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Rudolf Frisius
Schönbergs "Pierrot lunaire" und die Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts
"Pierrot und Petruschka... überleben den eigenen Untergang.
Aber in der Behandlung des tragischen Clowns trennen sich die historischen Linien der neuen Musik."
(Adorno, Philosophie der Neuen Musik, 2. Aufl. Frankfurt 1958, S. 133)
Im zweiteiligen Haupttext von Theodor W. Adornos "Philosophie der Neuen Musik" findet sich dieses Zitat nicht im ersten, auf die Jahre 1940 und 1941 zurückgehenden Schönberg-Kapitel ("Schönberg und der Fortschritt"), sondern in dem erst nach Kriegsende hinzugefügten Strawinsky-Kapitel ("Strawinsky und die Restauration"). Adorno stellt hier - in seiner polemisch-antithetischen Darstellung der Musikentwicklung eines halben Jahrhunderts - nicht nur zwei profilierte Komponisten gegenüber, sondern auch zwei ihrer bekanntesten, übrigens chronologisch nur wenig voneinander entfernte Werke.
Adorno beschreibt die Musikentwicklung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
in der Antithese zwischen Schönberg und Strawinsky -
in einer wertenden Gegenüberstellung,
deren Fazit schon aus den Kapitelüberschriften sich ablesen läßt.
Wenn Adorno im zweiten Teil dieser Darstellung "Pierrot" und "Petruschka" zusammenbringt,
dann geht es ihm offensichtlich darum,
das offensichtlich Gegensätzliche im scheinbar Verwandten beider Stücke zu betonen.
Das tertium comparationis, den Aspekt der Subjektivität, nennt Adorno nur,
um an ihm die Polarität
von Schönbergs Fortschrittlichkeit und Strawinskys Restauration zu exemplifizieren
(wobei, erstaunlich genug, im Dienste dieser Antithese sogar die Gelegenheit genutzt wird,
Affinitäten zum weniger geschätzten Richard Strauss
nicht etwa bei Schönberg zu finden -
bei dem sie, zumindest in anderen Werken als dem "Pierrot",
sich kompositionstechnisch durchaus belegen lassen könnten -,
sondern ausgerechnet bei Strawinsky).
In diesem Sinne beginnt Adorno mit folgenden Worten:
"Die Sujets, gleichen Namens, berühren sich in der Idee,
der damals schon etwas abgestandenen neuromantischen Transfiguration des Clowns,
dessen Tragik die heraufziehende Ohnmacht von Subjektivität anmeldet,
während zugleich ironisch die verurteilte Subjektivität ihren Primat festhält..."
(Adorno, a. a. O. S. 137)
Gleich anschließend spricht er von diametralen Gegensätzen.
Schönbergs "Pierrot lunaire" sieht er als ästhetische Antithese zu Strawinskys "Petruschka"
selbst im hochartifiziell nostalgischen Schlußteil des Melodramen-Zyklus. Adorno charakterisiert ihn, unter dem Titel des vorletzten Gedichtes, als
"´Heimfahrt´ in ein gläsernes Niemandsland, in dessen kristallisch-lebensloser Luft
das gleichsam transzendentale Subjekt, befreit von den Verstrickungen des Empirischen,
auf imaginärer Ebene sich wiederfindet."
Dem dient nach seinen Worten
"nicht weniger als der Text die Komplexion der Musik,
die mit dem Ausdruck schiffbrüchigen Geborgenseins
das Bild hoffnungsloser Hoffnung entwirft."
(Adorno, Philosophie S. 133 f.)
Dagegen stellt Adorno die summarische Deutung von Strawinskys Petruschka-Musik. Er schreibt:
"... Die Musik schlägt sich eher auf die Seite derer, die den Mißhandelten verlachen,
als auf dessen eigene...
Durch die Liquidation des Opfers entäußert sie sich der Intentionen, der eigenen Subjektivität."
(Adorno, Philosophie, S. 134)
Adorno sieht hier den Keim für Strawinskys Restaurationen
nicht erst in den offen neoklassizistischen Werken der Nachkriegsjahre, sondern
bereits in seiner ersten Ballettmusik, die sich konsequent aus der romantischen Tradition löst.
