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7.49.3 Schönberg: Pierot lunaire


Rudolf Frisius

Diesseits und jenseits der seriellen Musik:

Arnold Schönberg und sein "Pierrot lunaire"

als Skandalon in der Musikentwicklung eines Jahrhunderts

"... Wir erleben bei Schönberg eine der wichtigsten Umwälzungen,

welche die musikalische Sprache je durchzumachen hatte.

Gewiß, am eigentlichen Material, an den zwölf Halbtönen, ändert sich nichts;

aber die Struktur, die dieses Material organisiert, wird in Frage gestellt:

wir gelangen von der tonalen Organisation zur Reihen-Organisation."

(Pierre Boulez: Schönberg est mort;

dt. Fassung zitiert nach: Anhaltspunkte. Stuttgart 1966, 2. Aufl. 1975, S. 288)

Pierre Boulez hat 1951 auf den Darmstädter Ferienkursen

den kurz zuvor verstorbenen Arnold Schönberg mit Argumenten gewürdigt,

die zugleich den Keim einer prinzipiellen Kritik.

Boulez wirft Schönberg vor, aus seinen Innovationen

nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen zu haben:

"Die Tatsache, daß Schönberg in seinen Zwölftonwerken

Thema und Reihe einander gleichsetzt,

weist... deutlich genug auf seine Unfähigkeit hin,

die Klangwelt auch nur zu ahnen, welche die Reihe von sich aus verlangt."

(Anhaltspunkte, S. 292)

Boulez bemängelt eine anachronistische Rhetorik in Schönbergs Musik,

insbesondere eine antiquierte rhythmische Ausgestaltung seiner neuartigen Tonstrukturen.

Er kritisiert

"die provozierende Inevidenz eines Schaffens, das ohne innere Einheit ist."

(Anhaltspunkte, S. 294)

Gleichwohl kann der so kritisierte Ansatz nicht einfach ignoriert werden:

"Wenn Schönberg auch ein Fehlschlag ist,

so kann man ihn doch nicht einfach beiseiteschieben

und über ihn hinweg eine gültige Lösung des Problems suchen,

das sich mit dem Heraufkommen einer zeitgenössischen Sprache stellt."

So bereitet Boulez einer produktiven Kritik des Schönbergschen Ansatzes den Weg -

einer Kritik, die sich auf Anton Webern, Schönbergs radikalsten Schüler beruft

(und die wenigstens insoweit, trotz aller späteren polemischen Streitigkeiten noch seinem einstigen Lehrer René Leibowitz verpflichtet ist);

einer Kritik, die in ihren aktuellen Konkretisierungen

weit über das 1951 schon definitiv Erreichte hinausführt

und deswegen mit dem vorsichtigen Verweis auf Vorläufigkeit beginnt:

"Vielleicht sollte man, wie jener gewisse Webern, nach der klanglichen Evidenz streben,

indem man sich an einer Erzeugung von Strukturen versucht,

die ihren Ausgangspunkt beim Material nimmt.

Vielleicht sollte man das serielle Terrain

auf andere Intervalle als nur den Halbton ausdehnen:

auf Mikrodistanzen, irreguläre Intervalle, komplexe Klänge.

Vielleicht sollte man das Reihenprinzip verallgemeinernd auf vier Klangkomponenten anwenden:

auf Höhe, Dauer, Lautstärke und Spielart, Klangfarben."

(Anhaltspunkte, S. 295)

Boulez wirft Schönberg vor, daß seine Zwölftonkompositionen

noch alten musiksprachlichen Kategorien verbunden sind

und keine weiterführenden, zur mehrdimensionalen seriellen Musik führenden Ansätze erkennen lassen.

Um so erstaunlicher ist es, wenn er ein älteres, vor der Zwölftonphase entstandenes Werk Schönbergs

von seiner scharfen Kritik ausnimmt:

"Wahrscheinlich werden wir ihm für Pierrot lunaire immer dankbar sein..."

(Anhaltspunkte, S. 296)

Die Frage stellt sich, wie Boulez über Schönberg hinausgehen will,

wenn er dessen wichtigste Neuerungen

einer so grundsätzlichen Kritik glaubt unterziehen zu müssen:

Wenn es richtig ist, daß bereits der Weg vom vor-zwölftönigen "Pierrot lunaire"

zu den späteren Zwölftonkompositionen

mit rhythmischen und formalen Regressionen und Widersprüchlichkeiten verbunden war -

wie sollte dann, wenn gleichwohl Schönbergs Einführung der Reihe nicht ignoriert werden kann,

der Rückgriff auf den "Pierrot lunaire" weiterhelfen,

in dem ein konsequentes Reihendenken noch nicht zu erkennen ist?

Eine weitere Schwierigkeit kommt hinzu:

Boulez hat seine Darmstädter Schönberg-Kritik -

in ihrem Grundtenor ebenso wie in Details, beispielsweise in der Einschätzung des "Pierrot" -

in der Folgezeit beträchtlich modifiziert.

