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Rudolf Frisius
AUF DER SUCHE NACH DER VERLORENEN HARMONIE 1032 1. Abs./ 623 Wö / max ca2000
Musikalische Harmonie bezieht sich,
dem Wortsinne und größeren (historischen und systematischen) Zusammenhängen entsprechend,
auf die Lehre geordneter Tonbeziehungen.
Die Entwicklung der abendländischen Mehrstimmigkeit
und insbesondere die neuzeitliche Entwicklung der Dur-Moll-Tonalität
führten zu einem enger gefaßten Harmonie-Begriff,
der ausgeht von simultanen (bzw. simultan vorstellbaren) (geordneten) Tonbeziehungen.
In der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts
ist diese Begrenzung deswegen fragwürdig geworden,
weil die in den vorausgehenden Jahrhunderten entwickelte
Komplementarität bzw. Heterogenität
zwischen sukzessiven und simultanen Tonbeziehungen
und damit auch die bis dahin gültigen Abgrenzungen der Harmonie von der Melodie
(d. h. von den sukzessiven geordneten Tonbeziehungen)
fragwürdig geworden sind
(und damit auch die Bestimmung des Rhythmus, der Zeitordnung,
im Verhältnis zu Melodie und Harmonie).
Im Entwicklungszusammenhang der Musik des 20. Jahrhunderts
bedarf der Begriff der Harmonie,
wenn er allgemeingültig bleiben soll
(für dieses und andere Jahrhunderte und über den Bereich der abendländischen Musik hinaus),
der Verallgemeinerung über den Bereich eindeutig bestimmter Tonhöhen hinaus:
Als vertikale Erweiterung
(bezogen auf die momentane Tonhöhenbestimmung zu einem gegebenen Zeitpunkt,
wobei außer Tönen und Klängen auch Tongemische und Geräusche einzubeziehen sind)
oder als horizontale Erweiterung
(bezogen auf die Tonhöhenbestimmung während eines gegebenen Zeitabschnittes
in sich verändernden, nicht-stationären Hörereignisses).
In diesen größeren Zusammenhängen ist zu prüfen,
ob und inwieweit
Begriffsbildungen und Beschreibungsmethoden der traditionellen Harmonielehre
beibehalten oder weiter entwickelt werden können -
insbesondere die Beschreibung von als Akkordfolge,
deren Akkorde sich als geordnete Zusammenklänge beschreiben lassen,
deren Ordnung sich als Zuordnung
einerseits zu einem kodifizierten System von Stammakkorden,
andererseits zu einem kodifizierten System zur Bildung abgeleiteter Akkord
beschreiben läßt.
Sofern diese Ordnung als Tonordnung auf feste eindeutige Tonhöhen bezogen wird,
werden die Tonbeziehungen in der traditionellen Harmonielehre
bald klangstrukturell aus einem gegebenen Intervallvorrat (in der Regel der Naturtonreihe),
bald intervallstrukturell aus geordneten Intervallschichtungen (z. B. Terzschichtungen),
bald aus einem gegebenen Tonvorrat (einer Skala) abgeleitet.
Diese verschiedenen Prinzipien der Konstruktion von Stammakkorden
werden in der Regel nicht isoliert, sondern in Kombinationen verwendet.
In der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts
ist die Problematik dieser Ableitungsweisungen vollends deutlich geworden,
die schon für die Beschreibung traditioneller harmonischer Ordnungen nur bedingt geeignet sind
(sei es isoliert; sei es in Kombinationen):
Die Orientierung an der Naturtonreihe allein genügt nicht,
etwa die Strukturen dur-moll-tonaler und spektraler Musik voneinander zu unterscheiden,
weil (wie bereits einerseits von Helmholtz, andererseits Schönberg
physikalisch bzw. entwicklungsgeschichtlich erklärt haben)
im Kontinuum der Obertöne keine Abgrenzungen vorgegeben sind,
die etwa eine eindeutige Abgrenzung von Konsonanzen und Dissonanzen erlauben würden,
so daß Grenzsetzungen auch als historisch bedingt relativiert werden können.
Die Orientierung an Intervallschichtungen erweist sich als problematisch dann,
wenn sie einerseits
mit dem (vor allem für die harmonischen Ableitungsregeln wichtigen)
klanngstrukturellen Prinzip der Oktavverwandtschaft kollidieren
(nach dem höchstens zwölf verschiedene Töne
in Terzschichtungen überlagert werden können
und auch zahlreiche weniger tonreiche Terzschichtungen
nicht als selbständige Akkoorde anerkannt wurden,
beginnend mit der Überlagerung von drei großen oder vier kleinen Terzen),
andererseits mit der klangstrukturellen Kopplung
des Prinzips der Terzschichtung an reine Quinten
(in Dur- oder Molldreiklängen;
verminderte und übermäßige Dreiklänge wurden in der traditionellen Harmonielehre
nicht als Stammakkorde anerkannt,
obwohl z. B. für den verminderten Dreiklang
die Obertonproportion 5:6:7 gelegentlich in Betracht gezogen wurde,
die allerdings den im traditionellen durmolltonalen Tonsystem ausgesparten
siebten Oberton mit einbezieht).
Die Orientierung an Skalen wird in der traditionellen Harmonielehre schon dadurch eingeschränkt,
daß ihre allgemeine Anwendung den (für die durmolltonale Musik konstitutiven) Unterschied
zwischen melodischer und harmonischer Strukturierung aufheben würde.
Für die nichttonale Musik entfällt der Grund für diese Einschränkung.
Avancierte Entwicklungen der Musik und der Musikentwicklung im 20. Jahrhundert
führten zu Veränderungen,
die sich teilweise unter dem Aspekt "Harmonie" beschreiben lassen,
teilweise aber auch dessen Abgrenzungen zu vergleichbaren Begriffen in Frage stellen:
insbesondere zum Begriff Melodie, der von sukzessiven (geordneten) Tonbeziehungen ausgeht
und der deswegen
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