Strawinskys Spiel mit konventionellen Mustern, etwa seine stilisierte "Musik über Musik",
ließe sich in dieser Sicht schon in "Petruschka" erkennen,
nicht erst später in den karikierenden Arrangements etwa in "Pulcinella".
Ganz anders aber wird Schönbergs "Pierrot" gedeutet:
Entscheidend für Adorno ist nicht
die auch für dieses Stück, besonders für seinen dritten Teil,
typische Stilisierung von musikalisch Konventionellem,
sondern frei und komplex sich artikulierende Subjektivität.
Auffällig ist dennoch, daß Adorno auf Schönbergs "Pierrot"
vor allem in seinem Strawinsky-Kapitel eingeht.
(Ein kurzer Exkurs im Schönberg-Kapitel,
der sich auf die Bedeutung der Tonwiederholungen im Melodram "Gemeinheit" bezieht,
ist im Vergleich dazu von durchaus untergeordneter Bedeutung).
Was er zu sagen hat, läßt sich lesen als Versuch des apologetischen Nachweises,
daß das Stück eigentlich in dieses Kapitel eigentlich gar nicht hinein gehört -
daß es weniger zu tun hat mit ersten Ansätzen des Neoklassizismus im 20. Jahrhundert
als mit Schönbergs Emanzipation der Dissonanz und des subjektiven Ausdrucks,
die in Adornos Schönberg-Kapitel vor allem am Monodram "Erwartung" exemplifiziert werden.
So wird für Adorno der "Pierrot" zu einem Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts,
das dessen avancierte Musikentwicklung stärker geprägt hat als etwa Strawinskys "Petruschka".
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts spricht vieles für die Annahme,
daß Adornos Diagnose sich letztlich auch für die zweite Jahrhunderthälfte als stichhaltig erwiesen hat -
ungeachtet dessen, daß etwa Pierre Boulez als Dirigent
sich nicht nur für den "Pierrot", sondern auch für den (originalen!) "Petruschka" intensiv eingesetzt hat
oder Olivier Messiaen im ersten Band seines nachgelassenen kompositionstheoretischen Hauptwerkes
ausführlich auf "Petruschka" eingeht.
(Überdies spricht vieles für die Annahme,
daß Strawinskys Einfluß auf ihm folgende avancierte Komponisten seines Jahrhunderts,
von Varèse und Messiaen bis Boulez,
weniger im Zeichen von "Petruschka" steht als vor allem des "Sacre".
Im Gegensatz dazu ist die bevorzugte Stellung des "Pierrot"
im Kontext von Schönbergs Gesamtwerk deutlicher ausgeprägt:
Unter den Werken, mit denen Schönberg die ihm folgenden exponierten Komponisten beeindruckte,
spielen sicher neben dem "Pierrot" auch verschiedene andere Werke eine wichtige Rolle -
beispielsweise die 5 Orchesterstücke op. 16, zeitweise auch die Variationen für Orchester op. 31;
aber keines seiner Werke ist so eng verbunden mit einem Schlüsselwerk der zweiten Jahrhunderthälfte
wie Schönbergs "Pierrot lunaire" mit "Le marteau sans maitre" von Pierre Boulez.)
Wenn vieles dafür spricht, Schönbergs "Pierrot lunaire"
als ein Hauptwerk in der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts anzusehen,
dann könnte auch der Versuch nahe liegen,
in dieser Musikentwicklung nach Aspekten und größeren Zusammenhängen zu suchen,
die sich ausgehend von diesem Werk und seinen musikgeschichtlichen Konsequenzen
beschreiben lassen.