Eine wichtige Rolle in seiner späteren Auseinandersetzung mit dem "Pierrot lunaire"

spielte die Tatsache,

daß Boulez nicht nur als Komponist, sondern auch als Dirigent

intensiv mit diesem Werk in Berührung kam.

Beides läßt sich auch in seinen Texten verfolgen -

vor allem einerseits

in seinen Vergleichen des "Pierrot lunaire" mit dem eigenen "Le marteau sans maitre"

und andererseits

in seinen Hinweisen auf aufführungspraktische Probleme des "Pierrot",

vor allem auf Probleme der Sprechstimmenbehandlung.

Boulez stößt hier auf ein Problem,

für das es eigentlich in Schönbergs späteren Zwölftonkompositionen

keine strukturell überzeugenden Lösungen gibt -

und das sich gleichwohl später

in verschiedenen Zwölftonkompositionen Schönbergs wieder stellt,

beispielsweise in "Moses und Aron", in der "Ode an Napoleon"

und in "Ein Überlebender aus Warschau".

Die Frage stellt sich, wie präzise Tonstrukturen und

von der präzisen Tongebung abweichender Sprechgesang

sich kompositionstechnisch und aufführungspraktisch miteinander vereinbaren lassen.

Boulez hat seine aufführungspraktischen Bedenken 1963 in einer Frage präzisiert.

Er stellt sie in einem Aufsatz mit dem Titel "Sprechen, Singen, Spielen":

"Kann man nach einer Notation sprechen, die dem Gesang angepaßt ist?"

(dt.: Werkstatt-Texte, Frankfurt-Berlin 1972, S. 126)

Boulez verweist darauf, daß Schönbergs Sprechstimmen-Notationen

an verschiedenen Stellen eng

auf die präzisen Tonstrukturen der begleitenden Instrumente abgestimmt sind.

Wenn man dem gerecht werden will, ist es nur konsequent,

die Rezitation bei Aufführungen möglichst weitgehend dem Gesang anzunähern.

Wie stark Boulez mit dieser Lösung sympathisiert, zeigt sich daran,

daß er Weberns mittlere Vokalwerke als sinnvolle Weiterführung von Ansätzen des "Pierrot" anerkennt (Kompositionen also, in denen Webern auf die Sprechstimme vollständig verzichtet

und zum reinen Gesang zurückkehrt).

Boulez plädiert also für Lösungen,

denen er auch in seinen eigenen kompositorischen Arbeiten den Vorzug gibt.

(In seinen Schriften gibt Boulez Webern den Vorzug vor Berg,

der den Sprechgesang keinesfalls ausschloß,

sondern Schönbergs Ansatz

mit vielfältigen Zwischenformen zwischen Sprechen und Singen differenzierte.

Dies ist erstaunlich, da Bergs integrative Behandlung von Sprech- und Singstimme

späteren Konzeptionen serieller Vermittlung viel näher kommt

als der exklusive Gesang des mittleren und späten Webern

oder auch als die mehr und mehr sich vereinfachenden Sprechstimmen-Notationen

in Schönbergs späteren Zwölftonwerken).

Wenn in der Vokalmusik die Sprechstimme nicht nur im Kontext traditioneller Deklamatin erscheint,

sondern in kompositorisch differenzierter Ausgestaltung,

dann stellen sich auch kompositionstechnisch neue Probleme.

Damit zeichnen sich neue kompositionstechnische Perspektiven ab,

die schon in den fünfziger Jahren,

in Karlheinz Stockhausens "Gesang der Jünglinge",

zu beträchtlichen Erweiterungen traditioneller und selbst serieller Vorstellungen

über das Verhältnis zwischen Sprache und Musik führten.

1957, in einem auf den Darmstädter Ferienkursen gehaltenen Vortrag über "Musik und Sprache",

hat Karlheinz Stockhausen seine Vorstellungen seriell integrative Klang- und Sprachbehandlung

am Beispiel seiner Komposition "Gesang der Jünglinge" charakterisiert -

in der Koordination von Klangkontinuum und Lautkontinuum:

"In der Komposition sollten...

gesungene Töne zusammen mit elektronisch erzeugten

in ein gemeinsames Klangkontinuum eingeschmolzen werden...

Dem ´Farb´-Kontinuum entsprechend ging die Komposition

von der Vorstellung eines ´Sprachkontinuums´ aus...

Gemeint ist...,

durch die Auswahl einzelner Stufen aus einem Laut-Wort-Kontinuum

´Sprache´ aus der Komposition hervorgehn zu lassen."

