung

verweist auf die Notwendigkeit einer Harmonielehre mit

Unbestimmtheitsgranden und -relationen -

einer Harmonielehre also, die das traditionelle Denken noch radikaler in Frage stellt

als die im Spätwerk von Cage entwickelte "Anarchic Harmony",

die zwar im Klangverlauf Variabilität und (teilweise) Unbestimmtheit

vor allem in der Zeitstruktur

(durch die "time brackets") deutlich herausstellt,

die aber in der Klangmaterie

durch die antithetische Trennung zwischen bestimmten und unbestimmten Tonhöhen

(mit weitgehend traditioneller, an das überlieferte Zwölftonsystem

oder an seine mikrotonalen Aufspaltungen gebundener

kompositorischer Fixierung der ersteren

und meistens nur grober Fixierung der letzteren)

teilweise wieder zu traditionellen Kategorien zurückkehrt.

Einen Sonderfall im Musikdenken von John Cage

stellt seine Musik für präpariertes Klavier dar.

Gerade in der Bindung an ein traditionelles,

eigentlich vollständig auf feste, eindeutig bestimmte Tonhöhen fixiertes Instrument

wird um so deutlicher,

wie sich hier das aus der Tradition bekannte

Verhältnis zwischen kompositorischer Konzeption und klanglicher Realisation

grundlegend in Frage gestellt ist -

und mit ihm die Möglichkeit standardisierter musiktheoretischer Beschreibung

insbesondere der Tonordnung, von Melodie und Harmonie:

In der traditionell notierten Partitur

lassen sich allein die rhythmischen Werte

noch auf der Basis einer traditionell geschulten Klangvorstellung entziffern.

Die notierten Tonhöhen aber werden weitgehend oder vollständig fiktiv,

wenn die entsprechenden Saiten durch Präparation

mehr oder weniger stark geräuschhaft verfremdet sind,

so daß die Anordnung der Tastatur

nicht mehr die skalare Anordnung eindeutig bestimmter Tonhöhen garantiert.

Beim Anschlag verschiedener Tasten können sich so unterschiedliche komplexe Klänge ergeben,

daß diese nicht mehr als verschiedene Stufen derselben Skala wahrgenommen werden können,

sondern nur noch als individuelle, heterogene Klangobjekte.

Damit ergibt sich neue Rahmenbedingungen

für die Erfindung, die klangliche Realisation und das Hören von Musik,

die, über den Bereich der Live-Musik hinaus,

vor allem für den Bereich der im Studio produzierten elektroakustischen Musik

bedeutsam werden sollten.

Pierre Schaeffer hat schon 1948,

im ersten Produktionsjahr der (von ihm erfundenen) konkreten Musik, bemerkt,

daß die meisten technisch produzierten Klänge

sich nicht mehr im Sinne tradierter

musiktheoretischer bzw. kompositionstechnischer Ansätze

in Skalen anordnen,

ohne Verlust ihrer klanglichen Identität

beliebig transponieren oder anderweitig klanglich transformieren lassen.

Er und Pierre Henry lösten das Problem

der (nach klassischen musiktheoretischen Kategieen) unbestimmten Klänge

anders als Cage:

Nicht in Partituren, deren Angaben für die Live-Interpretation

Spielräume der klanglichen Unbestimmtheit belassen,

sondern in Studioproduktionen,

in denen der Komponist selbst, ohne Mitwirkung eines Interpreten,

alle Details der Klangproduktion

(evtl. auch der klanglichen Projektion, z. B. spektrale, dynamische und räumliche Aussteuerung)

festlegen kann.

In dieser Perspektive ergaben sich neue Aspekte

nicht aus Aspekten der Unbestimmtheit im Verhältnis zwischen Komposition und Interpretation,

also unter Beibehaltung der traditionellen Arbeitsteilung

zwischen Komponist und Interpret (und Hörer),

sondern aus der Auseinandersetzung

mit der Phänomenologie gehörter, aufgenommener und technisch veränderter Klänge.

In dieser Perspektive ergibt sich ein neues Zentralproblem einer verallgemeinerten Harmonielehre:

Die Frage nach harmonischen und harmonisch verbundenen Klangobjekten.

Als Verallgemeinerung der traditionellen Unterscheidung

zwischen sukzessiver und simultaner Tonverbindung

bietet sich die Unterscheidung zwischen Schnitt und Montage an,

als Verallgemeinerung der traditionellen Transformationstechniken

z. B. für Motive und Akkorde und deren Gruppierungen

der Versuch einer Systematisierung elektroakustischer Transformationstechniken.