Hierfür bieten sich verschiedene Perspektiven an - beispielsweise:
- das Problem
einer Neubestimmung des Verhältnisses
zwischen Musik und Sprache, zwischen Sprechen und Singen, zwischen Stimme und Instrument
- das Problem avancierter Sprechstimmen-Komposition
(auch in seinen Konsequenzen
für die Neubestimmung
des Verhältnisses zwischen Ton- und Geräuschstrukturen in musikalisierter Sprache
und
auch in seinen Verflechtungen mit Geschichte und Gegenwart der melodramatischen Komposition
in Musik und Akustischer Kunst)
- das Problem der Neubestimmung des Verhältnisses von Sprache und Musik
(in ihrer Gewichtung und in ihren Wechselwirkungen,
in ihrer Verbindung oder in ihrer strukturellen Verwandtschaft unter Aspekten wie:
Musik deutet Sprache - Sprache deutet Musik
oder
Musik und Sprache - Musik als Sprache)
- das Problem einer Neubestimmung des Verhältnisses von Traditionsverarbeitung und Innovation
(in der Verarbeitung oder Kontrapunktierung von textlich oder musikalisch Vorgefundenem)
----------------
Bedeutung und Stellenwert des "Pierrot lunaire" sind schwer zu bestimmen -
sei es im größeren Zusammenhang der Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts,
sei es im engeren Zusammenhang der kompositorischen Entwicklung Schönbergs.
Wie extrem unterschiedlich Bestimmungen, Gewichtungen und Wertungen hier ausfallen können,
kann man beispielsweise dann erkennen,
wenn man die Charakterisierung des "Pierrot" durch Adorno vergleicht,
mit der Einschätzung von Oliver Neighbour,
die dieser in "The New Grove Dictionary of Music and Musicians" festgehalten hat. Dort heißt es
über Schönbergs "Pierrot lunaire":
"Die Parodie nimmt eine wichtige Funktion... ein...
Sein hochstilisierter Gebrauch der Sprechstimme...
erwies sich als ein ideales mittel für die Pierrot-Vertonung,
die in einem - wie er selbst sagte -
leichten, ironisch-satirischen Tonfall konzipiert war.
Die ziemlich modischen Verse, die teils grotesk, teils makaber oder bewußt sentimental sind,
gaben eine gute Gelegenheit,
um menschliches Verhalten als ein Schattenspiel zu präsentieren,
in dem Bedrohung und Absurdität sich die Waage halten...
Innerhalb seines neuen Stils parodierte Schönberg
Merkmale eines weiten Spektrums von Genre-Stücken,
wobei er oftmals die leere Hülse ihrer formalen Struktur beibehielt.
In der Musik sind die Grenzen
zwischen dem ironischen und dem unmittelbaren Rekurs auf diese Stücke
oft nur schwer zu unterscheiden.
Diese Vieldeutigkeit macht die besondere Faszination des Pierrot lunaire aus.
Die alptraumhaften Vorstellungen einiger der Gedichte
wären ohne die ironische Distanzierung kaum zu vermitteln,
doch die Musik erschüttert öfters mit tatsächlichem Schrecken...
Ein Jahrzehnt später sollte Schönberg
seine Sympathie für diese Welt der Ironie wiederentdecken,
die er nach Pierrot lunaire bewußt hintersich ließ."
(Olvier Neighbour in The New Grove, zit. nach der deutschen Sonderausgabe:
Schönberg - Webern - Berg: Die Zweite Wiener Schule. Stuttgart - Weimar 1992. S. 54 f.
Die Konsequenzen des "Pierrot" für die Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts
können vollkommen unterschiedlich eingeschätzt werden schon deshalb,
weil schon ihr Stellenwert in Schönbergs oeuvre sich auf verschiedene Weisen bestimmen läßt -
nicht nur unter dem Aspekt des Wort-Ton-Verhältnisses und der Emanzipation der Sprechstimme,
sondern auch unter kompositionstechnischen Aspekten der Traditionsverarbeitung und Innovation -
diesseits oder jenseits der klingenden Sprache,
diesseits oder jenseits der seriellen Musik.
Diese und andere Vieldeutigkeiten und Möglichkeiten mehrperspektivischer Deutung
könnten dazu anzuregen,
über "Musik des 20. Jahrhunderts" aus der Perspektive des "Pierrot lunaire" nachzudenken -
in verschiedenen Richtungen, in verschiedenen Ansätzen;
im Versuch, scheinbar selbstverständlich Gewordenes
in der musikgeschichtlichen Deutung unseres Jahrhunderts
immer wieder produktiv in Frage zu stellen.
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