(K. Stockhausen: Sprache und Musik. Texte II, S. 59, 60, 61; Köln 1964)

In der Verbindung von aufgenommenen Gesangsfragmenten mit elektronischen Klängen

geht Stockhausen noch weiter als zwei andere serielle Komponisten,

deren Einstellung zum Thema "Musik und Sprache"

Stockhausen in seinem Vortrag ebenfalls

an damals aktuellen Kompositionsbeispielen untersucht hat:

Pierre Boulez (mit "Le marteau sans maitre")

und Luigi Nono (mit "Il canto sospeso")

Die Werke von Boulez und Nono tragen noch unverkennbar Spuren eines seriellen Denkens,

das ursprünglich von Tonstrukturen ausgegangen ist

und deswegen bei der Verbindung von Sprache und Musik

sich eher für Singstimmen als für Sprechstimmen eignet.

Dies zeigt sich in dem Kompositionen selbst,

und es wird auch in Stockhausens Analysen deutlich hervorgehoben.

Auch in Stockhausens "Gesang der Jünglinge"

spielen menschlischer Gesang

und nach präzisen Tonhöhenskalen abgestufte elektronische Klänge

noch eine wichtige Rolle.

In seiner Musik wird aber auch deutlich,

daß sowohl der gegebene Text als auch das elektronische Klangmaterial

eigentlich weiter reichende kompositorische Planungen nahelegen:

Eigentlicher Bezugspunkt der Komposition ist ein Ton-Geräusch-Kontinuum,

das im Bereich der Sprache vom gesungenen Ton bis zum Konsonanten,

im Bereich der elektronischen Klänge vom Sinuston bis zum weißen Rauschen reicht.

So ergibt sich eine Erweiterung des seriellen Musikdenkens von Ton- zu Geräuschstrukturen -

eine Erweiterung, die Stockhausen später in der Komposition "Kontakte" noch weiter getrieben hat

(allerdings nur in der Verbindung

von elektronischen mit instrumentalen Tönen, Klängen und Geräuschen,

ohne Einbeziehung von Sprache und Stimme).

Entsprechende Materialerweiterungen mit elektroakustisch verarbeiteten Stimmlauten

hat Luciano Berio in seiner Tonbandkomposition "Tema - Omaggio a Joyce" realisiert.

Im zweiten Band der "Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik" denkt Berio weiter,

was Stockhausen zuvor in Darmstadt

am Beispiel seiner Komposition "Gesang der Jünglinge" erstmals angeregt hatte.

Berio schreibt:

"Ich habe... versucht, das Wort in den Stand zu setzen,

den musikalischen Sachverhalt völlig zu assimilieren

und zugleich zu bedingen."

(Luciano Berio: Musik und Dichtung - eine Erfahrung

in: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, Band II, 1959, Mainz 1959, S. 37)

Berio hat seine Konzeption der Verschmelzung von Sprache und Musik so weit getrieben,

daß, anders als bei Stockhausen, die elektronische, rein synthetische Klangwelt

für ihn nicht mehr wesentlich ist,

weil er sich auf differenzierte klangliche Verarbeitungen aufgenommener Sprache konzentriert

(während Stockhausen den aufgenommenen Gesang einer Knabenstimme

weitgehend unverändert läßt

und ihn rein - vereinzelt oder in Playback-Überlagerungen -

mit elektronisch erzeugten Klangstrukturen verbindet).

In Kompositionen wie "Tema - Omaggio a Joyce" -

oder auch in der später entstandenen Tonbandkomposition "Visage" -

hat Berio deutlich gemacht,

daß kompositorisch konsequente Arbeit mit real erklingenden,

nämlich im Studio aufgenommenen und technisch verarbeiteten Stimmlauten

sich lösen kann von den Voraussetzungen der strengen seriellen Technik,

die - wie Stockhausen schon frühzeitig erkannt hat -

eigentlich zu musikalischen Konstruktionen mit rein synthetischen Klängen,

zur struktureller elektronischer Musik führen müssen.

Musik, die sich mit Stimm- und Sprachlauten

oder sogar mit einem vorgegebenen Text verbindet,

kann solchen rigorosen strukturellen Vorgaben nicht umstandslos folgen.

Dies hat auch Stockhausen erkannt.

Schon im Anfangsteil seiner Komposition "Gesang der Jünglinge" wird deutlich,

daß diese Musik, zumindest hier am Anfang, nicht nur als strikt serielle Struktur gehört werden kann

(etwa als Abfolge von durchweg verschiedenen "Verständlichkeitsgraden"),

sondern auch als Vertonung eines Psalmtextes,

dessen musikalische Gliederung offensichtlich der sprachlichen Gliederung angepaßt ist).

Hier zeigen sich Veränderungen des musikalischen Denkens,

die - gerade im Umgang mit Stimme und Sprache -

auch in anderen musikalischen Konzeptionen sich finden lassen,

beispielsweise in den viel stärker empirisch orientierten Bereichen

der Akustischen Kunst und der Konkreten Musik:

Klingende Sprache als repräsentatives Klangmaterial der klingenden Hörwelt.



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