Die Ablösung der Befolgung vorgegebener Regeln

durch individuell entwickelte kompositorische Zusammenhänge,

die auch in tonhöhengebundenen,

aus Tonhöhenkonstruktionen durch Verallgemeinerung entstandenen Ansätzen des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielt,

wird hier bis zur äußersten Radikalität weiter getrieben -

in der definitiven Verwandlung traditioneller Tonkunst in autonome Klangkunst.

Die Suche nach der verlorenen Harmonie,

die in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts

nach der Auflösung der Dur-Moll-Tonalität eingesetzt hat,

vollzog sich bald als Versuch der Entwicklung von Antithesen zum Tradierten,

bald als Versuch der integrativen Erweiterung,

vereinzelt (z. B. in der minimalistischen oder spektralen Musik)

auch als Versuch der Generalisierung einzelner Aspekte.

Im Bereich der Harmonik ergab sich eine Fülle verschiedener Neuansätze

im breiten Spektrum zwischen den Extremen

der versuchten Erweiterung (oder auch Reduktion) tradierter Tonalität einerseits

oder andererseits einer universellen Klangkunst,

in der sich Alternativen

zu älteren, quasi-grammatischen (oder -syntaktischen)

musiktheoretischen Ansätzen anbieten.

Die Suche nach der verlorenen Harmonie präsentiert sich in diesem Zusammenhang

in der Begnung mit Phänomenen,

die auch das scheinbar längst der Vergangenheit Angehörige

in der Konfrontation mit neuen Entwicklungen neu zu bewerten erlauben.

(29) John Cage hat in seinen frühen Geräuschkompositionen

1726 hat Jean Philippe Rameau in seinem "Nouveau système de musique théoretique"

den Begriff "Harmonie" mit folgenden Worten definiert:

"L´harmonie consiste dans l´union de deux ou plusieurs Sons,

dont l´oreille est agréablement affectée." (S. 1)

In diesem Definitionsversuch wird nicht genauer gesagt,

wie die Tonverbindung sich im Zeitverlauf konkretisieren soll

und welche Tonverbindungen das Ohr angenehm affizieren (bzw. welche nicht).

Die letztere Bestimmung,

die sich auf die Unterscheidung zwischen Konsonanz und Dissonanz bezieht

(die sich in der Regel -

z. B. nach dem später von Helmholtz rationalisiierten Kriterium der Schwebungsfreiheit -

leichter an überlagerten als an aufeinander folgenden Tönen durchführen läßt),

spricht dafür, daß Rameau

(wie es ja auch der Gesamtausrichtung seines harmonischen Denkens entspricht)

sich hier Harmonie, ohne es ausdrücklich zu sagen,

als Tonordung vorstellt, die von der sumultanen, vertikalen Gruppierung von Tönen ausgeht,

so daß Harmonie als Komplementärbegriff zur Melodie erscheint,

die als sukzessive Tonverbindung beschrieben wird:

"La Mélodie se forme de plusieurs Sons entendus successivement."

(Rameau, Nouveau Systeme S. 1)

In dieser Aussage wird die Melodie nicht ausdrücklich

als "für das Ohr angenehme" sukzessive Tonverbindung beschrieben -

und dies vielleicht deswegen,

weil "unmelodische Tonfolgen",

die außer durch Intervalle auch durch Zeitwerte bestimmt werden müßten,

sich definitorisch nicht so leicht ausgrenzen lassen wie "unharmonische Zusammenklänge".

Wichtige Belege für die Konzentration des Harmoniebegriffes auf simultane Tonbeziehungen

lassen sich in der Musiktheorie nicht nur des 18., sondern auch des 19. Jahrhunderts finden.

Beispielsweise beschreibt Adolf Bernhard Marx

in seiner erstmals 1839 erschienenen "Allgemeinen Musiklehre" Harmonie als

"irgend ein vernünftiges, der Bestimmung der Kunst entsprechendes Verhältnis,

in dem sich

"die gleichzeitig zusammentreffenden Töne verschiedener Stimmen aufeinander beziehen."

Harmonie wird hier nicht als isoliertes Phänomen der Überlagerung von Tönen beschrieben,

sondern als vertikale Ordnungsbestimmung im mehrstimmigen Satz,

der primär nicht aus Akkordfolgen entsteht, sondern aus der Überlagerung von Melodien.

"Melodie" definiert Marx als

"Folge von Tönen, die nach irgend einem Sinn gebildet

und auch rhythmisch geordnet (rhythmisiert) ist."

Noch stärker betont Marx den Primat der Melodie vor der Harmonie

in seiner 1841 erschienenen Streitschrift "Die alte Musiklehre im Streit mit der neuen Zeit."

Hier sagt er (S. 156):

"Die Akkorde erscheinen als INbegriffe zusammentreffender Töne der verschiedenen STimmen,

gleichsam als Räume, in denen die Stimmen zusammentreiffen.

Hier treten nun die Stimmen, also wieder das Melodische, als Hauptsache hervor (...)"

Die Akkorde, die Basis-Einheiten der Harmonie

(die deswegen auch als "Harmonien" bezeichnet werden können -

im Sinne eines Harmonie-Begriffes,

der sich nicht allgemein auf den Bereich der simultanen Tonordnung bezieht,

sondern speziell auf die einzelne simultane Tongestalt)

bezeichnet Marx nicht als musikalische Primärgestalten,

sondern als Resultanten der Überlagerung melodischer Prozesse.

Er betont somit den Primat der Melodie vor der Harmonie. -

Dieser Auffassung folgt, einige Jahrzehnte später, auch ein Wissenschaftler,

der die Theorie der Tonbeziehungen, insbesondere die Theorie der Harmonie,

auf naturwissenschaftlicher Basis zu entwickeln versucht hat: Hermann von Helmholtz.

Seine Definition der Konsonanzen (als schwebungsfreie Zusammenklänge)

eignet sich nach seinen Worten als Basis einer Theorie der Harmonie,

aber nicht als Basis der gesamten Musiktheorie:

"Ich halte es für einen Fehler,

wenn man die Theorie der Konsonanz zur wesentlichen Grundlage der Theorie der Musik macht (...).

Die wesentliche Basis der Musik ist die Melodie.

Die Harmonie ist in der westeuropäischen Musik der letzten drei Jahrhunderte

ein wesentliches und unserem Geschmack unentbehrliches

Verstärkungsmittel der melodischen Verwandtschaften geworden,

aber es hat Jahrtausende lang fein ausgebildete Musik ohne Harmonie gegeben,

und gibt noch jetzt solche bei den außereuropäischen Völkern."

(Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen, Vorwort zur 3. Aufl. 1970, S. VII)

1628 Wörter

1158 Wörter incl. altem Text

Musikalische Harmonie bezieht sich,

dem Wortsinne und größeren (historischen und systematischen) Zusammenhängen entsprechend,

auf die Lehre geordneter Tonbeziehungen.

Die Entwicklung der abendländischen Mehrstimmigkeit

und insbesondere die neuzeitliche Entwicklung der Dur-Moll-Tonalität

führten zu einem enger gefaßten Harmonie-Begriff,

der ausgeht von simultanen (bzw. simultan vorstellbaren) (geordneten) Tonbeziehungen.

In der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts

ist diese Begrenzung deswegen fragwürdig geworden,

weil die in den vorausgehenden Jahrhunderten entwickelte

Komplementarität bzw. Heterogenität

zwischen sukzessiven und simultanen Tonbeziehungen

und damit auch die bis dahin gültigen Abgrenzungen der Harmonie von der Melodie

(d. h. von den sukzessiven geordneten Tonbeziehungen)

fragwürdig geworden sind

(und damit auch die Bestimmung des Rhythmus, der Zeitordnung,

im Verhältnis zu Melodie und Harmonie).

Im Entwicklungszusammenhang der Musik des 20. Jahrhunderts

bedarf der Begriff der Harmonie,

wenn er allgemeingültig bleiben soll

(für dieses und andere Jahrhunderte und über den Bereich der abendländischen Musik hinaus),

der Verallgemeinerung über den Bereich eindeutig bestimmter Tonhöhen hinaus:

Als vertikale Erweiterung

(bezogen auf die momentane Tonhöhenbestimmung zu einem gegebenen Zeitpunkt,

wobei außer Tönen und Klängen auch Tongemische und Geräusche einzubeziehen sind)

oder als horizontale Erweiterung

(bezogen auf die Tonhöhenbestimmung während eines gegebenen Zeitabschnittes

in sich verändernden, nicht-stationären Hörereignisses).

In diesen größeren Zusammenhängen ist zu prüfen,

ob und inwieweit

Begriffsbildungen und Beschreibungsmethoden der traditionellen Harmonielehre

beibehalten oder weiter entwickelt werden können -

insbesondere die Beschreibung der Harmonie als Akkordfolge,

deren Akkorde sich als geordnete Zusammenklänge beschreiben lassen,

deren Ordnung sich als Zuordnung

einerseits zu einem kodifizierten System von Stammakkorden,

andererseits zu einem kodifizierten System zur Bildung abgeleiteter Akkord

beschreiben läßt.

Sofern diese Ordnung als Tonordnung auf feste eindeutige Tonhöhen bezogen wird,

werden die Tonbeziehungen in der traditionellen Harmonielehre

bald klangstrukturell aus einem gegebenen Intervallvorrat (in der Regel der Naturtonreihe),

bald intervallstrukturell aus geordneten Intervallschichtungen (z. B. Terzschichtungen),

bald aus einem gegebenen Tonvorrat (einer Skala) abgeleitet.

Diese verschiedenen Prinzipien der Konstruktion von Stammakkorden

werden in der Regel nicht isoliert, sondern in Kombinationen verwendet.

In der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts

ist die Problematik dieser Ableitungsweisungen vollends deutlich geworden,

die schon für die Beschreibung traditioneller harmonischer Ordnungen nur bedingt geeignet sind

(sei es isoliert; sei es in Kombinationen):

Die Orientierung an der Naturtonreihe allein genügt nicht,

etwa die Strukturen dur-moll-tonaler und spektraler Musik voneinander zu unterscheiden,

weil (wie bereits einerseits von Helmholtz, andererseits Schönberg

physikalisch bzw. entwicklungsgeschichtlich erklärt haben)

im Kontinuum der Obertöne keine Abgrenzungen vorgegeben sind,

die etwa eine eindeutige Abgrenzung von Konsonanzen und Dissonanzen erlauben würden,

so daß Grenzsetzungen auch als historisch bedingt relativiert werden können.

Die Orientierung an Intervallschichtungen erweist sich als problematisch dann,

wenn sie einerseits

mit dem (vor allem für die harmonischen Ableitungsregeln wichtigen)

klanngstrukturellen Prinzip der Oktavverwandtschaft kollidieren

(nach dem höchstens zwölf verschiedene Töne

in Terzschichtungen überlagert werden können

und auch zahlreiche weniger tonreiche Terzschichtungen

nicht als selbständige Akkoorde anerkannt wurden,

beginnend mit der Überlagerung von drei großen oder vier kleinen Terzen),

andererseits mit der klangstrukturellen Kopplung

des Prinzips der Terzschichtung an reine Quinten

(in Dur- oder Molldreiklängen;

verminderte und übermäßige Dreiklänge wurden in der traditionellen Harmonielehre

nicht als Stammakkorde anerkannt,

obwohl z. B. für den verminderten Dreiklang

die Obertonproportion 5:6:7 gelegentlich in Betracht gezogen wurde,

die allerdings den im traditionellen durmolltonalen Tonsystem ausgesparten

siebten Oberton mit einbezieht).

Die Orientierung an Skalen wird in der traditionellen Harmonielehre schon dadurch eingeschränkt,

daß ihre allgemeine Anwendung den (für die durmolltonale Musik konstitutiven) Unterschied

zwischen melodischer und harmonischer Strukturierung

(orientiert einerseits an stufenweisen Fortschreitungen der "Urlinie",

andererseits an den Fundamentschritten des "Ursatzes",

sowie aus "Oberflächenstrukturen",

die aus diesen "Tiefenstrukturen" abgeleitet sind)

aufheben würde.

Für die nichttonale Musik entfällt der Grund für diese Einschränkung vor allem dann,

wenn die Intervallabstände einer Skala so groß gewählt sind, daß deren Identität

(anders als bei der Verwandlung einer traditionellen Tonleiter in einen Cluster -

also einer Tonkonstellation in ein Hörereignis,

das nach Hermann von Helmholtz als Geräusch zu bezeichnen ist)

ihre spezifischen Besonderheiten

sowohl in Tonfolgen als auch in Überlagerungen benachbarter Skalentöne sich artikulieren kann.

Avancierte Entwicklungen der Musik und der Musikentwicklung im 20. Jahrhundert

führten zu Veränderungen,

die sich teilweise unter dem Aspekt "Harmonie" beschreiben lassen,

teilweise aber auch dessen Abgrenzungen zu vergleichbaren Begriffen in Frage stellen:

insbesondere zum Begriff Melodie, der von sukzessiven (geordneten) Tonbeziehungen ausgeht

und der deswegen
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